Interview mit Simon Lucas von Winterfylleth

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Nach ihrem kurzen Ausflug in akustische Gefilde auf „The Hallowing Of Heirdom“ (2018) sind WINTERFYLLETH auf „The Reckoning Dawn“ zu ihrem angestammten Black-Metal-Sound zurückgekehrt – mit neu gefundenem Feuer. Aus welchem Grund die Briten auf ihrem siebenten Album bissiger denn je klingen, wie „The Hallowing Of Heirdom“ ihre Herangehensweise an das Songwriting verändert hat, warum sie nicht gern mit Folk Metal assoziiert werden und weshalb ihnen nicht allzu viel daran gelegen ist, sich neu zu erfinden, ist im folgenden Interview mit Schlagzeuger Simon Lucas nachzulesen.

Mit WINTERFYLLETH spielt ihr teilweise leicht folkig angehauchten Black Metal. Nicht zuletzt da ihr euch thematisch mit der Geschichte und Kultur eurer Heimat auseinandersetzt, sagt man eurer Musik einen markanten englischen Charakter nach. Was macht diesen Charakter für dich persönlich aus?
Es ist definitiv eine Identität, die für uns vom ersten Tag der Gründung von WINTERFYLLETH an klar erkennbar war und der Schlüssel zu dem war, was wir musikalisch erreichen wollten. Ich verwende den Begriff „folkig angehauchter Black Metal“ nicht wirklich gerne, weil er einen sofort an unaufrichtigen Folk Metal denken lässt, der von Rollenspielern gespielt wird, die kein wirklich tieferes Gefühl und Verständnis für die Musik und ihren Geist haben. Wir sind in erster Linie eine Black-Metal-Band, aber eben eine Black-Metal-Band, die gelegentlich traditionelle Folk-Passagen oder Intros verwendet, um eine bestimmte Atmosphäre eines Ortes oder eines Moments der Geschichte heraufzubeschwören. Natürlich haben wir auch ein ganzes Album mit traditioneller, atmosphärischer Folkmusik mit dem Titel „The Hallowing Of Heirdom“ aufgenommen, da wir das Gefühl hatten, dass wir diesen Aspekt unseres musikalischen Kopfraumes vollständig erforschen mussten. All diese Lieder wurden von traditionellen Aspekten der ländlichen, englischen Folklore und Geschichte inspiriert. Textlich waren sie nicht weit von unserem Black-Metal-Material entfernt, aber sie konzentrierten sich wohl auf ein ländlicheres, pastorales Leben als das Black-Metal-Material, das sich mehr auf die Kämpfe konzentriert, denen wir uns in der Gesellschaft gegenübersehen und die wir historisch gesehen erlebt haben.
Natürlich ist die englische Folkmusik eine starke Tradition, die schon immer Teil unseres Lebens war. Meine Eltern haben mich mit traditioneller Folkmusik von den britischen Inseln erzogen, also ist sie wirklich in unserer Seele. In der Musik kann man den Geist der englischen Landschaft wirklich spüren. Genauso wie die Folkmusik aus aller Welt den Geist der Orte heraufbeschwört, wo auch immer sie verwurzelt ist. Ich denke gern, dass unser Black-Metal-Material in dieser Hinsicht auch einen ähnlich ausgeprägt englischen Klang hat. Es wird oft angemerkt, dass wir einen ziemlich einzigartigen Sound haben, der in ähnlicher Weise Visionen vom ländlichen Großbritannien, von den eichenbewachsenen Hügelkuppen und kahlen Moorlandschaften und Bergen hervorruft.

Bislang habt ihr pünktlich alle zwei Jahre ein neues Album veröffentlicht. Seid ihr in all den Jahren seit eurem Debüt jemals an einen Punkt gekommen, an dem das Musizieren für euch zur schnöden Routine verkommen ist?
Wir hören eigentlich nie wirklich auf, Musik zu schreiben, und deshalb haben wir anscheinend immer diesen Zeitraum von zwei Jahren zwischen den einzelnen Alben. Ich denke, dass einige Bands vielleicht stagnieren, wenn sie nicht so regelmäßig schreiben. Abgesehen davon erzwingen wir es nicht gerne, es muss auf natürliche Weise herauskommen. Wir haben eine sehr strenge Qualitätskontrolle, was ich für sehr wichtig halte. Ich denke, wie bei der Musik muss man den Schreibprozess einfach atmen lassen, und wir lesen oder besuchen ständig verschiedene Orte und Stätten, die uns zum Musikschreiben inspirieren. Bei jedem Album begeben wir uns während seiner Entstehung immer auf eine kleine Reise, sodass wir, wenn es darum geht, das Album zu kreieren, normalerweise effektiv sechs Monate Arbeit darauf verwenden, auch wenn einige der Ideen, die in die Songs einfließen, schon Jahre vor der eigentlichen Konstruktion zu einem vollständigen Song erdacht wurden.

Meiner Wahrnehmung nach halten manche eure Alben bis „The Hallowing Of Heirdom“ für etwas zu gleichförmig. Wie denkst du darüber?
Das Gleiche sagen die Leute auch über Bolt Thrower und Cannibal Corpse und deren starke musikalische Identität hat ihren Plattenverkäufen nie geschadet, nicht wahr? Vielleicht ein oberflächlicher Kommentar in Bezug auf unsere früheren Platten, aber ich denke, wenn Leute, die vielleicht auf der Suche nach ein paar neuen Wendungen in unserem Sound sind, sich in „The Reckoning Dawn“ vertiefen, werden sie angenehm überrascht sein. Es ist das erste Mal, dass wir ein Full-Length-Metal-Album aufgenommen haben, bei dem auch Dan und Mark zum Schreiben beigetragen haben, was definitiv ein paar neue Dimensionen hinzugefügt hat.

Mit „The Hallowing Of Heirdom“ habt ihr zuletzt überraschend ein rein akustisches Album veröffentlicht und euer Gitarrist Dan Capp hat sich vermehrt seinem Folk-Projekt Wolcensmen gewidmet. Würdest du sagen, dass diese Auszeit vom Black Metal für euch ein notwendiger Schritt war, um neue Inspiration zu schöpfen?
Es war immer der Plan, diese Platte zu machen und dann zu unserem natürlichen Black-Metal-Sound zurückzukehren. Ich denke, es war ein notwendiger Schritt, denn es war immer etwas, das wir uns vorgenommen hatten. Aber, um auf die neue Black-Metal-Platte zurückzukommen, so vieles in der Welt hat sich in der Zwischenzeit verändert, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass „The Reckoning Dawn“ mehr Biss und Boshaftigkeit aufweist.

Hat sich durch „The Hallowing Of Heirdom“ etwas an der Art und Weise verändert, wie ihr an eure Musik herangeht?
Der Prozess des Schreibens und der Entstehung von „The Hallowing Of Heirdom“ mit all seinen subtilen Schichten, Harmonien und Orchestrierungen hat definitiv dazu beigetragen, die Art und Weise zu entwickeln, auf die wir unser Black-Metal-Material für „The Reckoning Dawn“ geschrieben haben. Es wurde uns klar, dass wir auf die gleiche an das Schreiben von Black Metal herangehen konnten. Wo wir sonst eine Klangwand verwendet hätten, konzentrierten wir uns also mehr auf die subtilen Melodien, Harmonien und vokalen Kontrapunkte, um die Atmosphäre in der Musik hervorzuheben. Mit dem, was wir beim Schreiben des Materials für „The Hallowing Of Heirdom“ gelernt haben, indem wir Passagen für Instrumente schreiben mussten, die keiner von uns spielt (Cello, Violine usw.), entwickelten wir ein tieferes Verständnis für die Orchestrierung der Art und Weise, wie diese Melodien und Gegenmelodien funktionieren. Beim Schreiben des Materials für „The Reckoning Dawn“ haben wir dies auf jeden Fall in größerem Maße angewandt, um die Atmosphäre der Lieder noch besser zur Geltung zu bringen.

Mit „The Reckoning Dawn“ seid ihr nun recht schnell wieder zum Black Metal zurückgekehrt. Zieht ihr in Betracht, in Zukunft womöglich noch einmal ein rein akustisches Album zu kreieren?
Sag niemals nie! Aber es gibt keine unmittelbaren Pläne, ein weiteres rein akustisches Album in voller Länge zu machen… Noch nicht. Wir hatten eine Menge Ideen, die für „The Hallowing Of Heirdom“ geschrieben wurden, die wir aber noch nicht in vollständige Kompositionen umgesetzt haben. Wenn also die Zeit reif ist und die Stimmung stimmt…

Ich habe den Eindruck, dass „The Reckoning Dawn“ etwas finsterer und brachialer klingt als eure Alben bis einschließlich „The Dark Hereafter“. Habt ihr es während eurer kürzlichen Folk-Phase ein bisschen vermisst, derart ausgelassen und wild zu spielen?
Wie ich bereits erwähnt habe, haben wir die Welt beim Schreiben dieses Albums definitiv an einem viel dunkleren Ort vorgefunden und ich denke, das kommt beim Songwriting zum Ausdruck. In „The Reckoning Dawn“ steckt eine Aggressivität, die sich vielleicht seit „The Ghost Of Heritage“ und „The Mercian Sphere“ nicht mehr in unserem Sound manifestiert hat.

Auch der Album- und die einzelnen Songtitel wirken ein Stück wütender als es zuvor bei euren Alben der Fall war. Schlägt sich dieser Zorn deiner Ansicht nach auch in den lyrischen Themen der Platte nieder?
Ohne Frage herrscht auf „The Reckoning Dawn“ sicherlich eine viel wütendere Stimmung. Die Menschheit steht vor vielen Herausforderungen und braucht eine Art große Abrechnung, eine Abrechnung, von der wir meinten, dass sie eine metaphorische Abrechnung sein müsse, entweder des Geistes, da dieser Krieg der Ideen, den wir in der Welt um uns herum in der Gesellschaft vor uns sehen, gewonnen oder verloren wurde, oder vielleicht sogar eine physische Abrechnung, bei der wir vielleicht sogar sehen, dass zivile Unruhen zu einer Lösung oder Veränderung in der Welt führen. Wir scheinen uns in einer sehr ungewissen Zeit der Geschichte zu befinden.

Die Platte wirkt auch etwas vielfältiger ist als eure früheren Alben. War es euch beim Schreiben ein Anliegen, euch stilistisch ein bisschen mehr zu öffnen?
Ich denke, wie ich bereits in einer früheren Antwort erwähnt habe, dadurch dass mit Dan und Mark zwei verschiedene Songwriter in WINTERFYLLETH hinzugekommen sind, haben sie auf natürliche Weise ihre eigenen Stile und Einflüsse hinzugefügt, um das zu ergänzen, was bereits einen stark identifizierenden Klang hatte, den WINTERFYLLETH meiner Meinung nach hat, also war es eine ganz natürliche Sache. Ich denke, „The Reckoning Dawn“ ist sicherlich eine Verbesserung unseres Sounds, es klingt immer noch wie eine Platte von WINTERFYLLETH, ist aber eine Weiterentwicklung in eine Richtung, zu der wir musikalisch bestimmt sind.

Mit „A Hostile Fate“ habt ihr der Song-Trilogie „The Wayfarer“ von eurem zweiten Album „The Mercian Sphere“ (2010) einen vierten Teil hinzugefügt. Wie kam es dazu, dass ihr diese Songreihe nach so langer Zeit wieder aufgegriffen habt?
Chris hatte die ersten Elemente für „Part 4“ eigentlich schon im Jahr 2010 hervorgebracht, als wir „The Mercian Sphere“ kreierten, aber es fühlte sich nicht wie der richtige Zeitpunkt an, ihn zu verwenden, da er auf einer ähnlichen Akkordfolge wie „Part 1“ basiert. Nachdem wir viele Jahre lang mit dieser Liedidee gespielt hatten, haben wir sie schließlich für dieses Album so umgesetzt, dass sie die Ideen der ursprünglichen Songtrilogie wieder aufgreift, aber auf ehrfürchtige Weise, und auf einige der ursprünglichen Gesangsmotive zurückgreift, um die Lieder miteinander zu verbinden. Es gibt auch tatsächlich einen akustischen „Part 5“ im Handlungsbogen, den wir für dieses Album noch nicht ganz fertiggestellt haben. Das wird höchstwahrscheinlich auf dem nächsten Release zu hören sein.

Soweit ich das richtig sehe, ist in der Deluxe-Version auch eine Synth-Version von „In Darkness Begotten“ mit einem anderen Titel enthalten. Geht dies auf Dan Capps vereinzelte Dungeon-Synth-Ausflüge mit Wolcensmen zurück oder seid ihr aus anderem Grund auf die Idee für diese Alternativ-Version gekommen?
Lustigerweise wurde dieses Stück von Mark, unserem Synthesizer-/Keyboardspieler, komponiert, der sich, wie wir alle, auch sehr für Ambient-Synth-Musik interessiert. Wir alle hören und sammeln diese Art von Musik seit den Anfängen des Black Metal. Es war also eine ganz natürliche Entscheidung, ein Stück in diesem Stil zu machen. Es ist etwas, das wir schon eine Weile lang machen wollten, aber es musste korrekt und aus den richtigen Gründen gemacht werden, nicht nur um eines Synthesizer-Tracks willen. In diesem Fall war es in Form einer Ambient-Version des letzten Titels auf dem eigentlichen Album, „In Darkness Begotten“.

Ihr plant, im Herbst mit Panopticon und Alda auf Tour durch Europa zu gehen. Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass diese Tour trotz der aktuellen Pandemie stattfinden können wird?
Es scheint in der Tat so, als ob es im Moment nicht in unserer Hand liegt. Wir hoffen natürlich, dass die Tour noch in diesem Jahr stattfindet, aber es wird davon abhängen, wie es mit den Pandemieeinschränkungen weitergeht und wie realistisch es ist, dass die Tour zu diesem Zeitpunkt stattfinden kann. Wenn sie dieses Jahr nicht stattfindet, wird sie verschoben. Austin und Panopticon sind sehr alte und enge Freunde von uns, daher wird es ein Vergnügen sein, mit ihnen auf Tournee zu gehen.

Ihr musstet zudem bereits eine Tour mit Mork verschieben. Wie schwer träfe es euch, wenn die Herbst-Tour doch ebenfalls ausfallen oder verschoben werden müsste?
Es wäre auf jeden Fall eine große Enttäuschung, aber das ist etwas, mit dem jeder zu kämpfen hat. Wir alle sitzen im selben Boot, und wie ich bereits erwähnt habe, liegt es nicht in unserer Hand, also müssen wir einfach abwarten, was passiert.

Gibt es bereits Pläne für spätere Termine für die Tour mit Mork?
Es sollte bald Neuigkeiten dazu geben, aber ja, sie wird auf Mai 2021 verschoben. Mork ist eine großartige Band, die wirklich die Essenz wahren norwegischen Black Metals in ihrem Herzen trägt.

Viele Bands behelfen sich aktuell mit virtuell gestreamten Shows. Hältst du das für sinnvoll?
Es ist sicherlich eine nette Sache, wenn die Leute sich so etwas ansehen können, während sie eingesperrt sind. Leider waren wir aufgrund der Beschränkungen in Großbritannie zu dem Zeitpunkt, in dem ich das hier schreibe, nicht in der Lage, selbst eine solche Maßnahme im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von „The Reckoning Dawn“ zu ergreifen, was frustrierend ist, vor allem, wenn man bedenkt, dass wir in diesem Moment durch Europa hätten reisen sollen, um das Album vorzuführen. Mir persönlich hat die gestreamte Performance unserer alten Freunde in Enslaved sehr gefallen.

Außerdem haben einige Künstler auch die Release-Termine ihrer Alben verschoben, um sie später zeitnah live präsentieren zu können. Warum habt ihr euch trotz allem dazu entschieden, „The Reckoning Dawn“ wie geplant zu veröffentlichen?
Es ist wichtig für uns als Band, diese Gelegenheit zu nutzen, um das Album trotzdem herauszubringen und den Leuten vielleicht ein wenig Freude oder Hoffnung zu bringen, in einer ziemlich frustrierenden und trüben Zeit. Es machte für uns keinen Sinn, das Album hinauszuzögern, wenn es bereits produziert ist und wir es möglicherweise als Werkzeug für etwas Gutes verwenden können. Ich weiß, dass es für viele Leute, während sie im Haus eingeschlossen sind, von Interesse war und ich denke, deshalb wollten wir es so machen. Ob das kommerziell die richtige Entscheidung war oder nicht, wird sich erst noch zeigen, aber darum geht es jetzt nicht, und ich hoffe, dass unsere Fans unsere neuen Alben unabhängig von der Situation anhören und kaufen wollen. Hoffen wir also, dass wir Recht hatten.

Die aktuellen Einschränkungen haben das alltägliche Leben vieler auf noch nie dagewesene Weise verändert. Denkst du, dass die Erfahrungen mit dieser Situation – insbesondere mit der Isolation – womöglich sogar für neue kreative Impulse sorgen könnten?
Ich denke, sie zwingt viele Menschen in vielerlei Hinsicht aus ihrer Komfortzone heraus, also ja, ich denke, es wird sich auf jeden Fall positiv auf die Kreativität der Menschen auswirken, auch wenn sich das durch diese negative Situation manifestiert.

Auf Metal1.info beenden wir Interviews traditionell mit einem kurzen Brainstorming. Was fällt dir zu den folgenden Begriffen ein?
Leben nach dem Brexit: Ein neuer Morgen
Bandcamp: Nützlich
Ulver nach „Nattens Madrigal“: Brilliant
Pagan Metal: Zu oft unaufrichtig und eine bloße Parodie bzw. Rollenspiel.
Naturromantik: Wahre Spiritualität.
Andrzej Sapkowskis „The Witcher“: Hab ich nicht gesehen!

Ich danke dir nochmals dafür, dass du dir hierfür Zeit genommen hast. Die letzten Worte würde ich gerne dir überlassen:
Passt auf euch auf und hinterfragt immer alles!

Publiziert am von Stephan Rajchl

Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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