Interview mit Marcel Breuer von Nocte Obducta

Vor 25 Jahren benannten sich Desîhra in NOCTE OBDUCTA um – deren Bilanz sich nicht nur quantitativ sehen lassen kann: Von den zwölf Alben und zwei EPs, die die Mainzer um Sänger, Gitarrist und Bandkopf Marcel Breuer seitdem veröffentlicht haben, zählen einige nach wie vor zum Relevantesten, was Deutschland in Sachen Black Metal zu bieten hat. Zum Release von „Irrlicht“ sprachen wir mit Marcel über Selbstreferenzen, Songtexte und selbstgemalte Bilder – aber natürlich auch die unsägliche Corona-Pandemie. Doch weil sich’s zum Quasi-Jubiläum anbietet, haben wir ihn in einem zweiten Teil (folgt in Kürze) noch mit einem ganzen Sack voll Fragen zur Bandhistorie gequält.

Das „Irrlicht“-Cover hast du selbst gemalt – wie kam es dazu? Bist du privat generell auch malenderweise kreativ, oder bist du das extra für das Album mal angegangen?
Ich habe früher viel gemalt, das ist aber wirklich tausend Jahre her. Ich nehme mir seit Jahren vor, wieder anzufangen und habe es jetzt einfach mal gemacht … es wäre natürlich wünschenswert, wenn ich wirklich noch beziehungsweise wieder Übung hätte, aber andererseits ist es auch eine sehr direkte und persönliche Sache, wenn man dann gleich den ersten Versuch auf das Cover packt und das zweite Motiv in das Booklet.

Da muss ich mal kurz kritisch sein: Was ist denn das für eine unbequeme Pose, in der du den armen Kerl da verewigt hast? Ich hab das mal eben ausprobiert: Dieser nach außen gedrehte Daumen ist nicht wirklich ergonomisch …
Unbequem und ein wenig verkrampft soll das auch durchaus sein, aber so schlimm ist das gar nicht. Der recht Arm ist vor dem Körper und liegt mit der Hand auf der linken Schulter, des sieht man je nach Auflösung vielleicht nicht. Die linke Hand zeigt mit der Handfläche mehr oder minder zum Betrachter, das hat also schon alles seine Richtigkeit.

Das Album markiert zugleich eure Rückkehr zu SCR – ihr habt euch also wieder vertragen?
Ganz offensichtlich.

Bereits mit dem Opener greift ihr den ersten Song eures ersten Albums auf – im Titel, aber auch musikalisch. Was versprichst du dir von dieser Hommage an alte Zeiten?
Versprechen tue ich mir davon eigentlich nichts. Diese musikalische Spielweise ist ja auch nie ganz verschwunden, beziehungsweise auf „Irrlicht“ generell wieder präsenter. Im Falle des Theaters war es so, dass aus den 1990er-Jahren tatsächlich auch noch Textfragmente und Szenen übrig waren, weil der Opener des Debüts in seiner damals ersten Fassung selbst für unsere Verhältnisse viel zu chaotisch und in meinen Ohren auf eine ungelenke Weise zu lang war, weshalb er gekürzt wurde, noch bevor er in den Proberaum kam.
Dass wir den Song ausgerechnet für dieses Album ausgewählt haben, hat sozusagen zwei Gründe, die aufeinander folgten; Zunächst war es so, dass wir nach „Totholz“ metallischer und eben auch ein wenig vertrackter vorgehen wollten, da bot sich dieser Song, der eigentlich aus dem Jahr 2013 stammt, sehr gut als Opener an. Dann aber hat mich eine ziemlich hässliche Phase in meinem Leben dazu bewogen, doch so etwas wie nun „Irrlicht“ zu machen – durchaus noch roh, aber weniger aggressiv oder bissig. Irgendeinen Anknüpfungspunkt an die ursprüngliche Idee wollte ich aber beibehalten, und da schien mir „Zurück im bizarren Theater“ am ehesten geeignet.

Bereits „Mogontiacum“ war voll von Bezügen auf alte Alben. Ist es – provokant gefragt – nicht irgendwann auch mal gut mit den Selbst-Referenzen? Wäre es nicht mal wieder Zeit, nach vorne zu schauen?
Der sogenannte zweite Teil zu „Theater“ spielt einfach nur mit einem ähnlichen Setting, sowas macht man in manchem Untergenre von der ersten bis zur letzten Silbe einer ganzen Platte. Und dann auf der nächsten wieder. Ich würde aber Selbstreferenzen auch nicht zu hart beurteilen, beziehungsweise das Wort nicht überstrapazieren. Denn es ist auch einfach und verlockend, inhaltliche Verzahnungen und Rückblicke als einseitig zu bezeichnen, dabei beleuchten sie vielleicht nur ein bestimmtes Thema von einer anderen Seite oder stellen in nur einigen Aspekten eine Verbindung her. Wenn wir Zitadellen, Totgeburten, Tavernen, die Galgendämmerung etc. wiederholen, klingt das anscheinend mehr nach Wiederholung, als wenn man einfachere Bilder wie Wälder, Nacht und Kälte – die ja nun auch bei uns häufig genug vorkommen – wählt, weil sie vielleicht nicht so geläufig sind. Letztlich sind das aber auch nur Wörter, die eine bestimmte Bedeutung haben. Und im Falle von NOCTE bin ich mir fast sicher, dass sie sich mit einer für den Metal eher ungewöhnlich hohen Anzahl von weiteren Worten in den Texten finden lassen, was ich übrigens keineswegs qualitativ verstanden wissen will. Natürlich war „Mogontiacum“ voll von Verweisen, aber es gab ja dennoch eine das Album umfassende Aussage (die Frage kommt im zweiten Teil des Interviews nochmal, daher gehe ich da nicht weiter ins Detail), und auf „Totholz“ hatten wir sogar den ersten vollkommen positiven Text und einen über den Seekrieg.

Apropos kurz: „Noch“ ist der wohl kürzeste und zugleich schrägste Songtitel, den ihr je hattet. Was war die Idee dahinter?
Die Idee war hier, dass ich keine hatte. Der Text war fertig, aber es gab keinen Titel. Die sich anbietenden Titel, die sich unmittelbar aus dem Text ergeben hätten, waren mir allesamt zu schwülstig. Ich habe dann einfach das vorletzte Wort des Textes genommen. Es passt aber auch ganz gut, da ja quasi das ganze Lied über fragile Szenen und ihr Kollaps beschrieben werden.

Laut dem Pressetext zum Album knüpft „Irrlicht“ thematisch an die „Nektar“-Reihe an. Das ist natürlich praktisch, um das Album zu bewerben, nachdem die „Nektar“-Phase bis heute eure populärste ist. Aber wie geht man das an, 15 Jahre später da einfach „wieder anzuknüpfen“?
Je nun, da muss ich leicht verwundert widersprechen, es gibt absolut keinen inhaltlichen Bezug zu „Nektar“. Das Promo-Schreiben meint da wohl eher den Umstand, dass wir wieder wesentlich näher an den bis inklusive „Nektar“ für uns typischen Songstrukturen dran sind und gleichzeitig das metallische Element beziehungsweise Riff- und Lead-orientiertes Gitarrenspiel wieder die tragende Rolle spielt. Eine bewusste Anknüpfung an die „Nektar“-Phase ist nicht in meinem Sinne, das haben wir mit „Mogontiacum“ auf einer inhaltlichen Ebene gemacht und damit ist es auch gut.

Schon in unserem letzten Interview hast du davon gesprochen, dass diese Textlandschaft für dich eine Art „Wohlfühlzone“ ist … siehst du nicht das Risiko, dich da festzufahren oder zu wiederholen?
Nein, es gibt auch ziemlich viele Texte, die sich in einer anderen lyrischen Landschaft abspielen beziehungsweise diese regelmäßig erweitern. Wenn Du mal die NOCTE-Texte neben die von zehn anderen Metal-Bands legst, dann glaube ich nicht, dass wir hinsichtlich des lyrischen und inhaltlichen Spektrums schlecht abschneiden, nur weil man uns oft wiedererkennt.

Worum geht es dann auf „Irrlicht“ – und was unterscheidet das Textkonzept von den letzten Alben?
Es gibt einen roten Faden, der sich durch „Irrlicht“ zieht. Sieht man vom Opener ab, dreht sich das gesamte Album um Verlust und Resignation. Der Glaube, die Hoffnung, der Antrieb – das sind die Irrlichter in einem Haufen Scheiße, der einem ständig um die Ohren fliegt. Nachdem unser ehemaliger Keyboarder Flange die Texte gelesen hatte, meinte er, sie seien überraschend offen und verletzlich – er hatte mit mehr Hass gerechnet, aber vom Hass war in der Zeit, in der ich das Album konzipiert habe, nicht mehr viel übrig. Die Platte ist eine Bankrotterklärung an den Glauben und das Morgen, allerdings in musikalischen Stilmitteln, die manch einem vielleicht zu Old School erscheinen mögen. Wir wollten hier keine triefende Oper des Schmerzes abliefern.

Wie bist du dafür das Songwriting angegangen – hast du dich da auch an früheren Zeiten orientiert oder etwas anders gemacht als zuletzt?
Ich bin beim Songwriting eigentlich vorgegangen wie immer. Ich habe Lieder geschrieben, wie sie mir gerade in den Kopf kamen und gleichzeitig ältere Fragmente, die auf ihre Zeit gewartet hatten, benutzt. Mit „Zurück im bizarren Theater“ und „Bei den Ruinen“ sind auch zwei Lieder vertreten, die schon vor Jahren fertig komponiert und getextet waren. So ist es aber bislang bei jedem Album gewesen – selbst bei „Schwarzmetall“, dessen größter Teil in einem sehr kurzen Zeitraum entstanden ist.

Tatsächlich macht das gesamte Album wieder einen etwas roheren Gesamteindruck – der Gesang ist wieder giftiger, der Sound klingt nicht unbedingt „zeitgemäß“ … Was hat dich zum Bandjubiläum an einer solchen Retrospektive gereizt?
Erst einmal hat es mit keinerlei Jubiläum oder sonst etwas zu tun, es ist der Sound, der es ist und keine Retrospektive. Ich nehme „nicht unbedingt ‚zeitgemäß‘“ einfach mal als Kompliment, da ein zeitgemäßer Sound wirklich nicht mein Ding ist. Tatsächlich hatte ich nach „Totholz“ die Bedenken, dass der Nachfolger zu glatt werden könnte, obwohl „Totholz“ ja ziemlich organisch ist. Das sich durch die Platte ziehende Thema der Resignation barg, neben einer gewissen Routine, die man mit den Jahren entwickelt, durchaus diese Gefahr. Ich habe das Album aber nun kürzlich nach fast sieben Monaten mal wieder durchgehört und muss sagen: Spielweise, Arrangement und Sound sind ausreichend chaotisch.
Die Konzentration auf Röhren-Amps und möglichst analoge Geräte (auch bei den Synthesizern) mag antiquiert sein, das schroffe Element ein wenig die Verständlichkeit und Durschlagkraft reduzieren und der teilweise großzügig unters Volk gebrachte Hall zu sehr den frühen 1990er-Jahren huldigen, aber das war zumindest von der Idee genau das, was geplant war, und ich habe zumindest momentan nicht das Gefühl, dass ich davon beim nächsten Album abrücken werde.

Du sprichst hier schon vom nächsten Album – hat dir die Corona-Pandemie Zeit verschafft, vielleicht sogar über das Album hinaus schon an neuem Material zu arbeiten, oder hat euch die Gesamtsituation eher gebremst?
Nicht mehr zu proben hat natürlich gebremst. Wir hatten zum Glück das Album fertig, sodass es „nur“ zu Verzögerungen in der Produktion der tatsächlichen Tonträger kommen konnte. Als der Kram losging, war ich tatsächlich kreativer als in manch anderem Lebensabschnitt, aber einerseits war ich das in den vorangegangenen Wintermonaten auch schon, andererseits folgte dann ein regelrechtes Corona-Phlegma. Ich würde also behaupten, unterm Strich hat der ganze Scheiß bislang keine Auswirkungen in künstlerischer Hinsicht. Ich bin aber jemand, der immer wieder Notizen in einem kleinen schwarzen Buch macht, das ich dann gerne für Texte zur Hand nehme. Und wenn man mal ein paar Abende durch eine seltsam leere Stadt gelaufen ist, dann schlägt sich das natürlich auch irgendwo nieder. Alles in allem also für die Band, die wie sind, eine reine Bremse. Wobei der Abstand von der Band durchaus auch einen gewissen Raum geschaffen hat, sich mal darüber Gedanken zu machen, was man eigentlich (noch) will und in welcher Form das in welchen Strukturen und mit welchen Mitteln realistisch und (geistig) gesund ist.

Wie sehr trifft dich die Krise als Musiker, aber auch Privatperson, konkret?
Tja, das Leben vor Corona fehlt mir natürlich, fast das ganze Jahr ohne Konzerte und Veranstaltungen und eine ungewisse Lage in Zukunft, das ist schon ein ordentlicher Rotz. Ich habe das Glück, dass ich weiter arbeiten musste beziehungsweise konnte, und es mir so zumindest zu keinem Zeitpunkt an die Existenzgrundlagen ging. Da stehen Menschen, die die Musik zu ihrem Beruf gemacht haben, teilweise sicher sehr traurig da. Die Auswirkung auf mich als Musiker bei NOCTE OBDUCTA deckt sich vermutlich mit der anderer Musiker in Bands unserer Liga. Gigs fielen und fallen aus, und wenn es irgendwann wieder wirklich losgeht, dann werden allerlei Billings und Clubs mit „Altlasten“ verstopft sein.

Soviel also zu „Irrlicht“ und der aktuellen Situation. Zum Abschluss dieses ersten Teils unser traditionelles Brainstorming:
Corona-Proteste in Deutschland:
Das ist jetzt schon das dritte Mal Corona in einem Interview, das wird mir echt zu viel. Aber gut. Ich nehme an, du spielst auf wirklich große Proteste an, bei denen ein Gutteil der Leute das Thema Corona ganz sicher nur als einen Aufhänger genutzt haben, das sind dann ja schnell ideologische Kundgebungen. Ich halte eine gewisse Skepsis generell für angebracht und bin auch nicht zwingend von jeder Maßnahme überzeugt, habe aber das Gefühl, dass ein „Ich will aber!“ zum jetzigen Zeitpunkt niemandem hilft. Wie gut oder schlecht der Weg war, wird man sehen müssen, und die Sache ist ja durchaus in Bewegung. Ich maße mir jedenfalls nicht an, zu wissen, wie man perfekt hätte reagieren können und glaube ohnehin, dass es sehr, sehr viele Situationen gibt, aus denen man als Gesellschaft unabhängig von der Reaktion nicht gut rausgeht, wir sind hier nämlich nicht im Bälle- und Hupenparadies. Keine Eindämmungsmaßnahmen und dann ein in dieser Form recht unbekanntes Virus, das sich anders verhält, diesen alternativen Zeitstrahl kann man ja mal durchspielen. Das sah für mich nun auch nicht unbedingt nach rein solidarischen Protesten für die Gemeinschaft aus. Und wirre Theorien, die sich dadurch legitimieren, dass sie von der Mehrheit abweichen, konnte ich eh nie ernst nehmen. Abweichlertum ist eine gute Sache, das kann ebenso richtig wie falsch sein – aber das Abweichen als solches erschafft keine Wahrheit. Aber das hat letztlich mit Corona nichts zu tun, das Problem grassiert unabhängig davon. Mit solchen Leuten würde ich mich jedenfalls auch dann nicht gemein machen, wenn ich wirtschaftlich stärker beziehungsweise unmittelbarer bedroht gewesen wäre und einige Dinge dadurch womöglich in einem anderen Licht sehen würde, das ist ja durchaus möglich.
Das erste Getränk, das du in einer Bar bestellst: Ein großes Pils natürlich.
Deine Lieblingsserie: Boah, keine Ahnung … ich bin ohne Fernseher aufgewachsen und habe mich danach auch mit der Treue zu Serien immer schwer getan, auch wenn ich schon so einiges wirklich gut fand.
Metalszene: Na ja, Szene halt …
Das letzte Album, das du gehört hast: So richtig war das gestern „Enjoy The Violence“ von Massacra, aber zum Kaffee gab es heute früh etwas halbherzig ein klein wenig die „Legend II“ von Saviour Machine.
Koksnutten: … und Säcke voller Goldtaler! (lacht)
NOCTE OBDUCTA in zehn Jahren: Gib mir in zehn Jahren den Punkt „NOCTE OBDUCTA vor zehn Jahren“.

Wird gemacht! Das machen wir aber jetzt auch gleich – und zwar im zweiten Teil des Interviews, über die lange und bewegte Geschichte von NOCTE OBDUCTA.

>> Teil 2 über über so ziemlich alles zwischen 1995 und 2020

 

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Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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