Die Corona-Krise verlangt von Bands viel ab. Live-Konzerte können nicht stattfinden und so langsam stellt man vermehrte Stream-Aktivitäten weltweit fest, um die Kassen zumindest ein wenig aufzufüllen. Die Konkurrenz ist groß und es ist Kreativität gefragt, um aus der Masse der Angebote hervorzustechen. LEPROUS beweisen Einfallsreichtum und beschließen, in einem gigantischen Live-Stream ihre Fans in das Komponieren eines neuen Songs miteinzubeziehen. Das Vorhaben soll in schönster Umgebung am Meer in dem Studio von Ocean Sound Recordings stattfinden, in denen unter anderem schon A-HA aufgenommen haben. Das Studio besticht durch viel hochklassiges Equipment, aber auch durch einen beheizten Jacuzzi-Pool außerhalb des Studios mit Blick aufs Meer.
Leider ist es dieser Tage so, dass die Ticket-Preise für die Streams fast die gleiche Höhe erreichen wie seinerzeit für Live-Konzerte. Hintergrund ist, dass seit 2021 in jedem Land Steuern für Streams bezahlt werden müssen. Außerdem sind um die 20 Prozent der Einnahmen an die GEMA oder andere Collecting Societies des Landes abzuführen, in dem der Stream aufgenommen wird. Daher erscheint es zuerst teuer, dass LEPROUS ihren Stream für umgerechnet ca. 35 Euro anbieten, bzw. um die 46 Euro inklusive eines VIP-Zugangs.
Doch in diesem Fall muss man sagen, dass es sich mehr als lohnen wird, die ca. sechs Euro pro Tag auszugeben, denn der Stream dauert nicht nur sieben Tage, sondern auch 24 Stunden pro Tag. Sobald ein Musiker im Bett ist, kann es durchaus sein, dass ein anderer dafür die Nacht im Studio durchmacht. Die Kameras laufen rund um die Uhr. Zeitlich ist es daher auch für den größten Fan kaum zu schaffen, wirklich alles zu sehen. Dieser Stream ist zwar nachträglich nicht mehr anzuschauen, aber die Band möchte demnächst eine Art „Making Of“/ „Best of“ davon veröffentlichen.
Am 31.01.2021 um zehn Uhr beginnt für die Inhaber des VIP-Tickets der Stream mit einer Einladung zum Zoom-Meeting mit der Band. LEPROUS zeigen sich äußert gesprächig und beantworten reihenweise Fragen der Fans. Selbst in der Küche sind die Handys für die Zoom-Chats mit dabei. Von ca. 100 Käufern der VIP-Tickets befinden sich aber zu jedem Zeitpunkt nur zwischen 35 und 50 Fans im VIP-Chat, was natürlich die Chancen erhöht, seine eigenen Fragen stellen zu können. Allein die Menge an Zeit, die die Band am ersten Tag im VIP-Chat mit den Fans verbringt, rechtfertigt den Ticket-Aufschlag von ca. zehn Euro. Außerdem sind es nur die Käufer der VIP-Tickets, die bei der Richtung mitreden dürfen, die der neue Song nehmen soll. So erstellte die Band vorab Umfragen mit einzelnen Punkten wie gewünschte Geschwindigkeit, bevorzugte Instrumente, Stimmumfang des Sängers, Inhalt des Songtextes, Takt und wie dynamisch der Track sein soll.
Um 15 Uhr beginnt zusätzlich der Haupt-Stream für die Inhaber normaler Tickets auf der „Munin.live“-Webseite, wo auch die Ergebnisse der Umfragen mitgeteilt werden. Es stellt sich heraus, dass die Umfrageergebnisse eine große Herausforderung für LEPROUS darstellen, denn viele Punkte sind auch für Top-Musiker nicht so einfach zu realisieren: Das Tempo soll um die 135 bpm liegen, der Bass soll ein Sechssaiter sein (und musste infolge dessen geliehen werden, da Bassist Simen eben keinen Sechssaiter besitzt), drei verschiedene Arten von Keyboards/ Klavier sollen eingebaut werden und das Schlagzeug soll in größtmöglicher Form eingebracht werden. Des Weiteren sollen verschiedene Arten von Gitarren zu hören sein (Sechssaiter, Achtsaiter, Akustikgitarre, etc.) und der gewünschte 7/8-Takt soll sich mit 12/8 abwechseln und die Tonart soll zwischen H-Moll, Es, C-Moll und Fis-Dur changieren. Zur gewählten Dynamik „old school“ rutscht Sänger Einar dann sogar heraus, dass er findet, dass die Fans hier die idiotischste aller Optionen gewählt haben.
Wahrscheinlich sind diese Details eher für Musiker interessant, die in diesem Stream erfahren wollen, wie andere Bands ans Songschreiben heran- und mit den Instrumenten umgehen. Lediglich die Richtung der Lyrics ist für Sänger und Texter Einar leicht zu akzeptieren, denn hier wurde „persönlich und melancholisch“ gewünscht, was im Prinzip auf alle Lyrics von LEPROUS zutrifft. Gleich nach Verkündung der Poll-Ergebnisse und ein paar Späßen darüber, was das für ein irrer Wunsch-Mix sei (Zitat von Gitarrist Tor: „Das ist mein größter Albtraum“), setzen sich die Gitarristen und Schlagzeuger Baard zusammen und probieren aus, was den vorgegebenen Bedingungen entsprechen könnte und trotzdem gut klingt, ohne dabei den Stil von LEPROUS zu vernachlässigen – das dauert stundenlang. Man muss als Fan entweder eine gesunde Portion Ausdauer haben, oder aber selbst Musiker sein und ein Interesse daran haben, etwas zu lernen. Oder natürlich, man möchte einfach das Gefühl haben, in Echtzeit „bei“ seinen Lieblingsmusikern im Studio zu sein.
Bereits im Laufe des ersten Studiotages wird klar, dass Einar unangefochtener Chef der Band ist; er gibt den Ton an, er delegiert, schlägt vor, lehnt ab, weist immer sofort darauf hin, falls etwas später auf der Bühne wahrscheinlich schlecht klingen oder nicht machbar sein könnte. Man ist erstaunt, was für klare Vorstellungen er von Anfang hat, zumindest dazu, was ihm gefällt und was nicht. Natürlich haben LEPROUS den Vorteil, ein eingespieltes Team zu sein: In diesem Jahr werden sie ihr 20-jähriges Bühnenjubiläum feiern. Die Musiker kennen jede Eigenheit des anderen, sein Potential und seine Kreativität. Somit verwundert es nicht, wie elegant und leichtfüßig sie unumwunden ins Songwriting hineingleiten, ohne große Leerläufe oder Streitereien.
Wann auch immer ein Musiker nicht im Studio benötigt wird, greift er zum Handy und chattet mit den VIP-Fans im Zoom-Meeting. Im weiteren Verlauf der Woche, nachdem alle VIP-Fans ihre Fragen stellen konnten und kaum noch Tiefgründiges zu besprechen ist, endet dies auch schon mal damit, dass ein Bandmitglied einfach Kaffee macht und dabei über seine Lieblingskaffeesorten spricht – jeder einzelne Musiker gibt sich durchweg Mühe, den Fans im Gespräch etwas zu bieten. Vor allem Bassist Simen punktet dadurch, dass er viel von sich privat preisgibt, von seinem Leben als Vater und von den Höhen und Tiefen in seinem Leben.
Am Ende des ersten Abends zieht sich Einar mit seinem Laptop zurück, um ungestört an den Arrangements zu arbeiten. Der Frontmann verrät noch nichts über seine Pläne zu den Vocals oder den Lyrics. Die Zuschauer kennen also nur das Grundgerüst und schauen fünf Tage lang vornehmlich den Gitarristen, dem Bassisten und dem Schlagzeuger zu. Einar sitzt ab und zu an einem der Klaviere oder Synthesizer des Studios und probiert herum, wie er die Keyboard-Klänge auf das Fundament legen könnte, aber oftmals wird dem Zuschauer hierzu kein Ton geliefert, da es (noch) nicht synchron ist mit den Gitarrenläufen. Hin und wieder stellt er seine Handy-Kamera für die VIPs vor das Klavier, so dass diese zuhören können, aber spätesten dann muss man den Ton im Hauptstream abstellen, da die Gitarristen noch an den Akkorden arbeiten.
Drummer Baard und die Gitarristen sitzen oftmals bis nachts drei Uhr im Studio, um ihre bisherigen Ideen noch zu verbessern. Vor allem bei Baard kann man sich kaum vorstellen, wo er die Energie hernimmt, um von morgens zehn Uhr bis nachts drei Uhr ununterbrochen Schlagzeug zu spielen. Die Gitarristen bleiben in Ausnahmefällen sogar bis sieben Uhr morgens im Studio, um am nächsten Tag mit geschwollenen Augen im VIP-Chat zu erscheinen.
Ab dem zweiten Tag ist auch Co-Studio-Besitzer Henning Svoren zu sehen, der nun öfter beim Aufnehmen und Mixen zu beobachten ist. Einar nimmt die VIP-Zuschauer via Handy mit auf einen Vier-Km-Lauf im Schnee, während die anderen Musiker Lebensmittel besorgen. Danach geht es genauso weiter wie am Vortag: Akkord um Akkord wird gespielt, immer wieder variiert, aber auch der Übergang zum Pre-Chorus wird diskutiert. Da Einar noch nicht voll involviert ist, spielt er währenddessen Songwünsche der Fans am Klavier an. Hin und wieder dürfen die VIPs Kleinigkeiten neu mitentscheiden, zum Beispiel, welches der im Studio vorhandenen Keyboards Einar bei den kommenden Aufnahmen benutzen soll. Dieses Mal gibt es kein „Gute Nacht“ für die Fans, weil die Band gegen 23 Uhr in den Jacuzzi verschwindet. Allerdings kommen die Gitarristen nachts um halb drei Uhr ins Studio zurück, um an Riffs zu arbeiten.
Am dritten Tag können die Fans miterleben, wie die Band den einzelnen rudimentären Teilen des Songs eigene Namen geben, um sie besser unterscheiden zu können. Da wären zum Beispiel „Fuck Yeah“, „The Toto“ (weil es ein wenig nach der Band Toto klingt), „The Fix You“, „The Reggae“ oder „The Evil Chords“. Ansonsten wird an diesem Tag konzentriert gearbeitet. So konzentriert, dass LEPROUS über Stunden hinweg offensichtlich vergessen, dass sie beobachtet werden, und nur noch Norwegisch sprechen.
Letztendlich gibt es noch eine kleine Überraschung für die VIPs: Einar setzt sich, während die anderen essen gehen, ans Klavier und veranstaltet quasi eine Spaß-Ratestunde mit den Fans. Er spielt Leprous-Songs an und die Fans müssen den Songtitel erraten, was zuweilen gar nicht so einfach ist, insbesondere, wenn es alte Songs von ersten Demo-Album „Aeolia“ sind. Außerdem gibt er preis, dass dies das erste Mal ist, dass die Band auf diese Weise Songs schreibt. Normalerweise nimmt er Kompositionen oder Melodie-Ideen digital auf und verschickt es dann an die anderen Bandmitglieder, um deren Meinung zu erfahren. Außerdem lässt sich Einar dazu hinreißen, zu sagen, dass eben dieser neue Song, den man hier schreibt, wohl doch gute Chancen hat, mit auf das neue Album zu kommen, da der Track bereits zu diesem Zeitpunkt besser als gedacht geworden ist, auch ohne Lyrics oder Gesang.
Bassist Simen arbeitet an diesem Tag besonders lang, da es sein letzter Tag im Studio ist. Ab dem nächsten Tag hat er private Verpflichtungen, die vorgehen. Und so arbeitet er lange bis in die Nacht hinein mit seinem geliehenen Sechssaiter, denn die Bass-Spuren für den kompletten Song müssen fertig werden, was um halb vier am nächsten Morgen dann auch geschafft ist. Und so läuft es weiter, Tag für Tag. Auch Schlagzeuger Baard muss das Studio vor Ende der Aufnahmen verlassen. Ein letztes Mal nimmt er die VIP-Fans via Handy mit zum Flughafen, durch die Sicherheitskontrollen bis zum Flugzeug, bevor er sich völlig übermüdet verabschiedet.
Am Abend des sechsten Tages wird es auch für Nicht-Musiker höchst interessant, denn Einar, der sich zwischendurch immer mal wieder zurückgezogen hat, um an den Vocals und Lyrics zu arbeiten, bekommt gegen Abend das Hauptaugenmerkt von Kamera und Ton. Seine Klavier- und Keyboardlinien sind nun gut zu hören und er legt emotionalen Gesang über den Rest, so dass man von einem Tag auf den anderen das Gefühl hat, der Song ist so gut wie fertig. Auch den Text hat er in der vorherigen Nacht fertiggestellt:
I see no reason to wake up,
It’s the season to retract.
Five hours daylight pass me by.
Today I’m not going to try.
Falling in and out of sleep,
The slope is getting way to steep.
I always thought that I’d pull through,
Now there’s little left to do.
It’s more than I can comprehend.
I promised I would make amends,
Make alterations in my soul,
Feels like a bottomless hole.
I’m contradicting myself,
Searching order shelf by shelf.
My body and my mind are synchronised,
Synchronised paralysed.
Night time disguise,
Storms might rise.
Die Stimmlage ist meist hoch, außer in kurzen Episoden, wo er in tiefere Tonlagen abdriftet, was dem Song mehr Dynamik verleiht. Seine Stimme ist weich und emotional. Am Ende des Tages hat man fast das Gefühl, plötzlich schon den fertigen Song zu hören. Man beschließt, den nächsten Tag noch dranzuhängen, auch für die Fans vor den Bildschirmen. Und so nutzt Einar den restlichen Abend, um mit den VIPs zu chatten. Neben allerhand Details aus seinem Leben erfahren die Fans nun auch, dass man ihm in Kürze die Mandeln entfernen wird. Daher plant die Band in den kommenden Wochen vermehrt Live-Streams, denn nach der Mandel-Entfernung wird Einar eine Weile pausieren müssen.
Am Samstag, den 6. Februar, gibt es somit die allerletzte Zugabe für ca. viereinhalb Stunden. Einar nimmt die restlichen Vocals auf und in den letzten 20 Minuten kommen die beiden Gitarristen Robin und Tor hinzu und steuern zusätzlichen Background-Gesang bei. Ein letztes Mal kommen die Fans in den Genuss des Humors von LEPROUS, indem die Jungs die Aufnahmen nutzen, um einen Fußball-Fan-Chor zu imitieren, bevor alle mit einem letzten Winken verabschiedet werden.
Nun bleibt es abzuwarten, ob LEPROUS den neuen Song, der bisher noch titellos ist, in ihrem künftigen „Malina/ Pitfalls“-Doppelstream inklusive zweier Überraschungs-Zugaben am 20./ 21. Februar spielen werden (Tickets hier). In jedem Fall geht der imaginäre Preis für innovative Streaming-Ideen während der Corona-Zeit definitiv an LEPROUS.