Interview mit Andrii Pechatkin & und Yurii Kazarian von White Ward

„Love Exchange Failure“ lautet der Titel des zweiten Albums der ukrainischen Avantgarde-Black-Metaller WHITE WARD. Was es mit dem Titel auf sich hat, woher die Dark-Jazz-Einflüsse kommen und warum die erst 2012 gegründete Band seit dem Debüt komplett umbesetzt wurde, berichten Bassist und Bandleader Andrii Pechatkin (AP) und Gitarrist Yurii Kazarian (YK) im Interview.

Personell hat sich bei WHITE WARD seit eurem Debüt „Futility Report“ (2017) viel getan. Wie kam das?
AP: Nun, die Leute sind oft unmotiviert und faul. Manchmal haben sie nicht genug Zeit und Konzentration. Einige von ihnen wollen mehr Aufmerksamkeit auf andere Dinge als die Band richten. Und es ist kein Geheimnis, dass jeder seine eigene Sicht der Dinge hat.  So verursachen viele verschiedene Dinge Konflikte und den Umstand, dass man nicht länger mit jemandem zusammenspielen kann. Die Geschichte hinter unserem Lineup ist sehr lang und dramatisch, aber gleichzeitig lustig. Es würde allerdings Stunden dauern, die Geschichte von jedem Mitglied zu erzählen, das die Band verlassen hat. Mit dem Material könnte man mehrere Staffeln einer mittelmäßigen TV-Show drehen. Aber das gehört hier nicht her. Ich kann nur sagen, dass wir mit dem aktuellen Lineup sehr zufrieden sind und hoffen, dass es sich nicht mehr ändern wird. Jetzt arbeiten wir mit sehr zuverlässigen Leuten zusammen, die gleichzeitig großartige Musiker mit dem richtigen Geschmack und der richtigen Vision dessen sind, was wir mit WHITE WARD tun.

Aber kannst du uns kurz die „neuen“ WHITE WARD vorstellen?
AP: Das neueste Mitglied ist Mykola [Jack, A. d. Red.] von Zoanthropy. Wer Post-Metal mag, sollte sich diese Band definitiv mal anhören. Er hat unseren ehemaligen Gitarristen Serhii ersetzt, der sich lieber auf sein Projekt Mother Witch & Dead Water Ghosts konzentrieren wollte.
Unser neuer Saxophonist heißt Dima [Dudko, A. d. Red.]. Man kennt ihn von seiner Arbeit mit Atomic Simao und PolyBrothers – eher psychedelischen Kraut-Rock-Bands. Dima ist kein gewöhnlicher Saxophonist: Er spielt noch mehrere andere Instrumente und experimentiert gerne mit unkonventionellen Klängen, indem er das Saxophon mit verschiedenen Effekten kombiniert.
Evgeny [Karamushko, A. d. Red.] kam kurz nach der Veröffentlichung unserer ersten Platte in die Band. Wir kannten uns schon lange. Nach dem Konflikt mit dem vorherigen Schlagzeuger habe ich ihm vorgeschlagen, der Band beizutreten und er hat zugestimmt. Evgeny hat WHITE WARD Brutalität und laute Blast Beats hinzugefügt – Elemente, die der Band zuvor gefehlt haben.
Jetzt sind wir auf der Bühne eine fünfköpfige Band und die neuen Mitglieder haben viel dazu beigetragen, dass WHITE WARD besser klingt und besser aussieht als je zuvor!

Welchen Einfluss hatte diese Umstrukturierung auf das Songwriting für “Love Exchange Failure”? Ihr habt jetzt sogar einen neuen Sänger, was ja immer ein gravierender Einschnitt ist …
YK: Ich könnte nicht behaupten, dass die anderen oder neuen Mitglieder ernstlich Einfluss gehabt hätten – seit es WHITE WARD gibt, habe ich den Großteil der Musik komponiert. Aber natürlich hat jedes Bandmitglied seine eigenen Ideen, seine Spiel- und Gesangstechniken und seinen eigenen Stil, insofern bleiben Veränderungen und Einflüsse nicht aus. Jeder, der Teil der Band war, hat einen Teil von sich dort zurückgelassen. Zum Beispiel wurden die Haupt-Vocals für “Love Exchange Failure” von Andrii eingesungen. Er hat einen “böseren”, aggressiveren Gesangsstil, aber es passt total zur Musik, weil meine Songs jetzt auch schneller und aggressiver sind. Auch Evgen, der Yurii Kononov als Schlagzeuger nachfolgte, hat eine eher Metal-affine Schlagzeugtechnik, die ebenfalls super zu unserer aktuellen Musik passt.

Das Cover eures Debüts sah sehr düster und naturverbunden aus, das aktuelle Cover hingegen wirkt sehr urban und kalt. Was war die Idee hinter dem neuen Artwork, was für eine Stimmung willst du damit transportieren?
YK: Das Cover von “Futility Report” war einfach ein wunderbares Bild, aber ohne eine bestimmte Idee dahinter. Das Gleiche galt für die Texte, es gab kein wirklich starkes Konzept. Das ist jetzt alles anders. Das Textkonzept von “Love Exchange Failure” hängt stark mit den Themen menschlicher Existenz in modernen, urbanen Umgebungen und den daraus resultierenden Problemen zusammen. Außerdem hat unsere Musik einen starken “neo-noir”-Vibe. Deswegen haben wir entschieden, dass ein kaltes, urbanes Foto diesmal perfekt zur Musik passt. Schau dir übrigens auch mal die anderen Arbeiten von Luke Pownall an! Er macht wirklich großartige Fotos!

Wie bereits erwähnt heißt das Album „Love Exchange Failure“ – worum geht es bei dem Konzept genauer?
AP: Die Idee hinter diesem Album ist es, die künstlichen Bedingungen zu veranschaulichen, die Menschen geschaffen haben, um sich der Natur zu widersetzen. Da wir weder ein separates Phänomen noch ein nachhaltiger Teil der Umwelt sind, haben wir uns zu einem ständigen Kampf gezwungen, der durch die Unfähigkeit verursacht wird, zu verstehen, wer wir sind und was unser Platz auf diesem Planeten ist.
Die von uns geschaffenen Bedingungen führen zu einem ständig steigenden Grad an Angst in den Köpfen der Individuen – und zugleich zu einem Mangel an Liebe. Unter dem Begriff „Liebe“ verstehen wir kein Gefühl in seinem primitiven Verständnis, sondern eine Eigenschaft, die uns hilft, in Harmonie mit uns selbst, anderen Menschen und der Welt um uns herum zu leben. Das Scheitern des Liebesaustausches („Love Exchange Failure“) führt zu einer unvermeidlichen Degradierung und Degeneration. Je mehr Hass wir auf die Menschen um uns herum schieben, desto tiefer fallen wir. Je blinder wir auf unserem täglichen Weg zur Arbeit sind, desto mehr Leiden hinterlassen wir.
Die Leute haben keine Zeit, miteinander zu reden. Darüber hinaus sind sie von Begierden besessen und schenken ihren Kindern nicht einmal genügend Aufmerksamkeit, sodass jede neue Generation mehr psychischen Problemen ausgesetzt ist. Blindheit, Gleichgültigkeit und häuslicher Missbrauch, Mobbing an Schulen, soziale Ablehnung und viele andere Faktoren führen zu zahlreichen Tragödien der Menschheit. Verursacht durch Einzelpersonen, sind das unsere eigenen Verbrechen.
Das Cover-Artwork zeigt eine Metropole – ein Symbol für diese künstlichen Bedingungen, die wir geschaffen haben. Die Menschen sind davon besessen, hier Geld zu verdienen und ihre Freizeit im Konsum zu verbringen. Mit dem Artwork und den Texten des Albums wollen wir die Aufmerksamkeit auf viele Probleme lenken, die die moderne Gesellschaft erzeugt. Natürlich sind viele von ihnen von früheren Generationen geerbt, aber mit jedem neuen Schritt, den wir im Anschluss an den Fortschritt gemacht haben, tauchen viele neue Probleme auf.

Bevor wir auf die Musik im Detail eingehen – wo siehst du die wesentlichen Unterschiede zum Vorgänger?
AP: Das neue Album unterscheidet sich von der Perspektive der Texte her völlig von seinem Vorgänger. Es hat ein Konzept und eine Handlung, alle Songs gehören zusammen, während es bei der Debüt-CD nur eine gemeinsame Welt gibt, die alles in der gleichen Atmosphäre vereint. Und es berührt keine tatsächlichen Probleme.  Aus musikalischer Sicht ist „Love Exchange Failure“ brutaler, aber gleichzeitig atmosphärisch fragil. Beide Extreme des Debütalbums werden hier auf ein völlig neues Niveau gehoben. Ein weiterer großer Unterschied besteht darin, dass wir „Love Exchange Failure“ in einem Studio mit einem professionelleren Ansatz aufgenommen haben, während die Arbeit an der Debüt-CD hauptsächlich zu Hause erledigt wurde. Das neue Album basiert also auf allem, was uns gefällt: Röhrenverstärker, die mit Hilfe von Mikrofonen aufgenommen wurden, akustische Pianos, analoge Keyboards und so weiter.

Wie würdest du „Love Exchange Failure“ in einem Satz beschreiben?
AP: Die eingehende Untersuchung des Bösen, das nicht mehr Hörner und Hufe hat, sondern die schmerzhaft vertrauten Züge eines jeden von uns aufweist.

Der Opener, aber auch „No Cure For Pain“ erinnert mich zunächst stark an die deutschen Doom-Jazzer Bohren und der Club Of Gore und deren Album „Sunset Mission“ – kennst du die Band, war das vielleicht sogar Absicht?
YK: „Sunset Mission“ ist seit vielen Jahren mein Lieblings-Dark-Jazz-Album, insofern ist es nicht verwunderlich, dass man im Intro von „No Cure For Pain“ einige Bohren-Vibes hört. Aber unsere Musik ist nicht nur auf die Vibes von Bohren und Der Club of Gore beschränkt. Der gesamte Dark Jazz hat darauf seine Auswirkungen: Für mich ist eines der ersten Dark-Jazz-Alben „Elevator To The Gallows“ – ein Filmsoundtrack von Miles Davis. Ich liebe diese langsamen, doomigen Reime mit klassischem Klavier und Rhodes sehr, also wollte ich es auch in unserer Musik verwenden.

Wie entstehen diese völlig unterschiedlichen Teile und welchen Unterschied macht es, Black Metal oder Doom Jazz zu komponieren?
YK: Für mich gibt es fast keinen Unterschied, welche Musik ich komponieren soll. Meistens benutze ich dafür die Gitarre. Vielleicht ist es seltsam, aber auch Klavierstücke sind aus Harmonien entstanden, die ich mir auf der Gitarre ausgedacht habe. Ich habe sie aufgeschrieben und dann versucht, sie auf einer Miditastatur zu spielen und zu diversifizieren. Dann wurden diese Teile von unserem Keyboarder Stanislav verbessert. Aber es gibt auch einen sehr interessanten und kreativen Sound-Such-Prozess für Dark-Jazz-Parts: Es braucht viel Zeit, um den richtigen Sound für Ambient-Synths und Samples zu finden und so zu einzufügen, dass er zur Musik und zur allgemeinen Atmosphäre passt.

Das Album vereint damit Ambient und Dark-Jazz-Elemente.
YK: Ich liebe und höre beide Musikrichtungen sehr gerne. Ich habe mich entschieden, Ambient-Elemente zusätzlich zu den Dark-Jazz-Parts zu verwenden, weil das der Musik wirklich viel mehr Atmosphäre verleihen und sie „kinematografischer“ machen kann.

Wie entstehen diese sehr langen, komplexen Songs? Arbeitest du hauptsächlich am PC oder im Proberaum an den Songs?
YK: Ich komponiere die gesamte Musik zu Hause mit Gitarre, Midi-Keyboard und PC. Musikkomposition ist für mich ein sehr intimer Prozess, der Einsamkeit und hohe Konzentration erfordert. Nur sehr selten kommen mir Ideen (meist über Soundeffekte) bei Proben und Live-Gigs, aber für gewöhnlich passiert das, wenn die Songs bereits aufgenommen sind und wir sie live spielen.

Plant ihr auch Live-Shows mit dem neuen Line-Up, oder ist WHITE WARD jetzt ein Studioprojekt?
YK: Natürlich sind wir eine Live-Band! Wie ich bereits zu Beginn des Interviews erwähnt habe, werden wir im Oktober dieses Jahres durch Europa reisen und für 2020 weitere Touren planen. Wir reisen sehr gerne und spielen live! Der musikalische und emotionale Austausch mit Menschen bei Shows ist für uns wirklich eine tolle Erfahrung.

Vielen Dank für eure Zeit und Antworten. Zum Abschluss ein Brainstroming:
Jazz: AP: Fusion – YK: mag niemand! (lacht)
Darkthrone: AP: Cromlech – YK: Until The Light Takes Us
Wolodymyr Selensky: AP: ein weiterer Politiker, der in zehn Jahren vergessen sein wird – YK: Kerl aus einer politischen Welt, mit der ich nichts gemeinsam haben möchte.
Der letzte Film, den du gesehen hast: AP: Keine Ahnung. Keine Filme dieses Jahr, nur Bücher – YK: “Der goldene Handschuh”
Krim: AP: ein sehr schöner Ort, den ich seit 2013 nicht mehr besucht habe – YK: Erstaunliche Berge und Natur. Lebendige Kindheitserinnerungen, die wie 35-mm-Filme aussehen.
Dein aktuelles Lieblingsalbum: AP: Thou – “Heathen” – YK: Of Feather and Bone – “Bestial Hymns Of Perversion”

Nochmals vielen Dank für eure Zeit. Die letzten Worte gehören euch – gibt es noch etwas, das ihr loswerden wollt?
YK: Danke dir für das Interview! Bleib du selbst und kümmere dich um die Welt um dich herum.
AP: Vielen Dank für diese interessanten Fragen! Meine letzten Worte sind immer die gleichen: Seid ausgezeichnet zueinander und vergesst die Natur und alle großen und kleinen Wesen nicht. Das sind die Dinge, die wirklich wichtig sind.

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Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
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