Interview mit Aðalbjörn Tryggvason von Sólstafir

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Vier Jahre haben SÓLSTAFIR ihre Fans auf „Hin Helga Kv​ö​l“ warten lassen – so lange wie seit „Köld“ nicht mehr. Und dann ist das Album mit knapp unter 50 Minuten auch noch das Kürzeste in der Historie der Isländer. Wie das zusammenpasst, warum SÓLSTAFIR stilistisch wieder experimenteller zu Werke gegangen sind und warum am Ende alles auf Grindcore mit Geigen hinauslaufen wird, erklärt Aðalbjörn „Addi“ Tryggvason im Interview!

Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast. Wie geht es dir?
Ich bin beschäftigt, wie du sehen kannst [dreht die Webcam in Richtung einiger Gitarrenpedale auf dem Zimmerboden] … ich bereite mich auf die Tour vor. Früher hatte ich ein Delay-Pedal von Boss und ein Reverb-Pedal von Boss, jetzt sind es verdammte Computer und die verfluchte Hölle.

Du bist also auf ein digitales Effektgerät umgestiegen?
Ich habe ein Quad Cortex hier. Es ist die einfachere Lösung für eine Menge Lärm, als mit alten Röhrenverstärkern zu reisen, die immer kaputtgehen. Also probiere ich das mal … um nicht so ein alter Sack zu sein. Mit einem 70 Jahre alten Design, mit Röhren, mit Mikrofonen und Radiofrequenzen, rund um die Welt zu touren ist einfach … also probiere ich das hier aus. Es klappt ganz gut.

Super! Das Erste, worüber ich sprechen wollte, oder viel mehr was ich sagen wollte, ist: Herzlichen Glückwunsch – SOLSTAFIR wird nächstes Jahr 30 Jahre alt. Hättest du dir je träumen lassen, dass diese Band so lange bestehen und euch so weit bringen würde?
Nein. Wir haben die Band in der Garage meines Vaters gegründet, genauer gesagt im Speicher der Garage meines Vaters. Das waren etwa vier Quadratmeter. Wir haben die ersten zehn Songs in dieser Garage geschrieben. Die Zeit vergeht wie im Flug, irgendwie fügt sich alles im Leben und auf einmal ist es 30 Jahre her. Das ist verrückt.

Ihr habt mit der Band eine Menge erreicht … ihr seid um die Welt getourt, habt Special-Shows mit Streichern und Klavier und was nicht noch alles gespielt. Gibt es noch etwas, das du in eurer Karriere unbedingt noch machen möchtest?
Ich glaube, wir haben unser Ziel noch nicht erreicht. Ich glaube nicht, dass es nur darum geht, Songs zu schreiben und Alben zu machen. Es ist immer, als wäre da dieses imaginäre goldene Schloss, oben auf dem Hügel. Und wir versuchen, es zu finden. Aber da ist so viel Nebel auf dem Hügel, in den Bergen. Es gibt also immer ein Ziel, den perfekten Song oder das perfekte Album zu machen. Ich denke, wir müssen noch größere Tourneen mit Streichern machen, und es gibt noch mehr Sachen mit großen Produktionen, die wir machen wollen. Und was die Musik angeht, würde ich gerne ein bisschen mehr harte Sachen mit Streichern machen. Das haben wir noch nie versucht! Wir haben die sanften Sachen mit Streichern ausprobiert. Das ist etwas, das ich gerne ausprobieren würde. Sanfte Songs mit Streichern haben wir zur Genüge gemacht. Vielleicht müssen wir jetzt ein Grindcore-Album mit Geigen machen. Das ultimative Ziel ist ein Grindcore-Album mit vielen Geigen, danach können wir aufhören.

Klingt zumindest spannend! Viele Metal-Bands spielen irgendwann in ihrer Karriere Shows mit einem Orchester. Wäre das etwas, das dich interessieren würde, eine SÓLSTAFIR-Show mit einem ganzen Orchester?
Viele Bands haben das schon gemacht, auch in Island. Manche Bands sind dafür gemacht, manche nicht. Einige Bands, die nicht dafür gemacht sind, machen es trotzdem – einfach, weil sie es machen wollen. Ich werde jetzt einfach irgendeine Band nennen … ich glaube zum Beispiel nicht, dass ich Kreator mit den Münchner Philharmonikern sehen wollen würde. Ich liebe Kreator, ich bin ein verdammt großer Kreator-Fan – aber ich glaube nicht, dass ich das sehen wollen würde. Vielleicht ist Mille ja anderer Meinung und wird es machen. (lacht) Aber bei allem Respekt vor Mille, und ich liebe Mille und Kreator wirklich, aber das wäre so ein Negativ-Beispiel – anders als zum Beispiel Anathema. Die stehen am anderen Ende der Skala, das ist eine Band, wo ich sagen würde: Oh, ja, bitte – spielt mit dem Liverpool Symphony Orchestra! SÓLSTAFIR sind – und ich glaube, die meisten Leute würden dem zustimmen – eher auf der Seite der Bands, die für soetwas gemacht sind: Wir haben lange Songs mit viel Hall, große Flächen in der Musik und episches Zeug. Wir könnten das also wohl problemlos tun. Schauen wir mal, was wir machen.

SÓLSTAFIR 2016 live mit Piano und Streichern in Wörgl. © Afra Gethöffer-Grütz/Metal1.info

Der Grund, warum wir uns jetzt unterhalten, ist, dass ihr in ein paar Tagen ein neues Album herausbringt, und zum ersten Mal seit eurem Album „Köld“ habt ihr eure Fans vier Jahre warten lassen. Habt ihr euch mehr Zeit gelassen, um an der Musik zu arbeiten, oder habt ihr einfach später angefangen?
Also, heute ist immer noch Oktober, richtig? Oktober 2024. Das Album wurde im Mai 2023 aufgenommen, das heißt, wir haben im Mai 2022 mit der Arbeit daran begonnen. Oder sagen wir, im Februar 2022 haben wir angefangen, daran zu arbeiten. Wir hatten etwa 15 Monate Zeit, es zu schreiben. Und dann mussten wir den Schlagzeuger wechseln, Hallgrímur musste uns verlassen, also mussten wir einen neuen Schlagzeuger einarbeiten. Und dann kamen die Sommerfestivals, und dann kam dies und jenes dazwischen. Und dann haben wir auch noch das Label gewechselt, und die haben gesagt, okay, das Album kommt in elf Monaten raus, oder so was in der Art, das ist ganz normal. Es kam einfach so. Niemand hat ein Jahr lang gebummelt und auf nichts gewartet, niemand hat gesagt, ach nein, lass uns jetzt vier Jahre warten! So war das nicht. Aber wir waren nicht in Eile. Du hast recht, bei den letzten Alben lagen drei Jahre dazwischen. Diesmal fühlte es sich nur wie drei Jahre an, weil wir das Album vor über einem Jahr aufgenommen haben.

Du hast gerade erwähnt, dass ihr das Label gewechselt habt, was ja ein großer Schritt ist. Was hat sich für euch im Tagesgeschäft geändert – und was waren die Gründe, warum ihr Season of Mist verlassen und bei Century Media unterschrieben habt?
Nun, im Tagesgeschäft ändert sich nichts Grundlegendes. Ich stehe jetzt nicht mit 52 Leuten in Deutschland in Kontakt, so läuft das ja nicht. Wir haben unsere Kontaktperson beim Label, und alles funktioniert perfekt, sie machen alles, was sie versprechen, und sogar noch mehr. Wir waren etwa zwölf Jahre lang bei Season of Mist, glaube ich. Wir haben vier Alben mit ihnen gemacht. Es war eine sehr erfolgreiche Reise mit ihnen. Alles ist immer noch sehr freundschaftlich, es ist also fast so, als wäre es einfach zu bequem geworden, wieder in dieselben Fußstapfen zu treten. Es ist gesund, sich weiterzuentwickeln, und es ist sogar noch gesünder, wenn es auf eine freundschaftliche Art und Weise geschehen kann. Es ging uns eher darum, etwas Neues auszuprobieren. In diesem Umfeld ist es ganz natürlich, neue Dinge auszuprobieren, und wir wollten neue Dinge ausprobieren.

SOLSTAFIR auf dem MEH SUFF 2023

Und warum habt ihr euch für Century Media entschieden?
Wir waren nur auf zwei Dates. Wir haben nicht so viele Leute getroffen, wir haben nicht zwei Jahre lang mit acht Labels geflirtet. Es war fast wie die erste Wahl, Century Media. Wir kennen einige Leute, die seit Jahren für Century Media arbeiten, und hätten vor vielen Jahren fast bei Century Media unterschrieben. Es hat sich nur nicht ergeben, und jetzt haben wir es getan, also war es eine ganz natürliche Entwicklung. Ich will jetzt nicht auf die Geografie eingehen, aber Deutschland war schon immer unser Hauptmarkt, seit wir angefangen haben zu touren. Es fühlt sich also irgendwie heimisch an, bei einem deutschen Label zu sein, auch wenn die Welt immer kleiner wird und jeder Büros in anderen Ländern hat. Season of Mist hat Büros in Amerika und Frankreich, Century Media hat auch Büros in Amerika und Deutschland. Aber Century Media ist natürlich auch Teil von etwas Größerem, was wohl bedeutet, dass es noch mehr Türen gibt, durch die man gucken kann.

Glaubst du, dass diese Veränderung für SÓLSTAFIR zu zusätzlichem Wachstum führen wird, oder seid ihr schon an der Grenze dessen, wie groß eine Band wie SÓLSTAFIR, mit dieser Art von Musik, werden kann?
Ich denke, wenn wir jung und scharf drauf wären, ohne Kinder und ohne Alltagsjobs, ginge einiges, aber wir sind nicht sehr jung und scharf drauf. Wir haben kleine Kinder, wir haben normale Jobs, wir sind schon seit 30 Jahren dabei, wir fühlen uns sehr wohl, wo wir sind. Wir tun im Grunde, was man uns sagt, innerhalb gewisser Grenzen. Wenn ein Label sagt: Hey, wie wäre es, wenn wir folgendes ausprobieren, dann sagen wir: OK, lass uns das machen. Wir sind bereit, auf natürliche Weise so weit zu wachsen, wie es eben geht.

SOLSTAFIR auf dem MEH SUFF 2023
SOLSTAFIR auf dem MEH SUFF 2023; © Afra Gethöffer-Grütz/Metal1.info

Diese Band hat sich immer sehr langsam entwickelt – sehr langsam. Ich glaube aber, dass das für uns ganz gut war. Wir sind nicht innerhalb eines Monats oder mit einem Album berühmt geworden. Wir sind einfach mit jedem Jahr ein bisschen größer geworden, und es war eine lange Reise, und ich habe bis jetzt noch keinen Rückgang festgestellt. Vielleicht wird es sich seltsam anfühlen, wenn dieser Rückgang einsetzt, denn das haben wir bis jetzt noch nicht gespürt. Die Shows werden größer, wir spielen längere Sets und wir haben schönere Fahrzeuge, in denen wir touren können. Die Musikwelt hat sich auch etwas verändert – auch extreme Bands können jetzt groß rauskommen, das ist schon irgendwie verrückt. Bands wie Behemoth dringen in Gefilde vor, von denen niemand dachte, dass das möglich wäre. Ich glaube, dasselbe hat man früher über Metallica wohl auch gesagt, aber die haben den Durchbruch mit ihren soften Sachen geschafft. Das kann man von Behemoth nicht behaupten. Aber wir fühlen uns einfach sehr wohl in diesem Heavy-Metal-Land, in dem wir leben. Wir spielen die Festivals, wir machen die Alben, aber wir verbringen nicht jedes Jahr tausende von Stunden mit der Band, nur weil wir so viel Geld dafür bekommen. Wir haben alle einen festen Job.

Das ist eine enttäuschende Nachricht … Ich dachte wirklich, dass SÓLSTAFIR auf einem Level wäre, auf dem man neben dem Job als Musiker keine Vollzeitjobs mehr haben müsste …
Das ist die Sache: Wenn wir vier oder sechs Monate im Jahr touren würden, könnte ich leicht von dieser Band leben. Aber das ist nicht meine Realität. Wir haben andere Verpflichtungen, wie kleine Kinder und solche Sachen. Ich könnte also nicht sechs Monate im Jahr auf Tournee gehen, denn dann kommst du nach Hause und bekommst in den restlichen Monaten kein Geld mehr. Unser Maximum waren 200 Shows … 200 Shows in einem Jahr. Wenn ich heute 200 Shows im Jahr machen würde, ja, dann könnte ich von dieser Band leben. Aber das ist nicht mehr meine Realität. Das ist sie einfach nicht. Das Leben ändert sich, und jetzt habe ich ein vierjähriges Kind und ich habe Verantwortung, und das lässt einen die Dinge anders sehen. Früher hatte ich nur die Band und dachte, ich würde für die Band leben und sterben. (lacht) Und jetzt wäre es nie eine Frage, ob man sich für die Erziehung seines Kindes entscheidet oder ob man heute Abend irgendwo in einem Club in München spielt und die nächsten 300 Tage am Stück auch in einem Club in München. Versteh mich nicht falsch: Wenn ich in den Bus steige und in einem Club in München spiele, liebe ich das verdammt noch mal – weil es mehr Wertschätzung erfährt. Ich sehe es nicht als selbstverständlich an, dass ich mich mit meinen Freunden in den Bus setzen und heute Abend in einem Club in München Heavy Metal spielen kann. Denn das ist sehr weit weg von meiner normalen Realität. Deshalb schätze ich es noch mehr, als wenn ich es ständig machen würde.

Solstafir - Hin Helga Kvöl 2024Sprechen wir über die Musik: Ich bin wirklich beeindruckt, wie anders das Album klingt, im Vergleich zu den letzten ein oder zwei Alben. „Hin Helga Kvol“ zum Beispiel ist wahrscheinlich das härteste Stück, das ihr seit vielen, vielen Jahren geschrieben habt. Fangen wir an diesem Ende der Skala an: Was hat dich dazu bewogen, für SÓLSTAFIR einen so harten, geradlinigen Song zu schreiben? Er erinnert mich ein wenig an dein Projekt BASTARÐUR. Hatte dieses Projekt einen Einfluss auf SÓLSTAFIR?
Nun, ja und nein. Also, ein bisschen hat es uns beeinflusst, als wir 2019 eine 10-Jahres-Jubiläumstour zum „Köld“-Album gespielt haben. Wir gingen also auf Tour und spielten das ganze „Köld“-Album, das ein bisschen härter ist als „Ótta“ oder „Svartir Sandar“ oder „Berdreyminn“ … weil wir mit diesen Alben mal ein bisschen von härteren Sachen weggehen mussten, um etwas Neues zu machen. Es ging immer darum, neue Dinge zu machen und sich nicht zu wiederholen. Also haben wir uns ein bisschen von den harten Sachen entfernt und haben „Ótta“ und „Svartir Sandar“ gemacht.

Dann haben wir 2019 diese Jubiläumstournee gemacht, bei der wir das ganze „Köld“-Album gespielt haben. Es fühlte sich für uns sehr frisch an, dieses Zeug zu spielen. Es langweilt mich, von „wiederentdeckt“ und „wiederverbunden“ zu sprechen … aber es fühlte sich anders an, es jetzt zu spielen. Wir waren es nicht leid – es fühlte sich frisch an. Es machte mehr Spaß, dieses heavy Zeug zu spielen. Danach behielten wir „Pale Rider“ im Set – das ist im Grunde der einzige Song auf dem „Köld“-Album, den man als Black Metal bezeichnen könnte. Also stand „Pale Rider“ einige Jahre lang auf der Setlist. Und dann kam die Überlegung auf – ich meine „Pale Rider“ ist ja ganz anders als „Fjara“ – wie es wohl klingen würde, wenn wir diese Art von Musik heute schreiben würden? Aus zweierlei Gründen: Erstens sind wir älter geworden, und man verändert sich mit den Jahren. Wir sind ein bisschen andere Leute geworden. Und zweitens haben wir eine andere Besetzung, also ist die Chemie anders. Es war interessant herauszufinden: Wie würde das heute klingen, wenn wir solche Musik schreiben würden. Ich war einfach zu neugierig und hatte das Gefühl, dass ich das herausfinden muss.

Bastardur-Satans-Loss-of-SonUnd dann kommen wir zu der anderen Sache, wie du erwähnt hast, das BASTARÐUR-Album. Das habe ich ja ganz allein geschrieben, und zwar mit einer anderen Arbeitsweise: Ich habe ein Demo des Albums mit programmierten Drums gemacht und dann einen richtigen Schlagzeuger engagiert. Und ich habe alles an meinem Schreibtisch sitzend geschrieben. Im Grunde habe ich den Song [„Hin Helga Kvol“] nun genau so geschrieben. Ich habe ihn über ein paar Monate hinweg aufgenommen. Manchmal habe ich gedacht: Echt jetzt? Mache ich das gerade wirklich? Das ist irgendwie komisch. Aber dann wird es interessant … wenn ich mich fragen muss: Wirklich, ist es das jetzt? So war es auch, als wir die „Köld“-Songs mit cleanen Vocals gemacht haben, als wir „Fjara“ mit cleanen Vocals gemacht haben … wir haben all diese verrückten, unterschiedlichsten Sachen gemacht. Immer, wenn diese Frage kommt: Echt jetzt? Wow, können wir das machen? – Dann ist die Antwort immer: Du musst das machen! Es gibt ein bestimmtes Riff in dem Song, ein sehr typisches Metal-Riff. Das ist so eine Sache, die ich vom ersten Tag an vermieden habe. Ich glaube, etwas in der Art gibt es vielleicht auf „Til Valhallar“ von 1996 … solche Power-Akkord-Riffs! Weil ich finde, das gehört nicht in unsere Band. Aber dann kam dieses Riff zu mir und ich dachte: Ich muss es benutzen. Weil alles in mir nein, nein, nein gesagt hat, wurde es interessant: Wie kann ich dieses Riff bei SÓLSTAFIR einbauen? Tja, probieren wir’s aus. Und dann ist es einfach stehen geblieben. Also ja, sogar im Studio haben wir uns gedacht: Echt jetzt? Machen wir das wirklich? (lacht) Und dann haben wir angefangen, es live zu spielen, und wir haben gemerkt: Verdammt, das ist irgendwie cool! Also ja, wir mussten im Grunde unsere Neugierde befriedigen, indem wir eine Antwort auf diese Frage gesucht haben: Wie würde es heute klingen? Wie würde es heute klingen? Und da hast du es. Heute klingt es so.

Nur eine kurze Nachfrage zu BASTARÐUR: Wird es ein weiteres Album von diesem Projekt geben oder war das nur eine einmalige Sache?
Ja! Nachdem ich das Album gemacht habe, haben wir drei oder vier Shows in Reykjavik als Band gespielt. Im Grunde sind wir jetzt also eine fünfköpfige Band, mit ein paar echten Metal-Legenden! Also, wir sind jetzt keine Band, die sich regelmäßig zum Proben trifft, aber es gibt eine Live-Besetzung. Und wir haben darüber gesprochen, ein weiteres Album zu machen. Also ja, es wird ein weiteres Album geben.

Sehr schön, das ist eine gute Nachricht! Zurück zu SÓLSTAFIR: Am anderen Ende der Skala steht der Track „Kuml“, der mich sehr an eine Band aus Deutschland erinnert, Bohren & Der Club Of Gore– ich weiß nicht, ob du die kennst? Was hat euch dazu bewogen, dieses komplett andersartige Stück zu schreiben und es dann auch noch mit Saxophon zu instrumentieren?
Nun, wie du schon sagtest: Es ist sehr anders. Wir mögen sehr anders. Wir mögen Ideen, die absurd sind. Und das hier war nicht einmal eine wirklich absurde Idee. Der Hauptteil des Songs entstand bei einem Soundcheck irgendwo auf Tour, ich habe ihn mit meinem Handy aufgenommen. Ich nehme eine Menge Sachen von Soundchecks auf. Das hat diese Idee ins Rollen gebracht. Und wir hatten zuvor schon Saxophon verwendet: auf „Svartir Sandar“ in einem Song namens „Melrakkablús“. Vor einigen Jahren haben wir einen Saxophonspieler kennengelernt, der mit uns live gespielt hat. Wir haben sogar noch einen in Finnland und noch einen in den Niederlanden. Wir haben das Saxophon also schon ein paar Mal live eingesetzt. Aber wir haben es nur in einem Rock’n’Roll-Kontext eingesetzt. Wie wäre es, es in einer sanften Atmosphäre zu verwenden? Das haben wir noch nie gemacht! Aber natürlich kennen wir Bohren & The Club Of Gore sehr gut. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass Bohren & The Club Of Gore uns nicht beeinflusst hätten, als wir „Fjara“ geschrieben haben. Dieser Einfluss kommt von Bohren & The Club Of Gore. Das ist die reine Wahrheit. Wir haben also immer in diese Richtung geschaut, auch wenn wir das vielleicht nicht so wahrgenommen hätten.

SÓLSTAFIR im Februar 2023 in MünchenUnd dann sind Svavar [Austmann, Bassist bei SÓLSTAFIR] und ich natürlich große Guns N‘ Roses-Fans. Es gibt eine Menge von Guns N‘ Roses, das in SÓLSTAFIR-Songs auftaucht. (lacht) Svavar spielte also diesen Teil vom Soundcheck am Bass, und er legte einen Chorus-Effekt auf seinen Bass – Duff McKagan von Guns N‘ Roses hat manchmal einen Chorus auf seinem Bass, man kann das in „You Could Be Mine“ und anderen Songs hören. Wir haben also herumgealbert und Svava ein bisschen mehr wie Duff McKagan klingen lassen … bis zu dem Punkt, an dem Duff McKagan klang, als würde er den Twin Peaks-Song spielen. Also hatten wir Duff McKagan, der die Twin Peaks-Songs mit einem Saxophonsolo spielte. Und dann dachten wir, jetzt fängt es an, albern zu klingen. Jetzt ist es toll! Und dann haben wir einfach noch einen draufgesetzt … Ich habe mit Sæþór Maríus Sæþórsson [Sæþór Sæþórsson, Gitarrist bei SÓLSTAFIR] das ganze Chorzeugs erarbeitet. Sæþór ist tatsächlich ein ziemlich guter Sänger, auch wenn er es nicht zeigt. Ich habe ihm dann gesagt: „Versuch dies, versuch das, versuch jenes. Und er hat ein paar Gesangsharmonien aufgenommen. Glaub mir, er hat nicht daran geglaubt. Er meinte: „Was ist das? ‚Bohemian Rhapsody‘ oder so ein Scheiß?“ Wir haben also bloß Demos gemacht und daran gearbeitet, und dann kam diese ganze Sache mit den Gesangsparts, und ich wusste, dass ich jemanden dazu holen musste … also habe ich für die Main-Vocals einen Gastsänger gesucht, der diese Art von Kirchengesang macht. Der Mann ist von einer sehr legendären isländischen Band namens Ham, einer wirklich berühmten Band hier. Und dann … ach, ich liebe diesen Song. (lacht) Ich finde, es ist ein toller Song … er ist ganz anders. Ich habe noch keine Ahnung, wie wir das live umsetzen werden, aber das werden wir sehen, wenn es soweit ist.

SOLSTAFIR auf dem MEH SUFF 2023Trotz seiner großen stilistischen Bandbreite ist „Hin Helga Kvöl“ das kürzeste Album, das ihr je geschrieben habt: Es ist nur 48 Minuten lang, während alle anderen SÓLSTAFIR-Alben – zum teil deutlich – über 50 Minuten lang waren. War das Absicht, oder hat es sich einfach so ergeben?
Also nicht in Bezug auf das Album. Aber da wir seit 30 Jahren im Geschäft sind, haben wir eine Menge Songs – und die meisten davon sind sieben oder sogar elf Minuten lang. Wir sind viel auf Tour und auf Festivals, und manche Songs können oder wollen wir nicht weglassen. Wir spielen fast jedes Mal „Fjara“, wir spielen fast jedes Mal „Ótta“ … das sind Fan- Lieblinge, und sie funktionieren live sehr gut. Also machen wir dem Publikum damit eine Freude. Und wir mögen sie nach wie vor. Aber das stellt uns vor Probleme: Wenn wir auf einem Festival insgesamt 55 Minuten Zeit haben, können wir nur etwa fünf Songs spielen. Deshalb kam diese Idee schon oft zur Sprache: Wäre es nicht schön, ein paar kürzere Songs zu haben? Das wäre gut, denn all diese verdammten 11- oder 15-Minuten-Songs verhindern manchmal, dass wir mehr Songs spielen können. Und dann haben wir uns natürlich auch in kreativer Hinsicht überlegt, dass das interessant sein könnte: Können wir in unserem Herzen einen guten Song schreiben, der nicht ein vierminütiges Intro oder einen sechsminütigen Schlussteil hat? So etwas haben wir in der Vergangenheit sehr oft gemacht, und das fällt uns leicht. Dieses ganze Trance- und Space-Ding macht echt Spaß,
wir lieben das. Aber einen Song zu schreiben, der kürzer ist, damit wir mehr Songs spielen können, ist eine größere Herausforderung. Wir mögen es, herausfordernde Dinge zu machen, etwas Frisches und Neues. Deshalb gibt es jetzt auch ein paar siebenminütige Songs. Es ist ja nicht so, dass es ein verdammtes Radioalbum geworden ist. Es sind nur nicht alle Songs zehn Minuten lang
(lacht).

SÓLSTAFIR auf dem BRUTAL ASSAULT 2022; © Afra Gethöffer-Grütz Metal1.info

Zumindest kurz müssen wir auch über das Gesamtkonzept des Albums sprechen – auch wenn das vermutlich ziemlich langweilig für dich ist, weil du das ständig gefragt wirst …
Ich bin sehr froh, dass du das jetzt gesagt hast! (lacht)

Trotzdem, um es abgehakt zu haben: Könntest du das Ganze in ein oder zwei Sätzen zusammenfassen?
Weißt du, ich denke auf Isländisch, also ist meine Welt ziemlich isländisch. Und manchmal vergesse ich, dass es nur etwa 300.000 Menschen auf der Welt gibt, die diese Texte lesen können, obwohl sechs Milliarden Menschen auf der Welt leben. Ich verstehe also, dass ein netter Mensch aus Deutschland, der etwas verstehen will, danach fragen muss. Ich verstehe das total. Aber normalerweise singen wir über Persönliches, weil es dann beim Performen mehr Ausdruck hat. Ich will nicht so singen, ich will nicht so sein, ich will nicht, dass SÓLSTAFIR ist wie Rage Against The Machine. Ich liebe Rage Against The Machine, aber da bin ich nicht. Ich bin nicht bei Cannibal Corpse. Ich liebe Cannibal Corpse, aber ich bin nicht George Corpsegrinder, der darüber singt, mit einem Messer gefickt zu werden. Deshalb machen wir persönliche Sachen. Das meiste davon ist sogar sehr persönlich. Wir haben alle, also nicht jeder einzelne, aber als Band haben wir einiges durchgemacht … Entzug und Drogensucht, Depressionen, Panikattacken, Todesfälle in der Familie, und so weiter … eine Menge Zeug. Und wir sind damit als Gruppe ziemlich offen umgegangen. Also schreiben wir einfach darüber.

Auf dem letzten Album hat Hallgrímur [Jón Hallgrímsson, Schlagzeuger von SÓLSTAFIR] etwa 80 % der Texte geschrieben. Diesmal habe ich etwa 80 % der Texte geschrieben. Ich kann dir hier drei Beispiele nennen, oder vier. Ein Song handelt von jemandem, der mir sehr am Herzen liegt, und es ist im Grunde so, als würde ich einen Nachruf auf eine Person schreiben, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Drogenabhängigkeit von uns gegangen ist. Man sieht nur noch den Geist einer Person, die man geliebt hat. Ein anderer Song handelt von meinem Vater. Mein Vater hatte es nicht leicht, als er aufgewachsen ist, aber er hat nie darüber geschrieben und kaum darüber gesprochen. Also habe ich mich in seine Lage versetzt, als wäre ich beim Schreiben des Textes er selbst. Er versteht kein Deutsch, also wird er das hier nicht verstehen. Dann habe ich ein Lied über meine Urgroßmutter geschrieben. Sie war hieß Margaret Hassler und war Deutsche, aus Dresden. Sie zog um 1900 aus Deutschland weg. Sie zog also von dort – du kannst dir vorstellen, wie wunderschön Dresden um 1900 herum war! – nach New York. In New York lernte sie meinen Urgroßvater kennen. Um den Ersten Weltkrieg herum zogen sie nach Island, weil er eingezogen werden sollte. In Island lebten sie in Ísafjörður, einem kleinen Fischerdorf im Norden des Landes, wo sie eine Bäckerei betrieben, dieser Urgroßvater von mir und meine Urgroßmutter. Im Zweiten Weltkrieg wurde jeder Deutsche, der in Island lebte, und ich bin mir ziemlich sicher, überall sonst auch, aber zumindest in Island, von den Briten automatisch beschuldigt, ein Nazi-Spion zu sein, denn die Briten kamen nach Island und die Briten mochten die Deutschen nicht. Also fuhren die Briten nach Ísafjörður, in dieses kleine Fischerdorf, weckten meine Urgroßeltern mit Maschinengewehren – alte Leute, sie waren so um die 60, 70 – weckten sie mit Maschinengewehren, setzten sie in ein Militärschiff und fuhren mit ihnen nach England, wo man sie ins Militärgefängnis steckte. Island war nicht direkt vom Krieg betroffen wie der Rest der Welt, besonders Europa. Hier gab es keine Bombenangriffe, und hier wurde auch niemand getötet. Aber als meine Großmutter vor etwa 10 bis 15 Jahren starb, fand mein Vater diese handgeschriebenen Briefe aus dem Gefängnis von Brixton, die mein Urgroßvater nach Island geschickt hatte und in denen er erzählte, dass er im Gefängnis war. Also wusste ich einfach, dass ich einen Text darüber schreiben musste … es sind also wirklich persönliche Themen. (lacht) Es geht um Düsteres, aber auch um positive Sachen!

SÓLSTAFIR im Februar 2023 in München
SÓLSTAFIR im Februar 2023 in München

Danke für diesen tiefen Einblick in die Textinhalte. Leider müssen wir langsam zum Ende kommen – zum Abschluss noch ein kurzes Brainstorming. Los geht’s …
Bathory: Manowar.
Manowar:
Guinness- Weltrekord im Lärm.
Donald Trump:
Ein verdammter Vollidiot.
Slayer-Reunion:
Das ist schön.
SÓLSTAFIR in zehn Jahren:
Ich rede mit dir über das neue Album.

Hoffen wir es. Ich würde mich freuen! Also vielen Dank. Das war’s von meiner Seite. Danke, dass du dir Zeit genommen hast und alles Gute, wir sehen uns auf Tour!
Danke, Moritz!

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Dieses Interview wurde per Telefon/Videocall geführt.

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