Sommer ist die Jahreszeit der Festivals, klar. Sommer ist aber auch die Zeit, in der bundesweit die Fussballstadien zu Rock-Arenen werden. Obwohl die internationalen Acts noch etwas auf sich warten lassen (Guns n‘ Roses) oder aufgrund vorsichtiger Planungen 2022 noch nicht nach Deutschland kommen, bleibt es längst nicht mehr so furchtbar still wie im vergangenen Jahr: Wo nicht gerade Rammstein sengen und singen, geben sich derzeit ausgerechnet Die Toten Hosen und DIE ÄRZTE die Klinke in die Hand. So auch in München: Wenn am Samstag der Alex kommt, dürfte der Schrei nach Liebe noch durch das Zeltdach des Olympiastadions hallen.
Das liegt aber eher an der Textsicherheit der DIE-ÄRZTE-Fans als an deren tatsächlicher Zahl. Denn während zwei in der Olympiahalle angesetzte Shows restlos ausverkauft waren, ist das Stadion trotz perfektem Stadionwetter weit von „gut gefüllt“ entfernt. Doch weil die drei Berliner noch nie irgendetwas allzu ernst genommen haben, nehmen DIE ÄRZTE auch das mit viel Humor: Als Farin Urlaub mit maximal sympathischer Geste den Auftritt der ANTILOPEN GANG um Danger Dan ankündigt, verweist er darauf, dass diese immerhin – ganz offensichtlich anders als sie selbst –, das Olympiastadion schon ausverkauft hätten. Zwar nur mit 200 Personen im Rahmen einer unter Corona-Auflagen abgehaltenen Show, aber immerhin. Ob auch „Alleine in der Nacht“ deswegen ins Set der DIE-ÄRZTE-Show gerutscht ist, ist nicht auszumachen. Zuzutrauen wäre es der Band allemal. Schließlich ist Humor mindestens das zweite Standbein von Bela-Farin-Rod: Was wäre schließlich eine DIE-ÄRZTE-Show ohne den Klamauk und das Frotzeln (hochdeutsch: Necken)?
Was das angeht, ist das Münchner Publikum natürlich ein dankbares Opfer für all die „Saupreissen“, die heute auf der Bühne stehen: Das fängt schon bei der ANTILOPEN GANG an, die ihren Song „Pizza“ mit Bela-B-Feature den „Münchner Brezen- und Weißwurstfreunden“ als „Kulturschock“ ankündigen, und geht bei DIE ÄRZTE nahtlos weiter, wenn etwa Rod in „Lady“ mal wieder Edmund Stoibers legendäre (aber auch nicht mehr ganz aktuelle) „10-Minuten“-Rede aufs Korn nimmt oder zu „Elektrobier“ ein „Platinen-Obazda im Elektrobiergarten“ empfohlen wird. Und geht es bekloppter, als von seinen Fans zu verlangen, bei jedem Auftauchen des Wortes „Fiasko“ im gleichnamigen Song (und auch weiteren Ansagen) laut „Huh“ zu schreien und sich auf den Kopf zu hauen? Wohl kaum. Das merkt auch Farin Urlaub: „Wir sind ’ne ziemlich volle Band heute.“ Herrlich.
Dabei fängt der Abend zunächst fast dröge an. Ob es am wirklich sehr leeren Stadion liegt, am Tageslicht oder daran, dass die Band sich erst eingrooven muss – in der ersten Set-Hälfte wirkt die Performance noch eher nach Pflichtprogramm, und auch die Stimmung vor der Bühne ist eher verhalten. Selbst Hits wie „Meine Freunde“ sorgen noch nicht für jene Euphorie, die man von DIE-ÄRZTE-Shows sonst kennt. Das ändert sich zum Glück über die Zeit: Ist die Sonne erst untergegangen und die Band „angekommen“, wird deren Performance zwar nicht gerade professionell (wer würde das hier auch erwarten?) – aber extrem unterhaltsam: „Scheißtyp“ geht komplett in die Hose (Kommentar Bela B: „Lasst uns den einmal proben, aber nicht vor tausenden Leuten, das ist irgendwie doof.“), an „Elektrobier“ hängt das Trio ein Impro-Medley aus ihren „verbotenen“ Songs („Claudia hat ’nen Schäferhund“, „Geschwisterliebe“, „Teenager Liebe“, „Helmut K.“, „BGS“ und „Schlaflied“) und in „Zu spät“ hat der arme Farin kein klappriges Damenrad mehr, sondern nur noch eine „Bitcoinspeicherstadt“.
Mit sage und schreibe 40 (!) Songs bleibt auch im Hinblick auf die Setlist kaum Grund zu meckern: „Westerland“ mag manchem Fan fehlen – dafür gibt es in rund 2:45 Stunden (!!) Spielzeit einen bunten Mix aus Raritäten („Vollmilch“), kurz Angespieltem (inklusive „One“ von Metallica) und natürlich all den großen Hits („Meine Freunde“, „Der Graf“, „Deine Schuld“, „Schrei nach Liebe“, „Junge“, „Zu Spät“). Dass der „Schunder-Song“ gerade noch so in die letzten verbliebenen Minuten bis zum Zapfenstreich um 23 Uhr ins Set rutscht, obwohl DIE ÄRZTE bereits „Gute Nacht“ gesungen haben und sich viele voreilige Fans schon auf dem Weg aus dem Stadion befinden, passt zum Abend: Bei einer DIE-ÄRZTE-Show muss man eben alles erwarten. Auch das Gute.
- Himmelblau
- Noise
- Wir sind die Besten
- Meine Freunde
- Mein kleiner Liebling
- Lasse redn
- Vollmilch
- Kerngeschäft (Version von „Nummus Cecidit“)
- Fiasko
- Angeber
- Ist das noch Punkrock?
- Doof
- Hurra
- Besserwisserboy
- Rettet die Wale
- Ich, am Strand
- Lady
- 1/2 Lovesong
- Morgens Pauken
- Friedenspanzer
- Der Graf
- Plan B
- Alleine in der Nacht
- Waldspaziergang mit Folgen
- Elektrobier (+Impro)
- Deine Schuld
- Perfekt
- Rebell
— - Dinge von denen
- Ignorama
- Wie es geht
— - Mach die Augen zu
- Dunkel
- Schrei nach Liebe
- Scheißtyp
- Junge
- Zu spät
- Dauerwelle vs. Minipli
- Gute Nacht
— - Schunder-Song
Die Knöpfe an Bela Bs Hemd spannen. Das ist aber auch die einzige (und wohlverdiente) Alterserscheinung, die man DIE ÄRZTE nachsagen kann. Ansonsten ist an diesem Abend alles wie gehabt: Auf der Bühne stehen drei Jungs, die sich mal besser, mal schlechter verstehen, manche Songs besser können als andere und bisweilen den Anschein erwecken, die Musik sei nur der Anlass, nicht aber der eigentliche Zweck der Veranstaltung. Von der Gravität der „Stadiontour“ als wohl auch spießigster Instanz des Live-Spielens merkt man bei DIE ÄRZTE jedenfalls nichts. Zum Glück.
Super Artikel! Ich war auch im Stadion und kann alles nur unterschreiben :D
Danke, das freut mich! :)