Teil zehn unseres Specials „Metallisierte Welt“ führt uns in ein Land, das derzeit nicht eben seiner Metal-Szene wegen ständiger Teil der Weltnachrichten ist: Syrien. Rawad Abdel Massih von THE HOURGLASS berichtet aus Homs, wo Krieg und Zerstörung zum Trotz noch Musik gemacht wird. Auch Metal.
Könntest du uns zunächst die aktuelle Situation in Homs beschreiben? In wiefern ist ein normales Leben dort derzeit möglich?
In vielen Teilen von Homs kann man derzeit leben, so auch in dem Viertel, in dem ich mich derzeit aufhalte. Aber die halbe Stadt ist zerstört und die Hälfte der Bevölkerung hat die Stadt verlassen, insofern ist die Situation insgesamt sehr bedrückend. Zumindest in den Stadtteilen, in denen es jetzt ruhig ist, normalisiert sich die Sicherheitslage aber langsam und die Leute versuchen, wieder in das Leben zurückzufinden, das sie vor dieser Welle aus Gewalt geführt haben … zur Arbeit gehen, in Cafes sitzen, Zeit mit Freunden verbringen, heiraten, Hochzeiten feiern und so weiter.
Wie wichtig ist Musik für die Leute in Syrien in dieser Situation? Hören die Leute noch Musik?
Ja, Musik ist ein wichtiger Teil des syrischen Lebens und spielt in öffentlichen wie privaten Bereichen eine große Rolle.
Wie sieht es mit Metal aus? Ist es ungewöhnlich, in Syrien Metal zu hören?
Ich denke, die einzige Stadt, in der derzeit noch Metal-Shows veranstaltet werden, ist die Küstenstadt Latakia. Die Lage dort ist insgesamt sicherer und man ist Metal-Musik gegenüber toleranter. Dort gab es auch immer und gibt es noch viele junge Leute, die Metal hören.
Gibt es dort, neben Konzerten, auch sonstige Metal-Kultur, CD-Läden, Metal-Shirts und dergleichen?
Ein paar gibt es, ja.
In Syrien ist Krieg derzeit wohl omnipräsent. Würdest du sagen, dass ein Zusammenhang zwischen diesem Umstand und der Beliebtheit von Metal gibt? Hören die Leute in harten Zeiten eher aggressive Musik?
In einem Krieg hast du definitiv mehr Wut in der Gesellschaft und jeder lässt seine Wut anders ab. Die einen mit Bomben und Gewehren, die anderen mit Musik … verstehst du?
Gibt oder gab es bei euch generell so etwas wie eine Metal-Szene?
Ich denke, man kann das nicht „Metal-Szene“ in dem Sinne, wie der Begriff in Europa verwendet wird, nennen – auch vor dem Krieg schon nicht. Aber es gab definitiv viele Musiker und Bands, die Alben und Singles veröffentlicht haben. Aber das ist jetzt vorbei, die meisten Bands sind inaktiv oder aufgelöst, weil die Bandmitglieder über die ganze Welt versprengt leben. Genau, was meiner Band, THE HOURGLASS, auch passiert ist.
In Europa gilt es bisweilen immernoch als „rebellisch“, Metal zu hören. Was bedeutet es in Syrien?
Da ist es das Gleiche: Metal bedeutet Auflehnung. Wenn du „Nein“ sagen willst, ist Metal ein guter Weg.
Hat es umgekehrt betrachtet einen direkten Einfluss auf deinen Alltag oder darauf, wie „normale“ Leute auf dich reagieren, dass du Metal hörst?
Auf jeden Fall! Es ist heute für Metalheads alles etwas einfacher geworden, vielleicht fangen die Leute an, uns zu verstehen. Aber es gibt immer noch eine Menge Missverständnisse. Und manchmal ist das Verhalten junger, verantwortungsloser Metalheads dem Image auch nicht eben zuträglich.
Was Religionen angeht, ist Syrien sehr heterogen – aber die meisten Leute sind in irgendeiner Form religiös. Hat das Auswirkungen auf dich als Metalhead? Ist es gefährlich, Metal-Fan zu sein?
In der syrischen Bevölkerung gibt es viele verschiedene Meinungen zum Thema Religion, es gibt Säkulare und Atheisten, engstirnige Religiöse und sogar Rassisten. Du kannst hier wirklich alle Denkweisen finden – man kann nicht einmal so leicht sagen, dass wirklich der Großteil religiös ist. Ich betrachte das Ganze nicht aus der Sicht eines Metalheads – ich denke, eine religiöse Gesellschaft schränkt generell immer die Meinungsfreiheit ein, weil es „heilige“ Themenfelder gibt, die in der Öffentlichkeit nicht diskutiert oder angerührt werden dürfen. Aber es ist auf keine Weise gefährlich, hier Metalhead zu sein. Ein paar Leute werden natürlich den Kopf schütteln, aber es ist weder gefährlich noch bedrohlich.
Wie bist du selbst mit Metal in Kontakt gekommen?
Ich war 1992 mit meinen Eltern in Frankreich. Da habe ich jemanden mit einem „Fear Of The Dark“-Shirt gesehen. Zurück in Syrien habe ich Eddie in einem Musikladen wiederentdeckt und fand das Bild ziemlich cool. Also habe ich mir das Album gekauft, und damit war mein Schicksal besiegelt.
Was hat dich dazu gebracht, selbst Heavy Metal zu spielen? Was sind deine Haupteinflüsse?
Heute höre ich Musik verschiedenster Stilrichtungen, von Pop über Orchestermusik bis Elektro, aber meine Haupteinflüsse, als ich jünger war, waren der Metal der 80er, Heavy, Thrash und zu gewissem Grade auch Glam.
Was bedeutet es, heute in Syrien in einer Band zu spielen?
Die Band ist praktisch tot oder zumindest inaktiv. Ich bin Gitarrist, Songwriter und Produzent, und jetzt wird es immer mehr zur One-Man-Show, nachdem wir nicht mehr am gleichen Ort leben. Ich versuche, ein neues Album aufzunehmen, aber ich habe keine 15.000 Dollar, um sie in das Projekt zu stecken, insofern liegt das Ganze auf Eis. Was die Beschaffung von Equipment angeht, gibt es in Syrien noch ein paar Läden für sowas. Was wir dort nicht bekommen, können wir aus dem Libanon oder Dubai beziehen.
Was gibt es in Syrien für traditionelle Musik, und inwiefern ist THE HOURGLASS davon beeinflusst?
In Syrien gibt es vier Hauptrichtungen traditioneller Musik, den Damaskus-Stil, den Aleppo-Stil, den östlichen Stil (Omar Soulayman ist ein Beispiel dafür) und den Westküsten-Stil. Ich mag vor allem die Musik aus Damascus und Aleppo, aber ich nutze sie nicht als Einfluss auf THE HOURGLASS.
In wiefern würdest du sagen, dass deine Heimat und die aktuelle Situation dort THE HOURGLASS geprägt hat?
Dass ich Syrer bin und fast mein ganzes Leben in Syrien (und zeitweise im Libanon) gelebt habe, hat THE HOURGLASS definitiv zu dem gemacht, was es heute ist.
Was die Texte angeht: Schreibst du auch über Politik, über das Leben in Syrien?
Ich habe vor dem Krieg über Politik und Religion geschrieben, aber die neuen THE-HOURGLASS-Song werden sich vor allem um das ursprüngliche, heidnische Syrien drehen, alte syrische, kanaanitische Mythologie. Wir sehen jeden Tag Krieg. Wenn ich also Texte für meine Musik schreibe, schreibe ich lieber über ein Thema, das uns daran erinnert, wer wir sind und nicht über den Krieg.
Gibt es Themen, die verboten sind, oder über die zu schreiben Gefahr bedeutet, sei es die der Zensur oder einer Strafe?
Ja, natürlich. Viele Themen bezüglich Politik und Religion, vor allem dem Islam, können dich schnell in echte Schwierigkeiten bringen – das muss nicht immer mit Zensur zu tun haben. Sowas kann dir auch Probleme mit der gemeinen Bevölkerung bescheren. Es mag dich überraschen, aber von offizieller Seite her herrscht in Syrien weit mehr Toleranz bezüglich Meinungsäußerungen über Religion als in jedem anderen Land der arabisch sprechenden Welt. Ich habe für das 2007er-Album von THE HOURGLASS einen Song namens „The Book“ geschrieben, der sehr religionskritisch war. Aber das war schon grenzwertig … direkter oder härter kann ich in meiner Kritik nicht werden. Den Song findet ihr übrigens auf unserem Youtube-Kanal.
Was hältst du von all den Bands aus friedlichen, europäischen Ländern, die über Krieg und Hass schreiben, ohne jemals erfahren zu haben, was Krieg wirklich heißt?
Ich glaube, sie wissen nicht im Ansatz, worüber sie da reden. Ich meine, wir haben alle schon viele Songs über den Krieg gehört, viele Filme gesehen, viele Bücher gelesen. Aber wenn du das alles selbst erlebst, vor allem, wenn es in deiner Heimat geschieht und nicht beispielsweise irgendwo in Vietnam, ist das einfach nochmal was ganz anderes.
Würdest du trotzdem sagen, dass Krieg ein passendes Thema für Songtexte abgibt?
Auf jeden Fall.
Was war dein persönlich intensivstes Metal-bezogenes Erlebnis?
Ich würde sagen, einen Song mit Jon Oliva und Zak Stevens von Savatage als Gastmusiker zu veröffentlichen war für mich der Höhepunkt mit THE HOURGLASS.
Was bedeutet dir das Metal-Zeichen, die Devil-Horns?
Die Musik, die wir hören. Nichts weiter.
Vielen Dank für deine Zeit und Antworten. Zum Abschluss ein Brainstorming:
Baschar al-Assad: –
Metal: Eine E-Gitarre
Flüchtlingskrise: –
Iron Maiden: Meine erste Liebe
Angela Merkel: –
Wacken: Matsch
Russland: –
THE HOURGLASS in zehn Jahren: Eine harte Erfahrung.
Mehr Antworten kann ich dir nicht geben.
Die letzten Worte gehören dir:
Wenn das hier irgendein Experte für Social Media und Internetpromotion liest, darf er mich gerne kontaktieren – ich will eine Crowdfunding-Kampagne für das neue Album starten und brauche jemanden mit Erfahrung, der sich darum kümmert. Einen Anteil des eingeworbenen Geldes darf derjenige natürlich behalten!
was ich im generellen spannend finde, ist die frage inwiefern die traditionelle musik einfluss auf „den metal“ hat, bzw. die schilderungen „des lebens als metalhead“. tolle reihe.
wie schauts eigentlich mit china oder alaska aus?
und was treibt die szene in novosibirsk?
Danke für das positive Feedback! Wir haben noch einige spannende Interviews im Petto – insofern: Gespannt bleiben, weiterlesen und weitersagen! ;)
Sehr bedrückend wie informativ.
Die nicht gegebenen Antworten im Brainstroming sprechen Bände…