Nach dem ruhigen Start in den Tag durch den Opener HERZGESPANN präsentiert Ex-Omnia-Mitglied Daphyd mit THUNDERCROW erneut sein aktuelles Projekt am Mediaval. Vom Mitternachtsslot 2019 rutschen die Musiker dieses Mal auf den späten Mittag, eine Herausforderung für die größtenteils sphärischen Klänge. Mit dem neuen Band-Line-Up (und leider ohne den tanzenden Bläcky) hat sich an der musikalischen Ausgestaltung des Projektes kaum etwas geändert: Clubtaugliches reiht sich an Weltmusik und die Mischung wird immer wieder mit verschiedenen Elementen gespickt, unter anderem der Bassklarinette von Zachary Bainter oder einem zusätzlichen Didgeridoo. Später ergänzen zwei weibliche Sängerinnen (u.a. Ex-Cuelebre Vokalistin Maria) das Ensemble und sorgen für weitere Abwechslung in den ansonsten überwiegend instrumentalen Kompositionen, die in ihrer Essenz wunderbar zum Goldberg passen. Als kleines Bonbon gibt es noch eine kleine Einlage von Kontaktjongleuer Kalvin Kalvus, dessen Kunst wunderbar zu dieser Form von Musik passt. Zwar merkt man vereinzelt die fehlende Routine im Zusammenspiel der wechselnden Protagonisten, doch musikalisch funktioniert der interessante Stilmix auch tagsüber tadellos.
Eben jene Dynamik, jener Abwechslungsreichtum und jenes virtuoses Zusammenspiel fehlt bei AOK! im Anschluss bereits nach wenigen Minuten. Über zwei Stunden spielt das Trio traditionellen Bal Folk, der nur einen Bruchteil des Publikums begeistert – gerade über die gesamte Spielzeit, die für diese Musikrichtung viel zu lang bemessen ist. Das Projekt mit Drehleierspieler Knud Seckel vertont seit 25 Jahren überwiegend französisch-bretonische Musik und mixt diese mit Einflüssen aus Jazz, Folk und Blues. „Rhythm’n’Folk“ nennt das Trio das Ergebnis, welches auf dem Festival-Mediaval leider blutleer wirkt, keinen Zauber entfacht und zum Teil auch unsauber (weil asynchron) über die Lautsprecher dringt. Für alle tanzfreudigen Besucher wäre ein Platz an einer der kleineren Bühnen im Grünen wahrscheinlich auch der vergnüglichere Ort gewesen. An der großen Schlossbühne wirken AOK! jedenfalls verloren und deplatziert.
So richtig funktionieren will auch die Show von NEBALA nicht. Krankheitsbedingt müssen die Musiker ebenfalls komplett improvisieren, bitten vorab um Verständnis und versuchen sich anfangs dafür an reger Publikumsinteraktion mit einfachen Mitsing- bzw. Mitsummpassagen, leider mit mäßigem Erfolg. Nach eigener Aussage spielen NEBALA eine Mischung aus Tribal Folk, nordischem Folk und spirituell geprägter Musik, unter anderem vertont durch Obertongesang und Ex-Omnia-Trommler Rob van Beerschot. Das Resultat trägt maßgeblich die Handschrift von Bandgründer Jonas Lorentzen und Kjell Braaten, die im Heilung- und Wardruna-Kosmos verhaftet sind bzw. waren. Zwar kehrt Zachary Bainter mit seinem Didgeridoo für ein paar Songs auf die Bühne zurück, um den fehlenden Braaten zu kompensieren, so richtig retten kann er diesen halbgaren Auftritt allerdings nicht. Das versprochene „magische Potential“ und die „mystische Kraft“ versprühen NEBALA selten bis nie. Zwar sind die Beteiligten um Abwechslungsreichtum bemüht und in kurzen Momenten blitzt etwas auf, doch das Klangbild gerät insgesamt alles andere als stimmig, fesselnd oder einprägsam.
Satria mit seiner neuen Band SUNFIRE komplettiert das Triumvirat der ehemaligen Omnia-Bandmitglieder, die sich inzwischen musikalisch emanzipiert haben und allesamt an diesem Festival-Tag aufspielen. Stilistisch bewegt sich die Combo eher im schnelleren Folk und Country, textthematisch wiederum auch im religiösen Kontext. Da die Musiker allesamt ihr Handwerk verstehen, lädt das Ergebnis von Beginn an zum Bewegen ein. Aus ihren Einflüssen machen SUNFIRE kein Geheimnis: So huldigen sie u.a. Dolly Parton, indem sie ihren Klassiker „Jolene“ nicht nach- sondern weitererzählen. Eine charmante Idee. In den ruhigeren, bluesigen Momenten schweigt dann auch das Schlagzeug und bildet so einen angenehm reduzierten Kontrast zu weiten Teilen des Programms, das unter anderem mit einem Banjo-Solo oder einer walzertanzenden Menge vor der Bühne aufwartet. Und in Songs über eine Frau, die bei der Hochzeit sitzengelassen wird und ihrem Mann daraufhin fast die Füße abhackt. Ein bisschen Bedeutungsschwangeres über den Alkoholgenuss darf letzten Endes auch nicht fehlen, aber durch die wirklich gut arrangierten Songs und eine starke Bühnendynamik werten SUNFIRE jeden Song individuell auf und bereichern den Freitag am Mediaval.
In Deutschland spielen die schwedischen Piraten-Folker YE BANISHED PRIVATEERS selten als nominelle Headliner mit über 60 Minuten Spielzeit. In Selb beweisen die Freibeuter, dass sie inzwischen auch 90 Minuten spielerisch gefüllt bekommen – selbst wenn der Sound insgesamt maximal durchschnittlich gerät, die Gitarre regelmäßig streikt und die Musiker auf Publikumsfeedback angewiesen sind, um zu wissen, ob das Instrument zu hören ist. Von derlei Umständen lässt sich das skandinavische Kollektiv allerdings nicht beirren und überzeugt vor allem durch eine starke Mannschaftsleistung; hierzulande sind mitreißende Piraten-Nummern wie „Gangplank“ oder tragische Seefahrer-Geschichten wie „Annabel Lee“ für viele (trotz Plattenvertrag bei Napalm Records) musikalisches Neuland, so dass es beim kunterbunten Haufen musikalisch wie optisch viel zu entdecken gibt und die Menge begeistert mitzieht. Überraschenderweise sind viele Songs weniger offensichtlich auf Party getrimmt als bei Mr. Hurley und den Pulveraffen: Dafür sorgt unter anderem die instrumentelle Vielfalt in der achtköpfigen Band, die überwiegend einen gänzlich anderen Sound garniert als der Geschwistervierer aus Osnabrück, Eingängig und feiertauglich dringt der bunte Mix über die Lautsprecher. So geht es auch vollkommen in Ordnung, wenn YE BANISHED PRIVATEERS sich zwischendurch in „We Are Ye Banished Privateers“ selbst besingen und wenig überraschend zu „Yellow Jack“ die entsprechende Fahne schwenken. Zusammen mit den offenkundig gut befreundeten Sunfire gibt es gegen Ende auch noch einige besondere Live-Momente für das Selber Publikum oben drauf.
Eine der emotionalsten Shows auf dem FESTIVAL-MEDIAVAL 2023 ist ohne Zweifel der Headliner-Auftritt von FAUN. Nicht nur spielen IRDORATH nach langer Gefangenschaft in Belarus einen Teil des Konzerts mit, sondern es ist auch die offizielle Abschiedsshow von Perkussionist und Gründungsmitglied Rüdiger Maul, der sich in Zukunft anderen Projekten widmen möchte. Die besondere Atmosphäre und Gravitas spürt man von Anfang an, als die Musiker die Bühne betreten, und das Publikum schnell bemerkt, dass die Stücke heute mit besonders viel Emotion gespielt werden. Die Setlist der FAUNe liefert dabei eher weniger Überraschungen – von „Alba“ über „Walpurgisnacht“ bis hin zu „Odin“ erklingen hauptsächlich die bereits mehrfach live-erprobten Pagan-Stücke und Folk-Pop-Hymnen. Eine kleine Veränderung scheint es bei „Gwydion“ zu geben, das voller und wuchtiger arrangiert erklingt als noch bei vorangegangen Auftritten und damit wieder näher an der Studioversion mit den Kolleg:innen von Eluveitie ist. Nach der wunderschönen Ballade „Tamlin“ ist es schließlich soweit und IRDORATH betreten unter lauten Jubelschreien und Applaus die Bühne.
2014 spielten sie auf dem FESTIVAL-MEDIAVAL ihren ersten Gig in Deutschland, fast zehn Jahre später nun das Konzert der Befreiung. Mit Unterstützung von FAUN präsentieren sie erstmals live ihr neues Stück „Zorami“ mit unbändiger Kraft und Stärke. Mehrere Jahre im Gefängnis haben die Musiker offensichtlich nicht gebrochen, sondern ihre Stimmen nur noch lauter gemacht. IRDORATH nutzen die ungeteilte Aufmerksamkeit schließlich noch, um ihr Publikum an die vielen anderen unschuldig Gefangenen zu erinnern, die in Belarus auf ihre Freiheit und Gerechtigkeit hoffen. Es wird deutlich: Es ist noch ein langer Kampf, aber er ist nicht verloren. Die Stimmung trägt sich weiter hinein ins FAUN-Set, dessen zweite Hälfte Sängerin Laura mit einer Gänsehaut-Performance von „Feuer“ einläutet. So langsam rücken Rüdigers letzte Takte näher, und man spürt ein wenig Wehmut bei den Musikern, die in der vielleicht stimmigsten Besetzung seit über zehn Jahren nun wieder einmal Abschied nehmen müssen. Bei der Zugabe und dem Vorstellen der einzelnen Musiker ist es schließlich soweit: Niel Mitra spielt grinsend dudelige Jazz-Musik ein, es werden Weingläser auf die Bühne gebracht und auf die langjährige Zusammenarbeit und Freundschaft angestoßen. Als Abschiedsgeschenk erhält Rüdiger ein gerahmtes Foto der FAUNe mit den Unterschriften seiner Bandkollegen. Das letzte Stück des Abends ist dann dazu passend wohl ihm gewidmet: „Wenn wir uns wiedersehen“ entlässt das Publikum und den langjährigen Freund in die laue, sternenklare Spätsommernacht.
Musikalisch hat das FESTIVAL-MEDIAVAL am verlängerten Freitag schon mehr überzeugt, gerade an der Schlossbühne, doch YE BANISHED PRIVATEERS und FAUN erweisen sich als konträre wie würdige Headliner, die beide vollends überzeugen. Ansonsten bot das MEDIAVAL fernab der großen Bühnen unter anderen mit der Lesung von Tommy Krappweis zu seinem inzwischen verfilmten „Kohlrabenschwarz“ und der etwas anderen Filmvorführung „Dr. Van Langen jagt Graf Dracula“ von und mit Markus van Langen genug Entertainment-Alternativen unterschiedlichster Art.