Kaum hat Leprous-Drummer Baard Kolstad seinen Stream hinter sich gebracht, verkündet Bandkollege EINAR SOLBERG seinen eigenen Akustik-Solo-Livestream. Wie zuletzt auch dürfen die Ticket-Käufer selbst wählen, welche zehn Songs aus einer Auflistung von 74 Leprous-Songs gespielt werden sollen. Traditionsgemäß kann zwischen einem VIP-Ticket für ca. 35 EUR oder dem regulären Ticket für ca. 17 EUR gewählt werden. Die VIPs kommen zusätzlich in den Genuß, fünf weitere Songs aus einer Liste von 50 Cover-Songs für die Zusatzshow wählen zu dürfen. Diese Liste enthält neben bekannten Pop-Songs (u.a. von Michael Jackson, Madonna, Muse oder Queen) auch Lieder seiner Schwester (StarOfAsh) und seinem Schwager (Ihsahn) sowie eine Reihe Songs aus den Bereichen Prog oder Metal (z.B. von Vola, Tesseract, Ulver oder Soen). Bis kurz vor Konzertbeginn können die Ticketkäufer voten, sodass es bis zum Schluss spannend bleibt.
Um 19:30 Uhr, nachdem EINAR SOLBERG die Pre-Show-Zoom-Chat-Session mit den Käufern der VIP-Tickets beendet hat, betritt er stilecht im Anzug die Bühne, welche nur mit einem Flügel und einem darauf gerichteten Scheinwerfer dekoriert ist. Er begrüßt kurz die Gäste und erklärt das System der Songauswahl und gesteht den Zuschauern, dass dies für ihn der eigenartigste Stream überhaupt ist, bevor er mit „Acquired Taste“ beginnt. Anschließend überrascht Einar die Zuschauer damit, dass er seinen Bandkollegen Robin Ognedal auf die Bühne holt, welcher mit der Akustikgitarre einige Songs zusätzlich begleiten wird, so auch das folgende „Salt“.
Erstaunlicherweise voteten die Fans viele langsame Songs in die Top Zehn, welche sich eh gut für akustische Versionen eignen. Vollblut-Musiker EINAR SOLBERG stellt das kaum vor wirkliche Herausforderungen, zumindest nicht gesangstechnisch. Dennoch bemüht er sich, Variationen für die Details zu finden, damit es nicht einfach nur die akustische Variante eines Album-Songs ist, sondern eine eigene Version, anders arrangiert und mit unerwarteter Ausarbeitung der Highlights. Außerdem fällt auf, dass der Sänger viel gelöster wirkt als bei seinem letzten Solostream ein halbes Jahr zuvor. Er legt ein Maximum an Emotionen in fast jeden Song und reflektiert dies auch in Mimik und Gestik. Auf Schnickschnack wie die Einspielung von Hintergrundbildern wird dieses Mal verzichtet, was dem Gesamteindruck des Streams positiv zugute kommt. Nichts lenkt von der emotionalen Tiefe der Lieder ab und die Kameraeinstellung unterstreicht dies zusätzlich. Auch ist die Übertragungsqualität von Munin.Live ist in Ordnung, es gibt dieses Mal keinerlei Ausfälle. Nach einer gefühlvollen Version von „The Cloak“ überrascht EINAR SOLBERG die Zuschauer mit einem komplett neuen Arragement des Songs „Moon“: Den Takt hat er beim Proben kurzerhand in 4/4 umgewandelt, da der Originaltakt eine flüssige Performance verhindert hätte. Somit kann er die Gesangslinien variieren und mit einer ordentlichen Prise Emotionalität, fast Sentimentalität, versehen. Das Ergebnis ist eine umwerfende Version von „Moon“, die später auch in Fan-Foren für Begeisterung sorgen wird.
Das nachfolgende „Echo“ gelingt nicht ganz so gut, trotz neuerlicher Unterstützung von Robin an der Akustikgitarre. Aber Einar sagt selbst, dass viel Musik an diesem Abend auch intuitiv gespielt wird, sodass eine gewisse Fehlerquote eingerechnet werden muss. Robin bleibt für das folgende „Bonneville“ auf der Bühne und verleiht dem Lied einen erfrischend rhytmischen Charakter auf der Gitarre. Zwischen den Songs peppt EINAR SOLBERG die Performance immer wieder mit Späßen oder einem kurzen Schwank aus der Jugend auf. Auch wird er nicht müde, zu erwähnen, dass er selbst diese Setliste so niemals zusammengestellt hätte. Es folgen noch „Distant Bells“, „Alleviate“ und „Castaway Angels“, bevor als eindeutiger Gewinner des Votings der älteste Song „White“ angestimmt wird. Jahrelang haben die Fans darum gebeten, ihn live zu hören. Ob sich die Akustik-Version dafür eignet, ist sicher Geschmackssache, wenngleich Gitarrist Robin hierzu ein letztes Mal peppige Santana-Vibes beisteuert. Interessant wird es wohl auch bei der hoffentlich stattfindenden Tour im Dezember, ob es der Song in die Setliste schaffen wird, soll diese Tour doch einen Rückblick auf die gesamte Schaffensperiode von Leprous geben.
- Acquired Taste
- Salt
- The Cloak
- Moon
- Echo
- Bonneville
- Distant Bells
- Alleviate
- Castaway Angels
- White
Nach einer fünfminütigen Pause geht es weiter mit der VIP-Show, welche aus fünf Cover-Songs besteht. Wie nicht anders zu erwarten war, haben die Fans etliche Prog-Songs in die Top Fünf gewählt und so gibt Einar „Lotus“ von Soen und „Nocturne“ von Tesseract zum Besten. Aber auch „Unintended“ von Muse und „Exit Music“ von Radiohead schaffen es in die Setliste. Einar bedankt für sich letzteren, da Radiohead eine seiner Lieblingsbands sind. Eine große Überraschung, mit der selbst Einar nicht gerechnet hat, ist der erste Platz: Queens „Who Wants To Live Forever“ macht das Rennen und Einar gibt ein letztes Mal sein Bestes, um auch diesem Song einen besonderen Schliff zu verleihen, bevor er sich unter tosendem Applaus von den Zuschauern verabschiedet, um im VIP-Chat via Zoom noch eine halbe Stunde mit ca. 70 Fans zu chatten.
Die Show dauerte inklusive der VIP-Zugabe eine Stunde und 45 Minuten; dies scheint natürlich etwas kurz für diejenigen, die quasi den doppelten Ticketpreis bezahlt haben. Aber trotzdem war die Show durchaus unterhaltsam und etwas Besonderes, da jeder einzelne Song mit viel Inbrunst performt wurde und das ganze Konzept so sicherlich nicht noch einmal auf die Bühne gebracht werden wird. Langeweile wird bei Leprous wohl nie einkehren. Wir dürfen gespannt sein, wie lange es dauert, bis die Könige des Live-Streamings den nächten Coup ankündigen werden. Bis dahin können sich die Fans die Zeit mit der ersten Single-Auskopplung aus dem kommenden Album „Aphelion“ versüßen.