Interview mit Dylan Neal von Thief

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Mit seiner Mischung aus den verschiedensten elektronischen Sounds und Samples liturgischer Chorgesänge hat Dylan Neal, der kreative Kopf hinter THIEF, einmal mehr ein einzigartiges Album kreiert: „The 16 Deaths Of My Master“. Weshalb die sakralen Stilelemente auf seinem neuen Werk ein wenig ins Hintertreffen geraten sind,  warum sich darauf Ausschnitte aus einer Schallplatte für Schulkinder und aus dem Soundtrack des Videospiels „Castlevania“ finden und was es mit der parallel erschienen Split mit Botanist auf sich hat, schilderte uns Neal im folgenden Interview.

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Die Auswirkungen der Pandemie und des Lockdowns gehen sehr weit auseinander – für viele waren sie zermürbend, existenzbedrohend oder gar tödlich, andere konnten der Situation sogar etwas Gutes abgewinnen. Wie ist es dir dabei ergangen?
Ich gehöre definitiv zur letzteren Kategorie, glücklicherweise. Ich konnte weiterhin von zu Hause aus arbeiten, und da ich introvertiert bin, war es ein Traum, weniger soziale Kontakte zu haben, und beides bedeutete mehr Zeit für die Musik. Ich fühle mich etwas schuldig, wenn ich das sage, denn ich habe das unglaubliche Glück, niemanden verloren zu haben, der mir nahe steht, aber das war meine Erfahrung.

Laut der Bandcamp-Beschreibung hast du dein neues Album „The 16 Deaths Of My Master“ fast ausschließlich zuhause und einen kleinen Teil in einer Waldhütte aufgenommen. Wie hat sich diese isolierte Herangehensweise ausgewirkt und weshalb hast du einen kleinen Teil der Musik doch auswärts aufgenommen?
Erstens brauchte ich einen Ort, an dem ich all die lauten, extremen Vocals aufnehmen konnte, ohne mir Sorgen zu machen, dass meine Nachbarn die Polizei rufen. Zweitens brauchte ich auch einen letzten „Schub“, um dem Album den letzten Schliff zu geben, und da war es sehr hilfreich, dass ich von allen Ablenkungen und weltlichen Dingen weg war. Es war auch schön, diese letzte Zeit mit dem Album in einem wunderschönen Wald zu verbringen. Ich habe mein ganzes Equipment dorthin geschleppt. Es herrschte eine große Hitzewelle, und die Hütte hatte keine Klimaanlage, sodass es ein bisschen anstrengend war, aber ich glaube, das hat mein Schreien noch intensiver gemacht. (lacht)

thief - the 16 deaths of my masterDas Mastering hat diesmal John Greenham übernommen, der bereits mit einigen namhaften Pop-Acts zusammengearbeitet hat. Warum fiel die Wahl gerade auf ihn und wie hat seine Arbeit das Album geprägt?
Normalerweise lasse ich Chris Hackman (THIEFs Live-Bassist) das Mastering machen, aber ein Freund von mir erwähnte, dass er Greenham kennt und dass er mir wahrscheinlich einen Deal anbieten würde. Ich habe mir seine Arbeit angehört, und das Können und die Breite seines Katalogs haben mich wirklich fasziniert (zum Beispiel: Er hat Pop gemacht, aber auch mit Bands wie The Locust gearbeitet… das ist einzigartig). Es war definitiv nicht billig, aber ich dachte: „Scheiß drauf, mal sehen, was passiert“, und hier sind wir nun. Ich würde nicht sagen, dass er das Album beeinflusst hat, aber er gab ihm definitiv den letzten Schliff und die nötigen Anpassungen, und ich bin sehr zufrieden mit seiner Arbeit. Ich war in den Prozess involviert und habe eine Menge gelernt, als ich ihm bei seiner Arbeit zusah.

Deine neuen Songs klingen aggressiver denn je und du setzt diesmal auch Schreigesang ein. Hattest du diesmal mehr Wut, die du loswerden wolltest?
Ja, ich denke schon. Dieses Album war thematisch viel persönlicher, da gab es etwas, das darauf wartete, aus mir herauszukommen, aber ich war mir bei den vorherigen Alben auch nie ganz sicher, wie ich das machen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass ich kreativ an einem Punkt angelangt war, an dem ich es auf natürliche Weise mit dem neuen Album umsetzen konnte. Ich wollte auch etwas von unserer Live-Energie auf dieses Album übertragen, und live schreie ich oft, weil wir einfach mit viel mehr „Intensität“ spielen.

Das Thema Sucht spielt auf „The 16 Deaths Of My Master“ eine wesentlich präsentere Rolle als zuvor. Was ist der Hintergrund?
Einen guten Teil meines Lebens war ich ein Sklave von Drogen und Alkohol. Diese Welt und ihre Umgebung sind in meine Lebenskarte eingebettet. Jetzt bin ich allerdings seit acht Jahren nüchtern!

Wie schwer ist es, über solche persönlichen und ernsten Dinge zu singen?
Weißt du, ich finde es nicht allzu schwierig, aber natürlich äußere ich mich selten ganz unverblümt über Dinge. Es gibt ein paar Tracks, die ziemlich emotional sind, und ich hatte etwas Angst, mich so zu exponieren, aber ich habe es überwunden. Meine einzige Sorge ist jetzt, dass jemand denkt, der Song handele von ihm. (lacht)

Deine Texte sind sehr persönlich, aber auch voller kryptischer Sinnbilder. Geht es dir bei deinen Lyrics und Songs ausschließlich darum, dich selbst auszudrücken, oder möchtest du in den Leuten damit auch etwas auslösen oder ihnen Botschaften vermitteln?
Ich hoffe, dass der persönliche Ausdruck eine Art von sinnvoller Reaktion oder Nahbarkeit auslösen wird. Ich will nie eine „Botschaft“ vermitteln, ich will nicht predigen oder so etwas.

Sowohl gesanglich als auch musikalisch ist das Album um einiges vielseitiger und wohl auch experimenteller als deine ersten beiden Platten. Wie herausfordernd war es für dich, diese neuen Elemente in deinen Sound zu integrieren?
Interessant, ich empfinde es als zugänglicher als die beiden anderen Alben. Ich denke, es ist ein bisschen „definierter“. Ich mache so viele Tracks, wenn ich neues Material schreibe, dass ich normalerweise das Material die Richtung diktieren lasse, sodass es sich in gewisser Weise selbst integriert. Ich versuche einfach, es neu und interessant für mich zu halten und mich nicht zu sehr zu wiederholen. Mir kommen ständig neue Ideen, und wenn das „Gefühl“ stimmt, dann funktioniert es für THIEF.

Du setzt in deinen Songs auch Spoken-Word-Samples ein, die immer schon recht kryptisch waren, auf der neuen Platte aber noch schwerer in einen Kontext zu setzen sind. Kannst du uns einen Hinweis darauf geben, was es etwa mit dem sample auf „Victim Stage Left“ auf sich hat?
Ooh, das! Ich liebe dieses Sample. Es stammt von einer Schallplatte, die ich gefunden habe und die für Schulaktivitäten für Kinder an regnerischen Tagen gedacht ist. Dieses Sample ist eine Art heilende Aussage nach diesem sehr intensiven, emotionalen, fast selbstmitleidigen Song. Es sagt quasi: „Ok, sieh her, lass uns anerkennen, dass es regnet. Mach weiter und benenne diesen Aufruhr, tu, was du tun musst, aber dann musst du dein Leben trotz des Regens weiterleben.“

Du hast in einem Posting erwähnt, dass du in einem Song auch Samples aus dem Videospiel „Castlevania“ eingebaut hast, und du hast einen Download-Code in Form einer „Magic The Gathering“-Karte veröffentlicht. Würdest du dich selbst als Nerd bezeichnen?
(Lacht) Ja, ich denke schon. Ich habe so viel Nostalgie in Bezug auf diese Dinge, dass ich mich hier und da von ihnen beeinflussen lasse. Ich kann nicht anders. Auf dem Klappcover von „16 Deaths“ gibt es ein Rastersystem, das die gesamte Ausrüstung zeigt, die für die Songs verwendet wurde, und es gibt einen Abschnitt, der alle Tracks mit „Castlevania: Symphony Of The Night“-Samples zeigt. Sie sind nicht offensichtlich, denn ich möchte den „Zauber“ nicht brechen, aber sie sind da.

Apropos Videospiele: Manche haben die tanzende Person im Musikvideo zu „Teenage Satanist“ mit einer Figur aus dem obskuren Indie-Game „Pathologic“ verglichen. Kennst du das Spiel und falls ja, was denkst du über diesen Vergleich?
Ich hatte noch nie von diesem Spiel gehört, bis ich einige der Vergleiche gelesen habe, also, nein, kein Bezug. Wenn ich mir die Bilder anschaue, sehe ich es irgendwie, aber die Maske der THIEF-Kreatur ist viel vogelähnlicher.

Ich habe den Eindruck, dass die liturgischen Gesänge in einigen der neuen Tracks weniger präsent sind. Wolltest du stattdessen die Möglichkeiten im elektronischen Bereich mehr ausloten?
Ja, natürlich. Chöre und Sakralmusik werden immer ein Teil von THIEF sein, denke ich, aber ich habe bereits zwei Alben gemacht, auf denen sie das vorherrschende Element waren, also wollte ich etwas Raum für neue Ideen schaffen.

Vor allem die Unterschiede zwischen deinem neuen Album und deinem eher homogenen, stimmungsvollen Debüt „Thieves Hymn In D Minor“ sind auffällig. Wie denkst du rückblickend über dein erstes Album?
Ich bin im Großen und Ganzen stolz darauf, aber manches davon ist schwer anzuhören, weil meine Produktions- und Gesangsfähigkeiten damals noch ziemlich unausgereift waren. Ich bin auf diesem Album definitiv noch dabei, Fuß zu fassen. Es ist schon lange her, dass ich es mir angehört habe, aber ich erinnere mich, als es das letzte Mal auf meinem iPod Shuffle auftauchte, dachte ich: „Oh Gott, was habe ich mir bei diesem Mix nur gedacht?!“ Ich denke aber, dass ich die Atmosphäre auf „Thieves Hymn in D Minor“ gut getroffen habe.

Mit 16 Tracks und einer Laufzeit von einer Stunde ist die neue Platte wesentlich umfangreicher als deine bisherigen Releases. Was würdest du jemandem entgegnen, der „The 16 Deaths Of My Master“ deswegen „überladen“ nennt?
Ich persönlich bin ein Fan von kürzeren Alben. Wenn du willst, dass ich mich konzentriere und mir etwas länger als 40 Minuten anhöre, solltest du besser eine verdammte Knallerplatte haben. Ich hatte eine verdammte Knallerplatte.

Du hast parallel zum neuen Album auch eine begleitende Split mit Botanist veröffentlicht. Was hat euch dazu inspiriert, nach eurer bisherigen Zusammenarbeit nun auch eine gemeinsame Split zu veröffentlichen?
Ich hatte eine Menge Tracks übrig, die es nicht auf die LP geschafft haben. Es ist nicht so, dass sie nicht „gut genug“ waren, sie haben nur nicht ganz gepasst. Ich weiß, dass Otrebor (der Mann hinter Botanist) immer eine Menge unveröffentlichtes Material herumliegen hat, also haben wir angefangen, darüber zu reden, eine Split zu machen, um etwas davon zu veröffentlichen. Es war großartig und ich bin froh, dass unsere Projekte gemeinsam physische Medien nutzen.

Deine Songs auf der Split unterscheiden sich klanglich von „The 16 Deaths Of My Master“. Wie hast du entschieden, welcher Song auf welchem Release landet und wie greifen die beiden Werke ineinander?
Als ich „16 Deaths“ schrieb, kam ich an einen Punkt, an dem ich etwa 25 oder 30 Songs hatte. Es gab einen ziemlich klaren Fluss, der sich durch sie hindurchzog, was wohin floss. Allerdings gab es fünf oder sechs Tracks, die eine Art Nebenfluss waren. Sie stammten aus der gleichen Quelle, gingen aber ihren eigenen Weg. Als ich wusste, dass ein Split möglich sein würde, beschloss ich, diese Tracks als eine Art „Begleitstück“ zur LP zu veröffentlichen. Sie sind die LP – thematisch und klanglich – aber in extremis.

Im Gegensatz zu Full-Lengths scheinen Splits von vielen nicht wahrgenommen oder als nennenswerte Releases betrachtet zu werden. Stört es dich, dass es eurer Split genauso ergehen könnte?
Ja, ich weiß nicht, warum das so ist – vielleicht liegt es einfach daran, dass für eine Split (oder sogar eine EP) nie die gleiche Menge an PR betrieben wird. Es stört mich aber nicht. Sie sind wie ein Bonbon oder eine Zigarette nach dem Dinner. Nicht jeder will eine, aber die, die eine wollen, lieben sie verdammt noch mal. Einige meiner Lieblingsalben sind Splits und EPs.

Kürzlich hat die britische Trip-Hop-Band Massive Attack sich in den sozialen Medien deutlich für klimaschonende Maßnahmen im Live-Musik-Bereich ausgesprochen. Wie schätzt du die Lage ein – wird in dieser Hinsicht in der Musikbranche zu wenig getan?
Ich denke, es wird in der Welt insgesamt zu wenig getan. Jeder sollte seinen Teil dazu beitragen und ich finde es toll, dass eine große Band wie Massive Attack mit gutem Beispiel vorangeht. Ich denke aber nicht, dass sich kleinere Bands, die auf Tournee sind, zu viele Gedanken darüber machen sollten. Keiner von uns verbrennt Kerosin oder beschäftigt so viele Roadies und Bühnen-/Tontechniker wie eine Kleinstadt. Normalerweise spielen wir kaum die Ausgaben wieder herein. Auf Konzert-/Festival-Ebene kann man eine Menge tun, und wenn sie genug Druck von den Headlinern bekommen, werden sie es auch tun. Also, bravo!

Zum Abschluss nun noch ein kurzes Brainstorming. Was denkst du über die folgenden Schlagworte?
Billie Eilish: Ich mag sogar einige ihrer Tracks. Mutig wenig Hall in ihrer Stimme. Wahrscheinlich von der Musikindustrie gepusht.
Lo-Fi: Lass es primitiv sein!
Hyperpop: Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet, aber ich mag es jetzt schon nicht.
War on drugs: Versagen und Vernebelung.
Remixes: Ein paar davon gefallen mir besser als die Originaltitel.
Konzeptalbum: Keine Konzepte! Direkte Erfahrung!

Vielen Dank für deine Zeit. Möchtest du den Leser*innen zum Abschluss noch etwas mitteilen?
Ich danke dir! An alle, die das hier lesen: Ich hoffe, dass euch das Album gefällt und was auch immer ihr gerade durchmacht, haltet durch.

Publiziert am von Stephan Rajchl

Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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