Musik ist vor allem dann besonders packend, wenn eine bewegende Geschichte dahinter steht – und kaum eine Geschichte ist erschütternder und zugleich kraftspendender als jene von Kristin Hayter. Nachdem die klassisch ausgebildete Sängerin und Multi-Instrumentalistin in mehreren, mitunter jahrelang andauernden Gewaltbeziehungen gelebt und gelitten hatte, gründete die Amerikanerin ihr Soloprojekt LINGUA IGNOTA, in welchem sie ihre qualvollen Erfahrungen verarbeitet. Völlig zu Recht wurde ihr dieser Thematik gewidmetes, im Juli 2019 veröffentlichtes Album „Caligula“, in welchem Hayter Neoklassik mit harschen Noise-Exzessen und Schreigesang kreuzte, von der Fachpresse umjubelt.
Hierzulande dürfte LINGUA IGNOTA – ganz ihrem Namen entsprechend – allerdings noch ein Geheimtipp sein, denn als Schauplatz für ihr Konzert in Wien wurde das eher kleinräumige Rhiz im U-Bahnbogen gewählt. Es verwundert somit nicht, dass das geringe Ticketkontingent einige Stunden vor dem Beginn der Show bereits restlos ausverkauft ist. Während dieser für so manchen Spätentschlossenen bedauerliche Umstand im Vorfeld seitens der Veranstalter klar kommuniziert wurde, kommt der eher unauffällig vorgenommene Wechsel des Support-Acts recht überraschend. So steht um 21:00 Uhr nicht etwa die kurzfristig verhinderte Techno-Pop-Musikerin Elvin Brandhi aka Freya Edmondes auf der kleinen Bühne des urigen Lokals, sondern der österreichische Performancekünstler Dr. Didi Bruckmayr unter dem Quasi-Pseudonym BRUCKMAYR 2.0.
Vor den Kopf gestoßen werden die Unbedarften unter den Zusehern umso mehr durch den eigentlichen Auftritt: Zu nonchalant über einen Laptop abgespielten, dröhnenden Electro-Beats und weitgehend melodielos trägt der Solokünstler seine unter anderem von Nihilismus und den verschwimmenden Grenzen zwischen der virtuellen und der realen Welt handelnden Texte vor und offenbart dabei seine geradezu aberwitzige Stimmbeherrschung. Von einer Sekunde auf die andere wechselt BRUCKMAYR 2.0 wie ein Wahnsinniger von einer perfiden Fistelstimme zu derbem Grölen und Brüllen, opernhaftem Gesang in verschiedenen Tonlagen, drohenden Rufen und einer unterkühlten Erzählerstimme, was der Show vereinzelt einen unfreiwillig komischen, insgesamt aber doch äußerst interessanten, avantgardistischen Touch verleiht – Das Ich lassen grüßen. Mit seiner manischen Performance und dem futuristisch-dystopischen Sound seiner Stücke scheint BRUCKMAYR 2.0 immerzu auf dem Grat zwischen Genialität und Absurdität zu balancieren. Dass der Auftritt doch sehr bizarr und aufgrund der mangelnden Vorbereitungszeit etwas unkoordiniert erscheint, lässt sich am besten an den bestechend selbstironischen Worten, mit denen der Alleinunterhalter den letzten Track ankündigt, illustrieren: „Den hab ich heute noch fertiggemacht – und jetzt mach ich euch damit fertig!“
Um 22:00 Uhr beginnt schließlich LINGUA IGNOTA mit ihrem Set und schon der Auftakt verheißt etwas Großes – und schwer zu Ertragendes. Als Hayter die ersten, abgrundtiefen Noten auf ihrem mit durchsichtiger Plastikfolie verkleideten Keyboard zu spielen beginnt, ist die einzige Lichtquelle im bis zum Barbereich prall gefüllten Raum das kleine Display ihres auf dem Tisch vor ihr platzierten Tablets. Noch sind Hayters Gesang und die musikalische Untermalung sanft und minimalistisch. Es dauert jedoch nicht lange, bis die Solomusikerin in der Nische der Bühne hinter einer weiteren Plastikfolie verschwindet und sich als gespenstische Silhouette vor einem hell erleuchteten Hintergrund gänzlich ihrem Gesang hingibt. Ohrenbetäubende Noise-Wellen überfluten nunmehr das Lokal und Hayter, die vormals so herzzerreißend schön gesungen hat, schreit dem Publikum all ihre Verzweiflung entgegen. Spätestens an diesem Punkt wird die Authentizität von LINGUA IGNOTA vor dem kathartischen Hintergrund des Projekts zur Gewissheit. Gegen Hayters ungezügelte Rage, in der sie zu ihrem Song „Butcher Of The World“ die von ihr wie einen Morgenstern geschwenkte Leuchtstange gegen ihr Keyboard schlägt, über Tisch und Verstärker klettert und sich mitten ins Publikum wirft, erblasst jede pseudoböse Black-Metal-Show zu einer albernen Farce.
Ganz und gar vertieft sich die Amerikanerin in ihre im wahrsten Sinne des Wortes leidenschaftliche Performance und selbst von den paar Störenfrieden, die sich im ansonsten wie gebannt lauschenden Publikum mit lautem Handyklingeln, Geplapper und Gezanke unbeliebt machen, lässt sich die Künstlerin nicht in ihrer intensiven Darbietung beeinträchtigen. So unerfreulich das Benehmen mancher Zuschauer auch ist, die gleichermaßen berührende und verstörende Show verliert dadurch nichts von ihrer überwältigenden Wirkung. Über ihren ausdrucksstarken, wehklagenden Gesang und ihr markerschütterndes Screaming, ihr elegantes Klavierspiel und die immer wieder aufwallende, brachiale Geräuschkulisse legt Hayter den Anwesenden eine Stunde lang all ihre seelischen Wunden offen und zeigt sich damit in einer Verletzlichkeit, die man bei kaum einem anderen Konzert derart schonungslos und unmittelbar dargeboten bekommt. Dass LINGUA IGNOTA nach dieser so zermürbenden wie unvergleichlichen Performance mit schallendem, ungewöhnlich lange andauerndem Applaus verabschiedet wird, ist eigentlich schon eine Selbstverständlichkeit.
- Sorrow! Sorrow! Sorrow! / Do You Doubt Me Traitor (Intro)
- Faithful Servant Friend Of Christ
- Do You Doubt Me Traitor
- Butcher Of The World
- May Failure Be Your Noose
- If The Poison Won’t Take You My Dogs Will
- Fucking Deathdealer
- I Am The Beast
___ - Wicked Game (Chris Isaak Cover)
Nicht nur aufgrund der die Kapazitäten des feinen, aber kleinen Rhiz übersteigenden Nachfrage nach Konzertkarten dürfte LINGUA IGNOTA bei ihrem nächsten Besuch in Wien wohl schon eine größere Halle bespielen können. Bis dahin wird nämlich gewiss jeder der heute dabei gewesenen Konzertgänger seinen Nächsten von einer Show berichtet haben, deren Intensität mit nichts zu vergleichen ist. Nach dem sonderbaren, aber keineswegs uninteressanten Auftritt von BRUCKMAYR 2.0 ließ Kristin Hayter ihre Zuseher für eine Stunde lang auf die denkbar beeindruckendste Weise an ihrem Leid teilhaben und setzte damit im Alleingang neue Maßstäbe in Sachen Performance. Leichte Kost ist LINGUA IGNOTA freilich ganz und gar nicht – wer sich bloß einen netten, heiteren Abend machen wollte, war heute im Rhiz gänzlich fehl am Platz.