Festivalbericht: Chiemsee Rocks! 2013

21.08.2013 Übersee

chiemsee-rocks_logo.1500x821

Bereits zum sechsten Mal findet zwei Tage vor dem Chiemsee Reggae Summer auf dessen Gelände in Übersee am Chiemsee das CHIEMSEE ROCKS! statt, welches jedes Jahr mit einigen der bekanntesten nationalen und internationalen Acts aus der Punk-, Rock- und Metalszene aufwarten kann und dabei eine große Bandbreite an Genres aufweist. So konnten in der Vergangenheit bereits Bands wie Blink-182, The Gaslight Anthem, Foo Fighters, Boysetsfire, Beatsteaks, The Mighty Mighty Bosstones oder Deichkind unter Beweis stellen, dass sie zu den mitreißendsten aktuellen Livebands zählen. Auch bei der diesjährigen Auflage haben sich die Veranstalter nicht lumpen lassen und weiten das Line-Up um die Nutzung der Zeltbühne aus, weswegen 2013 die doppelte Menge an Bands auftritt. Neben Skatepunk von NOFX, ZEBRAHEAD und den MAD CADDIES wummert dieses Jahr auch saftiger Metal(-core) von WE CAMES AS ROMANS, CALLEJON und den Legenden DEFTONES von den Bühnen, während SICK OF IT ALL eine Prise Old-School-Hardcore auf das Gelände bringen. Als Mainact konnte der Headliner der ersten Ausgabe des Festivals in Form von DIE ÄRZTE gewonnen werden.
[Bernhard Landkammer]

SONY DSC

Metalcore am frühen Nachmittag: So startet das CHIEMSEE ROCKS! in seine vierte Auflage. Die Westfalen CALLEJON haben dabei das undankbare Los gezogen, die passable Menge vor der Bühne in der prallen Sonne in erste Wallung zu bringen. Das gelingt den Musikern rund um Sänger BastiBasti nur teilweise. Während Eigenkompositionen wie „Blitzkreuz“, „Snake Mountain“ oder „Porn from Spain“ bestenfalls die CALLEJON-Fans zum Mitfeiern einladen, funktioniert die Coverversion von „Schwule Mädchen“ deutlich besser. Lediglich die ruhigen Momente verpuffen im Laufe des 45-minütigen Auftritts vor malerischer Kulisse vollends. Und wer textlichen Anspruch sucht, hat die Hauptbühne bereits vor dem letzten Song „Porn from Spain II“ verlassen. Dieser ist sprachlich dann doch ein wenig zu übertrieben. Im Anbetracht des Headliners verzichten CALLEJON vor dem krönenden Abschluss auf ihre Version von „Schrei nach Liebe“ und tun sich damit an diesem Tag einen Gefallen. Insgesamt ist der Auftritt der Szeneveteranen weder Fisch noch Fleisch. Doch das wäre an jener Stelle wohl allen anderen Combos mit dieser musikalischen Ausrichtung ähnlich ergangen.
[Sigi Maier]

SONY DSC

Nachdem die Mitglieder von Callejon alle noch relativ jung sind, präsentiert sich der folgende Konzerttag auf der Hauptbühne als Schaulaufen bereits seit vielen Jahren etablierter Legenden. Den Anfang in dieser Reihe machen SICK OF IT ALL, welche seit nunmehr 28 Jahren als eine der wichtigsten und beständigsten Hardcore-Bands gelten und dem Begriff NY-Hardcore seine wahre Bedeutung verliehen haben. Entsprechend knüppelt die Band von der ersten Sekunde an ohne Rücksicht auf Verluste los. Das Publikum ist im Vergleich zu den vorangehenden Callejon sichtbar etwas älter und zahlenmäßig im Vergleich zum Opener des Tages auch etwas reduziert, was wohl auch daran liegt, dass SICK OF IT ALL an diesem Tag die härteste Band des Festivals darstellen. Dass die Musiker mit ihrem fett und klar abgemischten Sound das Publikum trotz nahezu übersprudelnder Energie auf der Bühne nahezu zur Bewegung zwingen muss, scheint die Laune der Band nicht zu stören: Pete Koller an der Gitarre hüpft wie von der Tarantel gestochen über die Bühne und auch auf den übrigen Gesichtern steht durchgehend ein breites Lächeln. Auch wenn 30 Minuten dieser satten Hardcorepackung gereicht hätten und obwohl (oder gerade weil) Melodien weitestgehend hinter treibendes Riffing und ein tobendes Schlagzeug zurücktreten müssen, beweisen SICK OF IT ALL auf dem CHIEMSEE ROCKS!, dass Old-School-Hardcore noch lange nicht tot ist. Oder wie Sänger Lou Koller in einer Ansage so schön sagte: „This next one is fucking heavy. And I mean REALLY heavy, not like ‚I started listening to Hatebreed and form a band now‘-heavy.“

SONY DSC

Daran anschließend füllt sich der Bereich vor der Bühne zusehends und ein winziger gelber Banner kündigt den nächsten Act an: die Skatepunk-Legenden NOFX. Zu einem deutschsprachigen Song aus dem Musical Avenue Q betreten die vier Jungs um Fat Mike die Bühne und verkünden sofort, dass sie eigentlich keine Lust auf diesen Auftritt haben, da es noch viel zu früh ist und sie gerade eben erst aufgewacht sind. Mit ihren rotzigen Ansagen, die sich das gesamte Konzert hin über Publikumsbeschimpfungen und dadaistisches Gelaber bis hin zu Lachanfällen erstrecken, steht die Band als US-amerikanische Alternative zum Headliner des heutigen Abends parat. Das Publikum feiert die Skatepunk-Songs der Band bedingungslos ab. Die Folge: Zum ersten Mal entwickelt sich heute so etwas wie Bewegung unter den Zuschauern.
NOFX meistern ihren Auftritt souverän, auch wenn die gesamten 60 Minuten zeigen, dass ein wenig mehr Variation im Bandsound nicht schaden würde. Zwar schnappt sich Fat Mike immer wieder die Trompete und sogt so für eine fröhliche Ska-Stimmung auf der Bühne, insgesamt bleiben aber die durchaus unterhaltsamen Ansagen der Band stärker in Erinnerung als ihre doch recht austauschbare Musik. Das unvermeidliche Finale in Form von „Kill Al The White Men“ gerät dann allerdings dennoch zu einem richtigen Highlight des Festivals, was nicht zuletzt an den Staubwolken über dem Moshpit offensichtlich wird.

Setlist NOFX:
01. 60%
02. Dinosaurs Will Die
03. Bob
04. Murder The Government
05. What’s The Matter With Parents Today?
06. 72 Hookers
07. Creeping Out Sara
08. Mattersville
09. Fuck The Kids
10. Franco Un-American
11. Stickin‘ In My Eye
12. Seeing Double At The Triple Rock
13. Fuck The Kids Part II
14. What Now Herb?
15. Leave It Alone
16. I Believe In Goddess
17. Linoleum
18. Quart In Session
19. Eat The Meek
20. Champs Elysées (Joe Dassin Cover)
21. Bottles To The Ground
22. Kill All The White Men

20130821_190125

Die Sonne beginnt allmählich hinter die Bühne zu wandern und ein riesiger, sehr schöner Backdrop kündigt den nächsten Act des heutigen Abends an, ohne den die Anfang des Jahrtausends einsetzende Nu-Metal-Welle niemals denkbar gewesen wäre: DEFTONES. Dass die Band ohne Rücksicht auf Trendfragen ihrem Stil seit nunmehr 25 Jahren treu bleibt und ihre Mischung aus fetten Riffs, sphärischen und verträumten Passagen sowie Chino Morenos Wechsel zwischen sehnsüchtigem Gesang und wütendem Keifen immer weiter perfektioniert, legitimiert ihren heutigen Status als Co-Headliner. Das Publikum sieht dies allerdings scheinbar nicht so, ist es doch im Vergleich zu den vorangehenden NoFx erschreckend leer vor der Bühne. Dennoch liefert die Band aus Sacramento ein unglaublich wuchtiges Set ab. Nach dem Einstieg mit zwei Songs ihres aktuellen Albums „Koi No Yokan“ präsentieren die DEFTONES auch viele alte Klassiker und packen den unbestreitbaren Überhit „My Own Summer (Shove It)“ bereits als vierte Nummer aus.
Auffällig am heutigen Set ist, dass Chino sehr oft zur Gitarre greift, um den Songs so eine zusätzlich Dimension zu verleihen. Ansonsten springt er in gewohnter Manier über die Bühne, schreit sich die Seele aus dem Leib und bedankt sich zwischen den Songs unglaublich sympathisch beim zwar zahlenmäßig geringen, dafür umso enthusiastischeren Publikum. Als er nach knapp einer Stunde plötzlich den letzten Song ankündigt und tatsächlich die Melodie von „7 Words“ erklingt, folgen viele verwunderte Blicke auf die Uhr: Eigentlich hätte den DEFTONES eine Spielzeit von 75 Minuten zugestanden, welche sich nun allerdings ohne ersichtlichen Grund auf 60 verkürzt. Dies ist gleichzeitig gut und schade: Gut, da dieses Set mit einer umwerfenden Dynamik und Energie aufwarten konnte und so zu keinem Zeitpunkt gelangweilt hat, schade, weil man gerne noch mehr davon gesehen hätte. Definitiv ein Konzerthighlight 2013.

Setlist DEFTONES:
01. Swerve City
02. Poltergeist
03. Be Quiet And Drive (Far Away)
04. My Own Summer (Shove It)
05. Elite
06. Rosemary
07. Tempest
08. Diamond Eyes
09. Rocket Skates
10. You’ve Seen The Butcher
11. Sextape
12. Change (In The House Of Flies)
13. Engine No. 9
14. 7 Words

Die Ärzte 1

Nach einem Tag auf dem Festivalgelände und der inflationär hohen Dichte an T-Shirts einer gewissen Band erübrigt sich die Frage, weswegen ein Großteil des heutigen Publikums den Weg zum Chiemsee auf sich genommen hat. So auch der Verfasser dieser Zeilen, der sich vorneweg für fehlende Objektivität in den folgenden Zeilen entschuldigen muss – immerhin stellt dieser Auftritt meinen 20. Besuch bei der Besten Band der Welt dar. Die Umbaupause nimmt tatsächlich 45 Minuten in Anspruch und ein größtenteils durchsichtiger Vorhang verwischt die Sicht auf eine beeindruckend große LED-Wand, die hinter der Bühne aufgestellt wird. Pünktlich bricht die Musik ab und unter großen Jubel erklingt „Popcorn“ von Hot Butter als Intro – nach knapp 60 Sekunden wird dies allerdings durch eine einschneidende Gitarrenmelodie unterbrochen, der Vorhang fällt und unter lautem Jubel beginnen DIE ÄRZTE mit „Wie es geht“ vom 2000 erschienenen Album „Runter mit den Spendierhosen, Unsichtbarer!“ ihr Set. Nachdem mit „2000 Mädchen“ zurück in die 80er gereist wird und „Bettmagnet“ vom aktuellen Album „auch“ gespielt wurde, wendet sich die Band erstmals an das Publikum und bereitet so auf das vor, was den Rest des Abends noch öfter folgen wird: pubertäre Witze, selbstironisch eingeforderte Publikumsinteraktionen und diverse Lachanfälle.
Die Band hat sichtlich Spaß, immer wieder schmeißen sich Farin Urlaub, Bela B und Rodrigo Gonzalez die Bälle zu und wandeln ihre Songs mittendrin ab – das Publikum an diesem Abend hat allerdings ganz offensichtlich keine Ahnung, wie es mit dieser Spielfreude und ausgelebten Anarchie umgehen soll. Selbst in den vorderen Reihen wird man beim Mitsingen der Texte und dem Versuch, zu tanzen, häufig angeschaut, als wäre man ein Ufo. Die Setlist selbst legt zwar einen Fokus auf das aktuelle Album, dennoch werden viele Klassiker des Überalbums „13“ gespielt – die Ausflüge in die 80er Jahre bringen zwar Fans der Band zum Ausflippen (wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal „Frank’n’Stein“ live hören durfte?), der Rest der Anwesenden steht bei diesen Klassikern allerdings stumm und regungslos vor der Bühne. Dass die ganz alten Songs nicht von jedem abgefeiert werden, ist bei einem Festivalauftritt klar, dass allerdings auch Hits wie „Schrei nach Liebe“ und „Junge“ mit verhaltenem Gesang quittiert werden, erstaunt dennoch.
Die Ärzte 2Während DIE ÄRZTE in solchen Situationen häufig deutlich zeigen, dass sie keine Lust mehr haben, ignorieren die Drei heute die geringe Begeisterungsfähigkeit des Publikums und blödeln fast noch mehr herum, als sie das bei regulären Hallenshows tun. Bezeichnend ist dann allerdings der Abbruch von „Roter Minirock“, den Farin mit einem „Hm, das macht irgendwie doch nicht so viel Spaß, wie ich dachte“ kommentiert wird. Nach dem obligatorischen „Zu spät“ merkt die Band, dass sie noch Zeit hat, und lässt spontan und ohne Rücksicht auf das nahezu apathische Publikum noch „Madonnas Dickdarm“ und „Ekelpack“ (!!!) folgen, bevor Farin Urlaub, Bela B und Rod mit der Grindcore-Satire „Dauerwelle vs. Minipli“ das Konzert wirklich beenden. Zwar geht Farin noch kurz auf die Rufe nach „Monsterparty“ ein, indem er die erste Strophe des Songs a capella singt, wird dann allerdings von einem „Jetzt halt mal die Klappe!“ von Bela unterbrochen. Somit beendet ein im Rückblick insgesamt doch großartiges Konzert die diesjährige Ausgabe des CHIEMSEE ROCKS!

Setlist DIE ÄRZTE:
01. Intro (Hot Butter „Popcorn“)
02. Wie es geht
03. 2000 Mädchen
04. Bettmagnet
05. Hurra
06. Tamagotchi
07. Lasse redn
08. Ist das noch Punkrock?
09. Perfekt
10. Deine Schuld
11. Waldspaziergang mit Folgen
12. Nie wieder Krieg, nie mehr Las Vegas!
13. Lied vom Scheitern
14. Wir sind die Besten
15. Heulerei
16. Sohn der Leere
17. Lady (angespielt)
18. 1/2 Lovesong
19. ZeiDverschwÄndung
20. Fiasko
21. Ignorama
22. Schrei nach Liebe
————
23. Der Graf
24. Rebell
25. Junge
26. Unrockbar
———–
27. Himmelblau
28. Frank’n’stein
29. TCR
30. Westerland
31. Roter Minirock (nach der Hälfte abgebrochen)
32. Zu spät
33. Madonnas Dickdarm
34. Ekelpack
35. Dauerwelle vs. Minipli (inkl. Erste Strophe Monsterparty a capella)

Aufgrund der großen Hitdichte auf der Hauptbühne und den Überschneidungen mit den Acts im Zelt trafen wir spontan die Entscheidung, lediglich von der großen Bühne zu berichten. Generell ist das CHIEMSEE ROCKS! durchaus eine Reise wert, wie das diesjährige Line-Up gezeigt hat. Der unglaublich faire Eintrittspreis von lediglich 40€ ist dabei explizit hervorzuheben, genauso wie die Möglichkeit, ein Superticket für das CHIEMSEE ROCKS! und den direkt anschließend stattfindendenden Chiemsee Reggae Summer zu lösen. Die Organisation auf dem Gelände sowie das dortige Angebot an den bekannten Festivalständen war tip top. Schade ist lediglich, dass die Musik für große Teile des Publikums lediglich als Nebenher aufgefasst wurde. Dass der Tag dennoch ein richtiger Erfolg wurde, liegt am hervorragenden Booking, den Livequalitäten der gebuchten Bands und der – trotz geringer Bewegungsquote – insgesamt entspannten und friedlichen Stimmung. Demnach steht einer Neuauflage im nächsten Jahr nichts im Weg.
[Bernhard Landkammer]

Publiziert am von

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert