Da das Festival-Mediaval 2019 nun wieder drei statt vier Tage dauert, befinden wir uns bereits mitten im Samstag. Das Wetter schwankt zwischen Regen, strahlender Sonne, Regen, Nieseln und Regen, und die Stimmung leidet zwangsläufig ein wenig darunter. Doch das Selb-Publikum ist nicht aus Zucker, und so sieht man die gleichen Publikumsmengen, eingehüllt in Regencapes und Filzmäntel, wie auch schon am deutlich sonnigeren Vortag.
Alte Besen kehren auch auf neuen Wegen gut. Das beweist der Bandcontest um den Goldenen Zwerg, um den nach zweijähriger Pause nun wieder am Samstag und Sonntag vormittags jeweils drei Bands antreten. Den Anfang machen DIE GOSSENPOETEN, welche zwar erstmals am Goldberg aufspielen, doch gerade im Frankenland keine Unbekannten mehr sind. Neben Support-Shows für Bands wie dArtagnan ist die fröhliche Party-Combo dieses Jahr unter anderem als Walking Act auf dem Feuertanz Festival zu erleben gewesen. „Nah am Folk“ wollen die Poeten aus der Gosse sein und das sind sie mit ihren Tavernen- und Trinkliedern sowie dem Szene-Hit „Badehaus“. Dadurch ist für gute Unterhaltung gesorgt, für den großen Wurf reicht es indes nicht. DELVA beweisen im Anschluss, warum sie mit ihrem akustischen Folk zu den großen Hoffnungen für die Zukunft zählen. Ruhige und intensivere Momente halten sich in den 30 Minuten die Waage, wenn Johanna ans Mikro tritt und dabei von Geige und Gitarre begleitet wird. Zwar noch ohne Neu-Schlagzeuger Andy (Letzte Instanz), aber dafür mit wunderschön vertonten melancholischen Texten schlagen DELVA in eine gänzlich andere Kerbe als die Gossenpoeten und überzeugen besonders all jene, die es bereits zu vorgerückter Stunde gerne etwas anspruchsvoller haben: Prädikat „wertvoll“. Die späteren Sieger KUPFERGOLD vereinen als dritter Teilnehmer des Awards ein bisschen das Beste der ersten beiden Gruppen – auch wenn man dies bei Songs wie „Zum goldenen Rammler“ nicht unbedingt meinen könnte. Das Trio präsentiert sich allerdings sowohl charmant und witzig wie auch mit gutem Gesang durch Frontfrau Tina, die selbst gesundheitlich angeschlagen zu überzeugen weiß. Neben launigen Eigenkompositionen lassen die drei Musiker viel Irisches und Schottisches in ihren Sound einfließen. Diese Mischung genügt, um die meisten Besucher von sich zu überzeugen. Insgesamt können sich alle drei Bands als kleine Gewinner in einem insgesamt starken Contest-Jahr sehen.
Bereits auf die großen Bühnen gebracht haben es BARBAR’O’RUM, die als launige Punk-Piraten ebendiese unsicher machen. Der immer noch sehr ungeschliffene Sound der Band erklärt allerdings schnell die frühe Spielzeit. Nichtsdestotrotz legen sich die Franzosen mit viel Energie ins Zeug und machen mit ihrer Spielfreude den mäßigen Gesang und das ausbaufähige Songwriting wieder wett. „Rock&Rhum“ nennen sie ihre Musik, und schlagen mit Seemanns-Outfits, Alkohol und Kajal die nötige Brücke über die Sprachbarriere hinweg.
Nachdem TIR NAN OG auf dem Feuertanz für eher mäßige Begeisterung sorgen konnten, überrascht der Auftritt der Süddeutschen auf dem Festival-Mediaval 2019 positiv: Anstatt die gleiceh Setliste eins zu eins zu wiederholen, tüfteln die Irish Folk Rocker an ihrer Songauswahl und legen dadurch eine deutlich mitreißendere Performance hin. Überraschenderweise funktionieren in Selb auch die Eigenkompositionen deutlich besser als vor einigen Wochen wenige Kilometer südlich. Dazu erklingen gerade die Flöten im besten Sound-Gewand und TIR NAN OG haben sogar einen neuen Song im Gepäck. Am Ende vermisst niemand das traditionelle „Star Of The County Down“, sondern ein Großteil der Menge erfreut sich zusammen mit den Musikern an ihren Songs und deren mitreißender Darbietung.
Die nächsten Stunden dominieren die weiblichen Stimmen auf dem Festival-Mediaval: Den Anfang machen WEIBSVOLK, die mit ihrer Musik in traditionell mittelalterlichen Gefilden unterwegs sind. Die vier Damen sind 2018 bereits auf den Kaltenberger Ritterspielen zu sehen gewesen und präsentieren eine bunte Songauswahl von temperamentvoll bis anmutig. Garniert wird der Auftritt durch eine sympathische österreichische Note wie am Tag zuvor bei Narrengold. Bei strahlendem Sonnenschein, der sich an diesem Tag ansonsten leider sehr rar macht, lassen sich sowohl das „Ave Maria“ als auch ein humorvolles „Backe Backe Kuchen“ zur Melodie von Carmina Burana entspannt genießen.
Im Vergleich deutlich härter kommen inzwischen ELANE daher. Sängerin Joran merkt man direkt zu Beginn die Freude an, erstmals auf dem Goldberg auf der Bühne zu stehen, als sie zum Intro ihr Schwert „für Glenvore“ in die Höhe reckt. Von der düsteren Melancholik eines „Lore Of Nén“ haben sich die Sauerländer im Laufe der Jahre mehr in Richtung Fantasy entwickelt, inzwischen ist die Musik epochaler und gitarrenlastiger geworden. Wenig verwunderlich sind Kooperationen mit Kai Meyer im Rahmen der letzten Veröffentlichungen. Durch ihren aktuellen Stil verlieren ELANE etwas an früheren Alleinstellungsmerkmalen, sind aber gleichzeitig – gerade für Festivalbesucher – leichter zugänglich und bekömmlicher geworden, gerade für Fantasy-Liebhaber, die gerne Soundtracks hören.
Orientalisch wird es schließlich bei ORO, die mit einer gekonnten Mischung aus Tanz und Musik alle Sinne ansprechen. Dabei nutzen die Multiinstrumentalisten eine große Palette an traditionellen wie modernen Instrumenten. Tzouras, Darabuka, Cister, Drehleier, Klarinette, Flöten … Hier erklingt alles, was das Herz begehrt. Dazu lässt Tänzerin Mirimah ihren Charme spielen und tanzt mit viel Körpereinsatz und leuchtenden Augen, egal ob mit Tüchern, Schwertern oder ohne Utensilien. Die Band ist wunderbar eingespielt und hat einen fantastischen, ausgewogenen Klang. Für Balkan-Liebhaber sind ORO sicherlich Pflichtprogramm an diesem Festival-Tag.
CELTICA PIPES ROCK! sorgen nun dafür, dass die größtenteils instrumentale Dudelsack-Musik auch in Abwesenheit in Corvus Corax und anderen Urvätern des Genres den Samstag bereichert. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die fünf Musiker reisen mit der Erfahrung von zahlreichen MPS-Shows und vielen weiteren Auftritten nach Selb. Neben den offenkundigen Qualitäten von Duncan und Jane an den Sackpfeifen entpuppt sich Clanführer Gajus als filigraner Gitarrist und Geigerin Aya als Meisterin ihres Instruments. Diese Zusammenstellung ist neu am Goldberg und alle Mitglieder sind hervorragend aufeinander eingespielt. CELTICA PIPES ROCK! setzen dazu – ähnlich wie Rapalje – auf einige Feuereffekte als kleine Akzente in der Show, die ansonsten von der Spielfreude und Begeisterunsfähigkeit der einzelnen Bandmitglieder lebt. Das Schlagzeug als Taktgeber rundet das satte Klangbild ab und mit Fug und Recht können die Österreicher behaupten, dass ihr „Rock“ im Namen nicht von ungefähr kommt. Die Dudelsäcke duellieren sich, ab und an erklingt eine bekannte Melodie wie „Whiskey In The Jar“ und selbst für Gänsehautatmosphäre sorgen die emotionalen Arrangements in balladesken Momenten wie bei „Amazing Grace“. Dass die erste Show in Selb gleichzeitig der letzte Auftritt von Jane mit CELTICA PIPES ROCK! ist, verleiht dem Auftritt noch einmal eine ganz besondere Komponente – gleichzeitig hätte sich die Sackpfeifenvirtuosin wohl kaum eine schönere Atmosphäre für einen würdigen Abschied ausmalen können.
Vom Rock geht es nahtlos über in den Metal-Teil des Samstags: LEAVES‘ EYES als Headliner vor der mitternächtlichen Feuershow beschließen den Samstag auf der Burgbühne. Der Anfang mit einigen Komparsen als Wikinger verkleidet gerät imposant, noch bevor die ersten Riffs erklingen. In welche Richtung sich die nächsten 90 Minuten entwickeln, zeigt direkt der Opener und Titelsong des letzten Albums „Sign of the Dragonhead„. Auch mit Elina Siirala sind die Symphonic Metaller ihrem Stil überwiegend treu geblieben, wenngleich auffällt, dass LEAVES‘ EYES im Gegensatz zu anderen Genre-Vertretern aktuell mehr auf Folk als auf Bombast setzen. Zwar kommen bei „Across The Sea“ und Co. die Nyckelharpa, Uilleann Pipes, Fiddles und Whistles vom Band, doch immerhin entsteht dadurch die thematische Brücke zum Festival. Einzig „Fairer Than The Sun“ als weitere folkige Vorzeigenummer der letzten Veröffentlichung hätte der Songauswahl speziell an diesem Tag gut getan. Die Vergleiche zwischen Elina und ihrer Vorgänger Liv Kristine liegen auf der Hand und die neue Frontfrau muss sich hinter ihrer Vorgängerin keinesfalls verstecken. Im Gegenteil: Der Wechselgesang von ihr mit Alexander Krull funktioniert wie eh und je, einzig das Publikum will nach einem langen Festivaltag anfangs noch nicht mitziehen. Da hilft auch der Elan der Gitarristen wenig, die sich mächtig ins Zeug legen. Etwas zu viel Fremdscham im Dauergepose kommt immer dann auf, wenn „Krulle“ vor die Menge tritt, dieser mit seinen Standardabläufen einzuheizen versucht, niemand reagiert und er sich überschwänglich dafür bedankt. Auf Dauer manifestiert sich das Gefühl, dass LEAVES‘ EYES und das Festival-Mediaval keine dauerhafte Beziehung miteinander eingehen möchten, es aber für einen Abend durchaus schlechtere Alternativen gibt.
Heiß erwartet und kontrovers diskutiert sind HEILUNG mit ihrer Show aus Musik und spirituellem Ritual nicht nur die Aufsteiger der letzten Jahre, sondern auch der spannendste Headliner des Festivals. Mit wummerndem, lauten Bass und altnordischen Gesängen, rhythmischen Trommelschlägen und perfekt durchgestylten Choreografien wird das Publikum gleichermaßen in Trance versetzt wie fasziniert – ist das Konzept in seiner konsequenten Ausführung doch sehr einzigartig. Egal ob Kostüme, Instrumente, Texte, Lichtshow, zusätzliche Darsteller auf der Bühne: HEILUNG überlassen kein Detail dem Zufall. Das Ergebnis spaltet die Gemüter: Zu laut, zu affektiert, zu überladen für die einen; beseelend, faszinierend und alle Sinne unterhaltend für die anderen. Für die, die sich darauf einlassen können, eröffnet sich an diesem Samstag Abend ein perfektes Spektakel. Besonders Sängerin Maria sorgt sowohl mit ihrer augenverhüllenden Kleidung als auch vor allem mit ihrer Stimme für zahlreiche Gänsehautmomente. Man kann den Blick kaum abwenden von den geheimnisvollen Silhouetten im Nebel, den angemalten Körpern, den wirbelnden Stoffen, Knochen und Fellen. Es dröhnt in den Ohren, die Krieger schreien, und irgendwie funktioniert es, sich gedanklich entführen zu lassen. Erst wenn die Bühne nach dem Auftritt spirituell geräuchert (und entsprechend auf jegliche Zugabe verzichtet) wird, kehrt man so langsam in die Wirklichkeit zurück. Als hätte man einem Happening statt einem Konzert beigewohnt. Ob sich der Effekt über die Jahre abnutzen wird, wird die Zeit zeigen – aktuell schwimmen HEILUNG auf einer beachtlichen Welle des Erfolgs. Das Debüt auf dem Festival-Mediaval kam jedenfalls genau zur rechten Zeit. Wohin man das Konzept noch treiben kann, wird die Band sicherlich in Zukunft noch unter Beweis stellen.
Wieder geht ein Festival-Tag mit viel Abwechslung und musikalischen Highlights zu Ende. Besonders die Wiederaufnahme des Newcomer-Contests macht große Freude. Die rege Publikumsbeteiligung zu früher Stunde beweist wieder eindrucksvoll, warum die Atmosphäre auf dem Goldberg ihresgleichen sucht, und so erwartet man mit Vorfreude den Festival-Sonntag.
(c) medievalphotography.com – Jens Wessel