Interview mit Till Herence

Besonders im Raum München zählt Marco Klingel alias TILL HERENCE im Crossover-Bereich zu den stärksten Stimmen und bekanntesten Gesichtern. In den letzten Jahren ist es ruhiger um ihn geworden, nun steht der Sänger gleich wieder bei mehreren Projekten am Mikrofon. Im Interview mit uns erzählt er unter anderem, wie er bei SCHANDMAUL vom Merch-Verkäufer zum Sänger geworden ist, welche Folgen KI in der Musik haben könnte und warum Crossover etwas anderes als Metal ist.

Hallo Till, in den letzten Jahren ist es musikalisch stiller um dich geworden, speziell nach deinem Ausstieg bei APRON. Warst du musikalisch aktiv? Wie geht es dir heute? Und wie blickst du zurück auf diese Zeit?
Hi Sigi, ja, das stimmt. Es sah nach außen hin etwas ruhiger aus. Kurz nach dem Ausstieg kam circa drei Monate später Corona bei uns an und auch privat hat sich in dieser Zeit so einiges bei mir bewegt. Von wirklich ruhiger kann ich also nicht sprechen. Musikalisch habe ich mich noch mehr mit Musikproduktion beschäftigt und für andere hinter den Kulissen gearbeitet. Ich selbst habe mich musikalisch viel mit der Akustikgitarre beschäftigt und vor allem Musik für mich selbst geschrieben. Das hatte zeitweise auch einen therapeutischen Effekt. Ob von den Ergebnissen irgendwann einmal etwas an die Öffentlichkeit dringt, weiß ich noch nicht. Es ist natürlich auch eine Zeitfrage, ob und wann ich das umsetzen kann. Heute geht es mir gut und ich sehe diese Zeit als großen Entwicklungsschritt sowohl in puncto Persönlichkeit als auch musikalisch-künstlerischer Natur.

Inzwischen bist du wieder präsenter. Du singst bei SCHANDMAUL, bist bei APRON ans Mikro zurückgekehrt und auch LOONATARAXIS sind wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Wie ist das alles gekommen?
Bei SCHANDMAUL war es so, dass ich von der Band gefragt wurde, ob ich dieses Jahr einige Shows singen könnte, da die Band mit Thomas (der aufgrund seiner Krebserkrankung die Konzerte nicht singen konnte, Anm. der Redaktion) unbedingt wieder auf die Bühne wollte. Da die Band und ich uns schon seit 18 Jahren kennen und ich schon so einiges für die Band gemacht habe, war das für mich natürlich klar, dass ich hier aushelfe. Bei APRON und LOONATARAXIS war es einfach aus einem Gefühl heraus. Mit beiden Bands haben wir uns zwanglos getroffen und festgestellt, dass wir alle nach wie vor sehr stolz auf die Musik sind und Bock hätten, das auch einmal wieder zu spielen. Natürlich sind wir auch der Meinung, dass man so großartige Musik der Welt nicht allzu lange vorenthalten darf.

Wie interpretierst du deine jeweilige Rolle/Position als Sänger bzw. Fronter oder auch Texter in den einzelnen Combos?
Bei SCHANDMAUL bin ich als Vertretung sozusagen Cover-Sänger. Ich lege diese Rolle allerdings schon so aus, wie ich die letzten 24 Jahre als Frontmann agiert habe und versuche, eine gewisse Haltung zu transportieren. Ob mir das in diesem Kontext gelingt, müssen andere beurteilen. Bei LOONATARAXIS und APRON war ich auch immer einer der Songschreiber und Texter, das ist natürlich eine ganz andere Voraussetzung. Bei diesen beiden Projekten war und bin ich auch wesentlich radikaler, was den Ausdruck angeht. Diese beiden Bands haben schließlich beide jeweils über zehn Jahre mein Leben stark bestimmt. Das sind zwei meiner künstlerischen Babies.

Credits: Jonathan Gordon Photography

Wie ist die Rollenverteilung mit Georgij, wenn ihr gemeinsam bei SCHANDMAUL singt?
Das macht sehr viel Spaß, weil Georgij ein super lieber Typ und gleichzeitig ein Wahnsinns-Frontmann sowie Entertainer ist. Auf der Bühne macht es wirklich Freude mit ihm gemeinsam durch die Show zu navigieren und sich den Ball zuzuspielen. Man merkt, wie viel Erfahrung er hat und mit welchen Größen er bereits zusammen auf einer Bühne gestanden ist. Vor der Show haben wir immer abgesprochen, wer welchen Part übernimmt. Am Ende kam es dann manchmal anders, aber genau das waren die besonders witzigen Momente. Das hat gezeigt, dass wir beide gerne die spontanen Überraschungen auf der Bühne lieben, auch wenn dabei mal etwas „in die Hose geht“. Toller Typ.

Was viele wahrscheinlich nicht wissen: Du bist seit Jahren als Vocal Coach für SCHANDMAUL-Sänger Thomas aktiv und hast dein eigenes Studio in München. Wie ist diese Zusammenarbeit entstanden?
Nebenbei: Ich war auch schon als Merchandise-Verkäufer, Transportfahrer und Tourvideo-Mensch aktiv für die Band. Bald habe ich alle Posten durch. Die Vocal-Coach-Geschichte hat sich so ergeben, da auch Thomas mich schon einmal bei meiner ersten LOONATARAXIS-Scheibe aufgenommen hat und wir uns von da an ziemlich gut auf „sängerisch“ verstanden haben. So kam es, dass ich auch hier irgendwann gefragt wurde, ob ich das nicht für die Band übernehmen könnte und da ich mich grundsätzlich gerne mit Gesang beschäftige, war auch das eine klare Sache für mich.

Wie darf man sich das in der Praxis vorstellen?
Das Ganze ist von großem Vertrauen geprägt. Gesangsaufnahmen sind sowohl für Thomas als auch mich recht intime Momente in denen das richtige Fingerspitzengefühl aber auch Ehrlichkeit verdammt wichtig sind, um zu wirklich guten Ergebnissen zu kommen. Man schüttet sein Herz aus, kotzt seine Wut raus, macht sich emotional nackig, all das ist in einer oberflächlichen oder angespannten Atmosphäre schwer möglich und das wissen wir beide. In der Praxis lief dass dann meist ungefähr so:
„lalalala…“
– „Hmm…weiß nicht…fand ich scheiße. Probier’s mal mehr so großer Bär-Style.“
„lalalala…“
– „Hmmm…ne…lass uns den Take davor nehmen.“

Wie gut lagen dir und deiner Stimme speziell die SCHANDMAUL-Stücke?
In manche Stücke musste ich mich aufgrund unserer unterschiedlichen Stimm-Range einarbeiten und habe sie auch teilweise auf meine Komfortzone versucht umzumünzen. Alles in allem klappt es ziemlich gut. Eigene Songs, die man auch selbst geschrieben hat, sind natürlich etwas anderes. Aber ich versuche mich genauso intensiv in die SCHANDMAUL-Nummern hineinzuversetzen. Die Beurteilung dürfen gerne wieder andere übernehmen.

Gibt es Songs, die du weder singen wolltest oder konntest bzw. wie ist die aktuelle Live-Setliste von SCHANDMAUL entstanden?
Nein, gibt es nicht. Ich bin ja hier nicht bei den Onkelz. Bezüglich der Setlist haben wir einfach im Proberaum über mögliche Songs gequatscht und das ist dabei rausgekommen.

Mit der Folk- und Mittelalterszene hast du jetzt ein anderes Publikum als zuvor. Wie hast du das von der Bühne oder auch im direkten Austausch erlebt? Musst du für diese Fans als Sänger bzw. Sprachrohr anders agieren als im Crossover?
Ja, ein bisschen anders ist es schon. Direkt vergleichen kann ich es nicht. Die Publikumsgröße bei Schandmaul ist natürlich eine andere Hausnummer. Ich merke, dass bei APRON und LOONATARAXIS viel mehr der Zyniker in mir durchkommt. Bei SCHANDMAUL ist es schön, auch mal lieb zu sein.

Mit LOONATARAXIS habt ihr euch immer dagegen gewehrt, als Metal-Band gesehen zu werden. Du selbst siehst dich auch nicht als Metal-, sondern als Crossover-Sänger. Wo ziehst du die Grenze und woher kommt diese Einstellung?
Das hat viel damit zu tun, dass zu der Zeit, als wir angefangen haben, Musik aktiv zu hören und Bands cool zu finden, der Metal der 90er für uns als Jungs irgendwie nicht attraktiv war. Die Musik fand ich zwar schon ziemlich fett, aber ich konnte weder etwas mit der einhergehenden, musikalisch dogmatischen Traditionalität noch mit dieser gewissen pseudomännlichen machohaften Symbolik anfangen. Ich fand das immer lächerlich und für uns auch ziemlich unauthentisch. Wir wollten auf Bandfotos auch nicht böse gucken oder uns irgendwelche schwarzen Lack- und Leder-Klamotten anziehen. Wir waren genauso Skatepunk- und Grunge-Fans, Jungs, die in Baggy-Hosen und Skater-Schuhen auch gerne Hip Hop, Jazz, Reggae, Pop oder mal Schlager gehört haben.

Wie siehst du das Thema heute?
Ich weiß, dass sich das Gesicht des Metal heutzutage sehr verändert hat und dass Einhörner, Konfetti und bunte Bühnenoutfits sowie Lebensfreude auch ihren Platz haben. Metal ist für mich also kein Schimpfwort mehr, aber so ein bisschen komisch fühl ich mich dabei immer noch. Wer weiß, vielleicht haben wir ja in den letzten 20 Jahren auch ein Tröpfchen dazu beigetragen, um den Stein zu höhlen (Selbstüberschätzung off). Wir wollten harte Musik mit dieser starken Energie machen und dabei lachen dürfen, albern und lebensbejahend sein, nicht feindlich eingestellt, dafür progressiv und auch einfach alle Farben der Musik miteinander verweben. Da sind wir immer wieder beim Crossover gelandet, der für mich einfach ein großer freier musikalischer Spielplatz ist.

Core ist als Genre immer beliebter geworden, auch dort tummeln sich inzwischen viele Crossover-Bands. Wie siehst du diese Entwicklung?
Find ich gut. Ich mag diese Core-Einflüsse.

Welche Bands hörst du, welche eher nicht?
Da müsste ich jetzt ewig viele Bands aufzählen und dann auch noch priorisieren, das ist mir zu anstrengend. Aktuell höre ich gerade TWELVE FOOT NINJA, tolle Band. Im Prinzip höre ich alle die gerne, die mich überraschen und nicht das gleiche Rezept von Platte zu Platte fahren.

Besonders im Raum München bist du vorwiegend unter deinem Alter Ego „Till Herence“ bekannt. Was sind die Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen Till und Marco?
Till ist der Bühnenmensch, Marco der Privatmensch. Unterschiede gibt es viele. Die Haltung ist die gleiche.

So viele Bands und ein eigenes Studio gleichzeitig klingen insgesamt nach viel Arbeit, besonders wenn man kleinere Projekte wieder ans Laufen kriegen möchte. Wie priorisierst du deine Zeit und woher nimmst du sie?
Das weiß ich doch auch nicht. Hast einen Tipp? Spaß beiseite, ich kann ganz gut priorisieren, auch wenn ich noch viele Projekte gerne verwirklichen möchte.

Wie schätzt du das KI in der Musik oder in der Kunst allgemein ein? Überwiegen für dich die Vor- oder Nachteile?
Keine Ahnung. wahrscheinlich wird’s alles nicht so schlimm und unsere Kinder fragen sich, was unser Problem damit war. Aber ich krieg Albträume davon. Vielleicht stört es auch niemand, wenn man als Kind bereits mit einem Handy aufwächst, dass einem mit einem Klick ein Album wie „Nevermind“ ausspuckt und man sich per VR-Brille die Live-Show mit Hologrammen im Wohnzimmer anschauen kann. Ich meine das ernst. Vielleicht braucht es die Art, wie wir Musik machen, nicht mehr und es fehlt auch niemandem. Ich will da gar nicht nur verbittert in die Zukunft schauen. Eher realistisch. Am Ende sind wir Menschen ja auch nur Algorithmen, die von einer Suppe aus Erfahrungen gespeist etwas „Künstlerisches“ ausspucken.

Wie blickst du zurück?
Irgendwie freue ich mich darüber, dass ich erleben durfte, wie man als Band zusammenwächst, miteinander abhängt, Freunde für’s Leben findet, einen Kreativ- und Recording-Prozess durchlebt, unglaubliche Erlebnisse teilt, per Musik miteinander kommuniziert und dann mit wildfremden Leuten auf einem Club-Gig gemeinsam die Lieblingssongs aus sich herausbrüllt. Plötzlich versteht man, dass wir Menschen doch alle recht ähnlich sind. Musik war die Kommunikationsform, bevor Sprache entstanden ist. Von Mensch zu Mensch. Das wird auch erhalten bleiben, denke ich. Rockstars wird es vielleicht keine mehr geben. Aber wer braucht die schon.

Zum Abschluss unser traditionelles Brainstorming:
– Spud Bencer: Ich versteh den Witz nicht?!
– Donald Trump: Muss irgendwie vorbeigehen.
– System Of A Down: Tolle Band mit guten Einflüsse von Queen, Frank Zappa und Faith No More.
– Mittelaltermärkte: War ich schon auf einigen als Merchandise-Verkäufer.
– Die Welt in zehn Jahren: Hoffentlich anders.

 

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Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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