Interview mit Yurii Kazarian und Andrii Pechatkin von White Ward

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Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist in Europa in nahezu sämtlichen Lebensbereichen spürbar – auch in der Musikbranche. Nur wenige Metal-Bands sind vom Kriegsgeschehen jedoch so unmittelbar betroffen wie die ukrainischen Jazz-Black-Metaller WHITE WARD, die in ihrer Social-Media-Präsenz keinen Hehl daraus gemacht haben, wie die Kampfhandlungen sich in ihrem Umfeld ausgewirkt haben. Die Band lässt sich jedoch nicht unterkriegen und so dreht sich das folgende Interview mit Yurii Kazarian und Andrii Pechatkin nicht bloß um den Krieg, sondern auch um die interessanten Hintergründe ihres aktuellen Albums „False Light“ und um ihren Standpunkt bezüglich rechtsextremer Umtriebe im Black Metal.

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Hallo! Danke, dass ihr euch die Zeit für dieses Interview nehmt. Die Frage, ob es euch gutgeht, ist angesichts der aktuellen Umstände wohl redundant. Was aber gewiss viele Fans sich fragen: Wie kommt ihr zurecht und seid ihr derzeit halbwegs in Sicherheit?
Yurii: Hallo. Nun… es ist schon fast neun Monate her, dass die Russen offen in die Ukraine einmarschiert sind und ein ausgewachsener Krieg begonnen hat, also haben sich einige Dinge ein wenig verändert.
Ich denke, du weißt, dass die Ukraine die Russen in der Schlacht um Kiew besiegt und sie vor einiger Zeit zum Rückzug von der Schlangeninsel in der Nähe von Odessa und sogar von Cherson gezwungen hat, sodass unsere Städte jetzt ziemlich weit von der Frontlinie entfernt sind. In diesem Fall können wir sagen, dass wir relativ sicher sind. Relativ – denn es besteht immer noch die Gefahr von Raketen- oder Drohnenangriffen und es besteht immer die Möglichkeit, durch russische Langstreckenraketen zu sterben. Aber weißt du… wir haben uns von dem anfänglichen Schock erholt und wir wissen bereits, wie wir damit leben können, denn das ist jetzt unsere Realität. Die Menschen leben weiter, arbeiten, gehen in Bars, spielen Konzerte usw. Jemand könnte fragen: „Wie kann man im Krieg Spaß haben und das Leben genießen?“, aber die Menschen sollten verstehen, dass wir weiterleben müssen, um die Wirtschaft, die Armee und uns gegenseitig zu unterstützen. Denn die Menschen sollten effektiv sein, nicht deprimiert und apathisch. Aber natürlich sollte man gleichzeitig daran denken, was jetzt passiert und wofür wir kämpfen.
Auch für uns als Musiker ist es sehr wichtig, dass wir jetzt wieder die Möglichkeit haben, live zu spielen, dank unserer tapferen Krieger, die weiterhin unser Land und die Gefallenen schützen oder befreien.

Der aktuell tobende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht die erste Aggression Putins gegen euer Land – dennoch waren viele überrascht, als es zum Krieg kam. Wie akut habt ihr diese Bedrohung in den letzten Jahren wahrgenommen?
Yurii: Ehrlich gesagt hätte fast niemand gedacht, dass die Russen so verrückt und grausam sein könnten, dass sie es wagen, im 21. Jahrhundert mitten im europäischen Kontinent einen absoluten Krieg anzufangen. Wir haben verstanden, dass sie unsere Feinde sind, dass sie weiterhin Stellvertreterformationen der „LNR“ und „DNR“ einsetzen werden, um die Ukraine daran zu hindern, sich richtig zu entwickeln. Das dachten wir uns, denn das ist eine Lieblingsmethode Russlands – man denke nur an Transnistrien, Abchasien, Ossetien usw. Im Donbass hörten 2015 fast alle aktiven Kämpfe auf und ab diesem Zeitpunkt lebten die meisten Menschen einfach ihr Leben und dachten kaum noch an den Konflikt. Wir haben einfach nicht geglaubt, dass dieser Krieg so möglich sein könnte.
Ich begann im Dezember 2021, die Situation zu verfolgen. In den letzten zwei Wochen vor der Invasion war die Atmosphäre sehr angespannt und nicht gerade ruhig. Ich versuchte, mich zu beruhigen und wiederholte Argumente, warum es nicht passieren kann, aber irgendwo tief in meinem Bewusstsein verstand ich, dass es von Tag zu Tag beginnen könnte. Und ja, am 24. Februar bin ich durch die Explosionen aufgewacht und unser Leben hat sich für immer verändert.

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Was denkt ihr über die bisherigen Reaktionen des Westens – der Staaten einerseits und der Zivilbevölkerung andererseits?
Yurii: Das ist eine sehr schwierige Frage, auf die es keine genaue Antwort gibt. Kurz gesagt – natürlich sind wir absolut dankbar für alle Länder, die uns unterstützen: USA, Polen, Großbritannien, Deutschland, Tschechien, die baltischen Länder und viele andere. Jede Hilfe, ob militärischer, wirtschaftlicher oder humanitärer Art, ist unbezahlbar und wir wissen das zu schätzen. So haben beispielsweise allein die 16 HIMARS-Systeme, die der Ukraine von den USA gespendet wurden, die Situation auf dem Schlachtfeld wirklich verändert. Eine solche Hilfe kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Gleichzeitig hatten und haben wir natürlich einige Fragen zu den Positionen einiger Länder oder ihrer Führer. Aber ich verstehe, dass die Geopolitik ein sehr komplizierter Scheiß ist und dass es viele Länder gibt, die ihre eigenen Interessen haben und nicht so schnell radikale Entscheidungen treffen können.
Das Gleiche gilt für die Zivilgesellschaft – fast alle Menschen unterstützen uns auf unterschiedlichste Weise. Aber natürlich sehen wir manchmal Leute, die über irgendeinen Scheiß reden, der von russischer Propaganda inspiriert ist, oder einige Leute verstehen einfach den Kontext und die wahre Bedeutung dieses Krieges nicht und können etwas Verletzendes oder Unangenehmes zu den Ukrainern sagen, die jetzt alles durch das Prisma der Kriegsrealität wahrnehmen. Aber im zweiten Fall verstehen wir, dass wir versuchen sollten, uns an die eigene Nase zu fassen und einen friedlichen Dialog zu führen, damit die Menschen verstehen, was jetzt wirklich passiert, um mögliche zukünftige Missverständnisse zu vermeiden.

White Ward - False Light CoverKommen wir nun auf euer neues Album zu sprechen: Ihr thematisiert darauf eine außergewöhnlich breite Palette an Missständen. Besteht da nicht die Gefahr, dass man der Komplexität der einzelnen Themen nicht hinreichend Rechnung tragen kann oder dass die Botschaften nicht deutlich genug bei den Zuhörenden ankommen?
Andrii: Ich denke bei der Arbeit an meinen Texten nie an die Hörer. Und unser Ziel ist es nicht, jemanden zu beeindrucken oder zu überreden. Ich hebe nur Themen hervor, die mir wichtig sind. Es ist eine Art von Informationsmanagement und Systematisierung, die mir hilft, alles in meinem Kopf zu ordnen. Die Texte sind nur eines der Ergebnisse dieses Prozesses. Genauso wie die erklärenden Teile dieser Texte. Ich denke, es wäre cool, wenn jemand meine Texte so versteht, wie sie gemeint sind, aber das ist nie das Hauptziel.
Außerdem können die Leute meine Texte interpretieren, wie sie wollen. Ich gebe zusätzliche Gedanken zu jedem Lied zusammen mit möglichen Erklärungen an. Obwohl sie sehr einfach erscheinen, kann jeder selbst entscheiden, welche Informationen er akzeptiert, welche Bedeutungen er entschlüsselt und wie er gängige Wörter und Sätze interpretiert. Das Konzept „ich erreiche unsere Zuhörer mit meinen Botschaften nicht“ gibt es also nicht. Es gibt keine Botschaft, die jemanden erreichen „sollte“. Es gibt keinen bestimmten „Empfänger“ für diese Botschaft.
Ich gebe auch nicht vor, eine wertvolle Botschaft zu schaffen, denn alle meine Gedanken und Worte sind zweitrangig im Vergleich zu den Quellen, die mich inspirieren. Es ist viel effizienter und nützlicher, nach bestimmten Botschaften in den Büchern zu suchen, die ich lese, als in meinen Texten.

Was ist das „falsche Licht“ von dem im Albumtitel die Rede ist?
Yurii: Es ist eine Metapher für die Hauptidee des Albums – der Protagonist verlässt eine Megapolis auf der Suche nach einem besseren Leben in einer ländlichen Gegend, findet aber nur eine weitere Schicht von Problemen und Lastern der menschlichen Gesellschaft.

Eure Musik ist nicht gerade als fröhlich oder optimistisch zu bezeichnen. Kann man aus eurer Sicht trotzdem etwas Positives oder zumindest Tatendrang aus „False Light“ schöpfen – oder ist der Kampf gegen die von euch besungenen Probleme zum Scheitern verurteilt?
Andrii: Es scheint, dass die Welt extrem flexibel ist, wenn man sie mit dieser Bedingung ausstattet. Selbst jetzt, wo jeden Tag Dutzende von Raketen explodieren und Hunderte von Menschen sterben, gibt es immer noch etwas Positives, das außerhalb und innerhalb deines Kopfes passiert. Alles, was mir nach dem 24. Februar widerfahren ist, hat mich gelehrt, dass ich jede Sekunde meines Lebens schätzen sollte. Diese strengen und tödlichen Bedingungen haben mein Leben völlig verändert. Finde ich etwas Positives in „False Light“? Ja, natürlich! Das Album widmet sich nur einer Reihe von schrecklichen Taten, die in der Handlung vorkommen. Gleichzeitig zeigt es deutlich, dass einige negative Dinge, mit denen wir leben, tief in unserer Vergangenheit verwurzelt sind. Um sie zu beheben, müssen wir von Zeit zu Zeit zurückblicken und die Fehler korrigieren. So funktioniert einfach alles. Das ist weder gut noch schlecht. Jeder ist dafür verantwortlich, ob es einem gefällt oder nicht.
Aber auf globaler Ebene wird die Zahl der Probleme immer größer. Haben wir noch eine Chance, das zu ändern? Darauf habe ich keine Antwort. Ich weiß nur, dass wir alle unsere Ressourcen für den Versuch einsetzen sollten, die immer größer werdende Katastrophe zu beheben. Wenn wir das nicht tun, wird sie tatsächlich eintreten.
Wenn es jedoch passiert (es passiert bereits im Leben von Millionen von Ukrainern), werde ich versuchen, selbst im schlimmsten Fall etwas Gutes zu finden.

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Laut der Bandcamp-Beschreibung prangert ihr auf dem Album auch die „Falschheit der modernen Mainstream-Kultur“ an. Was genau meint ihr damit? Und ist Popkultur aus deiner Sicht wirklich durch und durch schlecht?
Andrii: Die Popkultur ist weder schlecht noch gut. Sie existiert nur mit einer Reihe von besonderen Merkmalen. Ich meine die globale Kultur, die alles umfasst, von der Art und Weise, wie wir uns in der Öffentlichkeit verhalten, bis hin zu den Kunstwerken, die wir schaffen. Mit der Falschheit der modernen Mainstream-Kultur meine ich den Drang der Menschen zum Überkonsum. Das ist eine wahrhaft zerstörerische Kraft, die uns eines Tages unseren natürlichen Lebensraum nehmen könnte, ganz zu schweigen von Tausenden anderer Arten, die aufgrund verschiedener menschlicher Aktivitäten bereits verschwunden sind.
Mit der Falschheit der modernen Mainstream-Kultur meine ich die Unfähigkeit der Menschen, ehrlich zu sich selbst zu sein und infolgedessen mit innerer Harmonie und Frieden zu leben. Vielleicht ist dies ein allgemeiner menschlicher Zustand für alle vergangenen Generationen. Aber wir sind wirklich schuldig, weil wir es nicht geschafft haben, etwas daraus zu machen.
Mit der Falschheit der modernen Mainstream-Kultur meine ich die Unfähigkeit der Menschen, in Harmonie mit der sie umgebenden Welt, einschließlich anderer Individuen und natürlich der Natur, zu leben. Wir werden jedoch nicht in der Lage sein, mit der Welt um uns herum in Frieden zu leben, wenn wir nicht innerlich Frieden finden.

Weiters soll das Album von Mykhailo Kotsubinskys Roman „Intermezzo“ inspiriert worden sein – ein Buch, das vielen vermutlich kein Begriff ist. Was könnt ihr uns über den Roman erzählen und inwiefern nehmt ihr in euren Songs Bezug darauf?
Andrii: Das gesamte Album basiert teilweise auf der Idee des Romans. Der lyrische Held ist des Lebens in der Stadt überdrüssig und flieht an einen ruhigeren und glücklichen Ort, wo er Ruhe sucht und versucht, die Harmonie wiederherzustellen. Das war’s. Der Autor macht sich viele Gedanken über die negativen Auswirkungen des städtischen Umfelds, in dem er lebt, und beschreibt, wie ländliche Gegenden seine Stimmung und Verzweiflung heilen. Wunderschöne Gedanken. Atemberaubende Sprache. Hervorragende Wahrnehmung. Ich denke, man sollte Muttersprachler sein, um zu verstehen, was ich meine.

Auch Jack Kerouac und Carl Jung sollen euch bei der Entstehung des Albums beeinflusst haben. Bitte beschreibt kurz, worin sich dieser Einfluss jeweils äußert.
Andrii: „Salt Paradise“ ist ein Wortspiel, das sich auf Sal Paradise aus Kerouacs „On The Road“ bezieht. Wie die Hauptfigur des Romans begibt sich auch unser Erzähler auf eine Reise, aber es ist eine ganz andere Geschichte, die nichts mit dem berühmten Buch gemein hat.
„Silence Circles“ handelt von familiärem Missbrauch und berührt Carl Jungs Ideen des kollektiven Unbewussten: die Anima und der Animus als die unbewusste weibliche Seite eines Mannes bzw. die unbewusste männliche Seite einer Frau. Man kann keine stabile Psyche haben und ein gesundes Leben führen, wenn man seine unbewusste weibliche oder männliche Seite unterdrückt. Während der Songtext klar zum Ausdruck bringt, dass familiärer Missbrauch eine schreckliche Sache ist und wir ihn verhindern oder melden sollten, wenn er passiert, geht es in dem Lied auch darum, die unbewussten Aspekte des Selbst zu akzeptieren.
Ich habe viele Werke von Jung gelesen, daher finden sich in meinen Texten vielleicht mehr Stücke, die unter seinem Einfluss stehen und die ich unbewusst eingefügt habe.

White Ward - Love Exchange FailureVisuell ist „False Light“ mit deinem ruralen, hellen und Verfall zeigenden Coverbild exakt das Gegenteil von „Love Exchange Failure“ mit seiner nächtlichen, urbanen und aufpolierten Optik. Was hat es mit diesem Kontrast auf sich?
Yurii: Wir haben bereits über die Idee gesprochen, aus einer Megapolis an einen ländlichen Ort zu fliehen, und für das Designkonzept war es dasselbe. Wir haben versucht, diesen Kontrast zu zeigen und von der mitternächtlichen Megapolis in trockene, ländliche Gefilde zu wechseln, ohne dabei das Neo-Noir-Gefühl zu verlieren. In diesem Fall ist die Ästhetik des Artworks also direkt mit dem lyrischen Konzept verbunden.

Man kann aus euren Songs einen großen Frust über viele Aspekte des modernen Lebens heraushören. Viele andere Bands, die dem Black Metal nahestehen, wenden sich aus demselben Grund der Vergangenheit zu und ziehen Inspiration aus alten Traditionen und Folkmusik. Was denkt ihr über diesen Ansatz?
Yurii: Wenn wir in unserem Fall von der Frustration über das moderne Leben sprechen, bedeutet das nicht, dass wir die Vergangenheit verherrlichen. Ich bin mir absolut sicher, dass das moderne menschliche Leben und die Existenz in vielen Aspekten viel besser ist als das Mittelalter, selbst in so banalen Dingen wie der Medizin oder der sozialen Gleichheit zum Beispiel. Für mich besteht die Frustration im modernen Leben eher darin, wie die Menschheit den technischen Fortschritt oder die so genannten Güter der Zivilisation nutzt. Natürlich gibt es viele Beispiele dafür, wie sie richtig genutzt werden, aber es gibt auch viele Beispiele dafür, wie Menschen selbst die großartigsten Dinge pervertieren und sie für ihre egoistischen Zwecke nutzen, für Gewalt, Lügen, Versklavung, Kontrolle und Kriege.
Diese Frustration ist so, wie wenn man die utopische Zukunft aus dem Traum der 19er und frühen 20er erwartet, aber eine Huxley’s „Brave New World“ erhält, um einen maximalistischen Vergleich zu verwenden.
Wenn du dich für das Thema der Frustration im modernen Leben interessierst, kannst du auch einige Werke von Erich Fromm lesen. Er schrieb über die Hoffnung, dass die industrielle Revolution die Menschheit glücklich machen würde, aber auch das war eine Fiktion, und der unbegrenzte Konsum hat der Menschheit nicht geholfen, glücklich zu werden.
Was den Black Metal und andere Bands angeht, die sich der Vergangenheit zuwenden, so denke ich, dass es sich in den meisten Fällen um eine Romantisierung handelt. Zum Beispiel ist das Thema Mittelalter im Black Metal sehr beliebt: All diese Geschichten über tapfere Ritter, heroische Schlachten, Stolz und Ehre, alte Traditionen usw. Das ist alles sehr schön und interessant, hat aber nicht viel mit dem Leben eines durchschnittlichen Bauern im Mittelalter zu tun. Alle mittelalterlichen Traditionalisten sollten aufhören zu träumen und sich klarmachen, dass sie, wenn sie im Mittelalter geboren wären, höchstwahrscheinlich keine Ritter in glänzender Rüstung, sondern Bauern wären, und es wäre ein großes Glück, wenn sie das Alter von 40 Jahren erreichen und nicht an der Pest oder einer anderen Infektion sterben würden.
Natürlich können wir in einigen Fällen wirklich schöne Dinge aus der Vergangenheit finden: eine engere Verbindung mit der Natur, verschiedene alte Philosophien, Praktiken und Rituale, die für die geistige Gesundheit und das Verständnis verschiedener Prozesse sehr nützlich sein können, zum Beispiel. Oder Kunst (du hast Folkmusik erwähnt), die wirklich aufrichtig war und nicht durch den kapitalistischen Wunsch, damit Geld zu verdienen, verdorben wurde. Aber auch hier geht es nicht um ein normales altes Leben.
Ich denke also, dass es sich in den meisten Fällen nur um eine Romantisierung handelt, und es ist nicht schlecht, sich auf diese Weise inspirieren zu lassen – wir müssen nur das wahre Bild der Vergangenheit verstehen, um uns nicht in die Irre zu führen und Illusionen zu schaffen.

Stilistisch probiert ihr auf dem Album abermals ein paar neue Sachen aus: Mit „Salt Paradise“ gibt es eine spröde Akustiknummer, man hört öfter Einflüsse aus Post-Punk und auch ein paar neue Sounds wie etwa zu Beginn von „Phoenix“. Was ist für euch das Bindeglied, das all diese unterschiedlichen Klänge zusammenhält?
Yurii: Ich sehe ein Album wie einen mehrteiligen Film, bei dem alle Teile durch ein Konzept und eine Idee verbunden sind, aber gleichzeitig handelt jeder Song von verschiedenen Aspekten dieser ganzen Geschichte. Dasselbe gilt für die Musik: Ich habe versucht, den allgemeinen Soundstil beizubehalten und gleichzeitig verschiedene Instrumente und Effekte während des gesamten Albums zu verwenden, um Abwechslung zu schaffen und dieses Soundabenteuer wirklich interessant zu machen. Das war nicht einfach und manchmal auch etwas herausfordernd, aber das ist unser Ziel, denn in unserer Musik geht es um Vielfalt und einen möglichst freien Zugang zur Musik.

Die Übergänge zwischen diesen unterschiedlichen Parts sind an manchen Stellen ziemlich abrupt. Was würdet ihr entgegnen, wenn jemand eure Songs deshalb als zu sprunghaft bezeichnen würde?
Yurii: Aus meiner persönlichen Sicht und Vorliebe sehe ich in abrupten Übergängen an sich kein Problem, aber das Wichtigste ist, wie diese Übergänge realisiert werden, denke ich. Denn selbst ein Hall- oder Delay-Ende (Feedback) oder eine Gitarrenrückkopplung, ein Gesangseffekt, was auch immer, kann in diesem Fall einen echten Unterschied machen. Ich denke, es ist wirklich schwierig, solche kleinen, aber sehr wichtigen Details richtig umzusetzen. Und in unserem Fall können nur die Hörer beurteilen, wie gut oder schlecht wir diese Aufgabe gemeistert haben. Wenn es jemandem nicht gefällt, dann ist das für uns in Ordnung, und vielleicht machen wir es beim nächsten Mal besser und dann wird es der Person endlich gefallen.

Gibt es stilistisch noch etwas Bestimmtes, das sich bei euch bisher noch nicht ergeben hat und das ihr gerne in Zukunft noch ausprobieren würdet?
Yurii: Vielleicht ein paar traditionelle ukrainische Musikinstrumente zu verwenden. Oder einige Experimente mit Chorgesang. Und wer weiß, was uns morgen in den Sinn kommt. Die Zeit wird es zeigen.

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Ihr habt euch vor einiger Zeit in einem Social-Media-Posting explizit von Rechtsextremismus distanziert. Leider ist diese Ideologie in Black-Metal-Kreisen weit verbreitet und die meisten Labels – darunter auch Debemur Morti – haben zumindest ein paar zweifelhafte Bands in ihren Reihen. Ohne euch einen Vorwurf machen zu wollen: Wie geht ihr persönlich mit diesen Tendenzen um?
Yurii: Ich bin mir nicht sicher, ob es heutzutage irgendwelche Tendenzen mit rechtsgerichteten Bands gibt. Es gab sie schon immer, seit Anfang der 90er Jahre, als der Black Metal anfing, sich in der Welt zu verbreiten: Einige Bands benutzten einfach ein paar Symbole oder Wörter, um „wütender“ auszusehen (wir erinnern uns an „Norsk Arisk Black Metal“), andere waren wirklich ernsthafte Nazis. Aber heutzutage haben wir einfach das Internet und jeder kann metalarchives.com, Interviews, Fotos, soziale Medien von Musikern usw. überprüfen, sodass es jetzt einfacher ist, solche Bands zu finden und die möglichen persönlichen Ansichten und Interessen der Bandmitglieder zu überprüfen. Ich glaube also nicht, dass es mehr rechtsgerichtete Bands oder Musiker gibt als vor zehn oder 20 Jahren.
Aber jetzt gibt es andere Tendenzen – jeder kann jeden für alles beschuldigen und das in die Öffentlichkeit tragen, was zu sehr schlimmen Folgen führen kann. Und ich meine nicht, dass echte Nazi-Bands oder jemand, der echten Scheiß macht oder redet, nicht verurteilt werden sollte, also lass mich das erklären. Ich denke, das ist heutzutage ziemlich wichtig, weil es auch uns berührt hat.
Was denkst du, ist es nicht Extremismus, wenn einige Leute versuchen, jemanden ohne ernsthafte Recherche zu beschuldigen und seine Karriere zu zerstören, was zum Beispiel Depressionen oder sogar Selbstmord verursachen kann? Ich persönlich beurteile Menschen nach ihren aktuellen realen Handlungen und Worten und wenn ich mir absolut sicher bin, dass es wahr ist, nicht danach, wo sie gespielt haben oder welches T-Shirt sie vor zehn Jahren getragen haben. Es ist eine sehr schlechte Idee, Menschen aufgrund solch oberflächlicher Dinge zu beurteilen und sie zu „bestrafen“ – manchmal kommt das einem Lynchmob gleich. Wir sollten uns immer wieder klarmachen, dass es nicht viel wirklich „schwarz oder weiß“ gibt, sondern eine Menge „grau“, besonders in solchen Underground-Gemeinschaften wie der Black-Metal-, Industrial- oder Neo-Folk-Szene. Wenn du aus der sogenannten „true“ Black-Metal-Szene kommst, ist es gut möglich, dass du jemanden mit rechtsextremen Ansichten über eine oder zwei Ecken kennenlernst. Sogar in meinem Fall fanden einige „Hexenjäger“ irgendeinen über zehn Jahre alten dummen und absolut nicht ernstzunehmenden Scheiß über mich und WW aus der Zeit, als ich ein 15-jähriger Teenager war, und hier sind wir – WHITE WARD wurden bereits als Nazis beschuldigt und es reichte fast aus, um unsere Show in Belgien abzusagen. Diese Leute waren nicht an meinen aktuellen Ansichten interessiert und haben nicht einmal versucht, von uns Erklärungen zu bekommen, um die Fakten zu überprüfen. Ein weiteres leuchtendes Beispiel ist Bölzer: Die Leute beschuldigten Okoi als Nazi, nur weil er ein altes heidnisches Swastika-Tattoo hatte, und dann stellte sich heraus, dass der Vater von Okoi zur Hälfte Nigerianer ist. Eine absurde Situation, findest du nicht auch?
Außerdem gibt es bei unserem Label keine einzige Band, die die Rechte anderer verletzt, Grausamkeit, Intoleranz oder irgendetwas anderes propagiert, das die Freiheit und Gleichheit der Menschen angreift. Außerdem gibt es auf unserem Label einige Bands, die offen antifaschistisch sind und/oder Minderheiten vertreten. Und ich kenne die Ansichten von Phil (DMP-Chef) und ich bin damit völlig einverstanden.
Wenn wir schon von mir sprechen, dann lasst uns meine Position in diesem Interview festigen. Ich habe klare rote Linien, wenn es um Weltanschauung oder Ideologie geht, und die sind sehr einfach: Ich lehne Ideologien ab, die jede Form von körperlicher oder geistiger Gewalt, Autoritarismus und Vorherrschaft als Instrument oder Grundlage der Ideologie/Bewegung einsetzen. Ich bin sicher, dass all diese Dinge immer noch mehr Gewalt und Leid mit sich bringen. Wir leben in einer Epoche der Demokratie, sodass die Hauptwaffe und das Schlachtfeld das Wort und die Diskussion sind – friedlich und konstruktiv. Wir alle können unterschiedliche politische, wirtschaftliche und soziale Ansichten haben, aber nur in einer konstruktiven Diskussion können wir Lösungen finden, die zu Fortschritt und Verbesserung unserer Gesellschaft führen. Aber leider funktioniert das z.B. beim Faschismus nicht: Wenn jemand dich versklaven, foltern, was auch immer, auf gewaltsame Weise will, dann solltest du dich wehren – in diesem Fall ist es Selbstverteidigung. Deshalb fordern wir von unseren Verbündeten mehr Waffen für den Kampf gegen Russland.
Was den Radikalismus betrifft, der Gewalt in jeder Form bedeutet, so denke ich, dass er von Menschen verursacht wird, die psychische Probleme haben, die zu Grausamkeit und Sadismus (körperlich oder geistig) neigen, und der Seite, der sie sich angeschlossen haben – links oder rechts – es ist eher ein Zusammentreffen von Umständen. Hitler, Putin, Stalin, Hussein – all diese Menschen hatten/haben unterschiedliche politische Richtungen und Ideen, aber sie alle waren der Meinung, dass Gewalt und Macht der Schlüssel sind.
Abschließend möchte ich sagen, dass dieses Thema sehr schwierig und breit gefächert ist, sodass ich nicht glaube, dass ich alle meine Positionen in diesem Interview erklären kann, denn vielleicht brauche ich spezifischere Fragen. Nur eines kann ich dir mit absoluter Sicherheit sagen: Wenn deine Ideen auf Gewalt und Macht beruhen, werden wir keine Freunde von dir sein.

Wie wird es mit WHITE WARD nun weitergehen?
Yurii: Wir planen, einen Song in ukrainischer Sprache zu schreiben und zu veröffentlichen und dann mit der Arbeit an einem neuen Album zu beginnen. Außerdem planen wir eine Menge Gigs und Festivals, ein paar Touren. Bleibt dran und ihr werdet alles sehen!

Zum Abschluss noch ein kurzes Brainstorming – was kommt dir bei den folgenden Schlagworten in den Sinn?
Ukraine-Sieg beim ESC: Yurii: Nicht mein Ding, aber ich bin stolz auf sie.
Andrii: Ich habe keine Ahnung, was der ESC ist.
Fake News: Yurii: „Russia Today“
Andrii: False Light
Der Westen: Yurii: „The West Knows Best“ von Rome
Andrii: Karpaten
Improvisation: Yurii: Ich bin schlecht darin (lacht).
Andrii: Etwas, das wir in der Band nie machen.
Norwegische Shining vs. schwedische Shining: Yurii: Ich bin kein großer Fan von beiden, aber einige Songs von beiden Bands sind großartig.
Andrii: Ich erinnere mich an keine von beiden.
Deine letzte musikalische Neuentdeckung: Yurii: Vatican Shadow – Persian Pillars of the Gasoline Era
Andrii: Traditionelle Volksmusik der Huzulen

Vielen Dank für deine Antworten. Ich hoffe, ihr kommt weiterhin möglichst gut zurecht. Möchtest du noch ein paar letzte Worte an die Leserschaft richten?
Yurii: Ich danke dir für die ausführlichen Fragen und die Gelegenheit, unsere Position zu verschiedenen Fragen darzulegen.
Und danke, dass ihr die Ukraine unterstützt – wenn ihr uns unterstützt, unterstützt ihr die demokratische Zukunft, die Freiheit und das Ende des Totalitarismus.

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Publiziert am von Stephan Rajchl

Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
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