Interview mit Jason Netherton von Misery Index

Mit „Rituals Of Power“ haben MISERY INDEX ein gewohnt politisches Album veröffentlicht. Wir haben Jason Netherton zum Interview gebeten und mit ihm über die neue Platte, aber auch über Rassismus, Politik und Einwanderung gesprochen.

Hallo Jason! „Rituals Of Power“ wurde vor kurzem veröffentlicht. Wie ist es bisher in den Medien und auf Tour angekommen?
Besser als jedes Album zuvor: Es ist der Wahnsinn, die Musik scheint bei vielen Leuten Anklang zu finden, und das auf verschiedene Art und Weise. Klar gibt es immer welche, die sagen „Nur die alten Sachen sind gut“, aber das lässt sich nicht vermeiden. Die Touren bisher waren super und die neuen Songs kommen stets sehr gut an.

“Rituals Of Power“ fühlt sich an wie die logische Fortsetzung von “Heirs To Thievery“, besonders hinsichtlich des Aufbaus einiger der schnelleren Songs (“New Salem“, “Decline And Fall“ und “Naysayer“ auf “Rituals Of Power“, “You Lose“, “Plague Of Objects“ und “Embracing Extinction“ auf “Heirs To Thievery“) und dass “The Killing Gods“ ein bisschen „the odd one out“ ist. War “The Killing Gods“ eher ein Experiment für euch?
Ja, war es: Die erste Hälfte des Albums (das „Faust“-Stück, das die ersten fünf Songs ausmachte) hatte Mark ursprünglich als einzelnes zusammenhängendes Stück geschrieben, deswegen hatte es einen eigenen Vibe. Darüber hinaus bestand das Album zur Hälfte aus Riffs, die Mark schon vor Ewigkeiten geschrieben, aber nie wirklich benutzt hatte. “The Killing Gods“ ist daher so etwas wie eine EP, wobei die zweite Hälfte vielleicht eher einen klassischen MISERY-INDEX-Sound hat.

Lass uns über die Texte auf „Rituals Of Power“ sprechen: Ihr vermittelt darin ein extrem pessimistisches Weltbild – quasi jeder Song dreht sich um den Untergang der Menschheit. Ist das tatsächlich, wie ihr die Welt seht?
Ich richte mich da nach dem Motto eines alten sozialistischen Schriftstellers. Es lautet: „Pessimism of the intellect, optimism of the will”. Das fasst es für mich ganz gut zusammen. Du musst kritisch sein und durch das Oberflächliche und Fassadenhafte der Gesellschaft sehen, besonders die Dinge, die als „alternativlos“ gelten: Unser Wirtschaftssystem und die Art, nach der unser Leben in der modernen Gesellschaft organisiert ist. Ebenso werden unsere Medien extrem von Ideologien beeinflusst – daher ist eine kritische, skeptische und pessimistische Sichtweise notwendig, um sich in dieser hypermediatisierten Welt zurechtzufinden. Andererseits sind die Motive und Ziele dieser Kritik positiv: Es geht darum, einen Ausblick auf eine bessere Welt inklusive einer nachhaltigeren Lebensweise darzustellen. Wir hoffen darauf, und deswegen handelt es sich bei den Texten nicht um eine Utopie: Kritik ist ein Bestandteil des täglichen Lebens und notwendig, um kulturelle und intellektuelle Stagnation zu Gunsten progressiven, ganzheitlichen Denkens zu fördern. Wir befolgen mit unseren Texten diese Methode, indem wir die „Rituals Of Power“ der Geschichte untersuchen und kommentieren.

In “New Salem” singt ihr über „sozial verhexte “fascionistas“ (ein Neologismus aus fashionista“ und fascist“, Anm. d. Red.), die „die Sprache unterdrücken“ (“suppress speech“, „Bücher verbrennen“ und „die Echokammer befeuern“ (“feed the echo chamber“). Geht es euch dabei um liberale Amerikaner, die die Ansicht vertreten, dass Worte Gewalt darstellen und dass „Hate Speech“ verboten werden sollte? Inwieweit widersprecht ihr Letzterem, und warum? Ist eine Einschränkung des First Amendment (der erste Verfassungszusatz, der in den USA unter Anderem die Meinungsfreiheit garantiert, Anm. d. Red.) in euren Augen ein Schritt in Richtung Faschismus?
Ich denke, Mark wollte mit diesem Text ein bisschen Ausgleich in den oft sehr binären politischen Diskurs in Sachen Kultur bringen: Das Problem ist das Ausmaß, in welchem kulturelles Schaffen von Leuten „überwacht“ und eingeschränkt (policed) wird, die für sich in Anspruch nehmen, im öffentlichen Interesse oder im Namen eines progressiven Weltbildes zu handeln. Um es klarzustellen: Wir sind überzeugte Antifaschisten; aber es ist unproduktiv, so viel Zeit und Energie aufzubringen, um die Aussagen rechter Idioten zu überwachen und zu regulieren. Es führt dazu, dass es immer weiter in einer „Echokammer“ hin und her geht beim Versuch, sich gegenseitig zum Verstummen zu bringen. Ich denke, es bringt nichts, „Speech Suppression“ zu benutzen, um die Meinung von Leuten zu verändern: Selbst wenn deren Meinungen dumm und idiotisch sind, macht das Aussprechen dieser Meinungen die Idioten lediglich idiotischer. Es gibt taktisch klügere und viel effektivere Wege, um Faschismus zu bekämpfen.

Was wäre denn in euren Augen ein angemessener Schritt, um rassistische (Waffen-)Gewalt zu bekämpfen?
Diese Themen hängen mit anderen, viel größeren Problemen zusammen: Wir müssen beispielsweise gesellschaftliche Missstände mit besseren Gesetzen bekämpfen. Mit der Waffenproblematik im Besonderen ist es jedoch so, dass es eine lange Tradition von privatem Waffenbesitz gibt, die hunderte Jahre zurück reicht: Deswegen gibt es eine Menge Widerstand (gegen strengere Waffengesetze) von Menschen, die das als Grundrecht und Teil ihrer Identität sehen, vor allem in ländlichen Gegenden. Rassismus hingegen ist etwas, das gelernt und beigebracht wird. Ihm kann man also durch bessere Ideen und Bildung begegnen, mehr Zuhören (anstatt Schreien) und mehr Mitgefühl. Rassismus hat seine Wurzeln jedoch auch in ökonomischer Ungleichheit, und wirkt sich auf den Arbeitsmarkt, den Zugang zu Wohnraum, einer Krankenversicherung und ausreichender Schulbildung aus – hängt also auch wieder mit komplexen politischen Fragestellungen zusammen.

Habt ihr von Fans oder Medien negatives Feedback wegen „New Salem“ bekommen, etwa weil euch Leute vorgeworfen haben, damit Rassismus Vorschub zu leisten?
Nein, überhaupt nicht. Ich denke, die Leute wissen, dass wir uns für eine progressive, Menschenrechts-orientierte und sozial inklusive Politik einsetzen und dass wir, in diesem Fall, vor allem die Strategie anstatt des Ziels, das da wäre, Mitgefühl über Ignoranz zu stellen, kritisieren.

Auf “Heirs To Thievery” habt ihr das Thema des amerikanischen Völkermordes an der Bevölkerung der Native Americans im 19. Jahrhundert thematisiert. Ist das ein Thema, das in irgendeiner Weise im öffentlichen Diskurs präsent ist?
Nein, es kommt im Mainstream-Diskurs quasi nicht vor. Manchen Leuten ist klar, was passierte, es wird in den Schulen bis zu einem gewissen Grad gelehrt, aber wir sind weit entfernt davon, regelmäßig darüber zu diskutieren. Manchmal kommt es im Zusammenhang mit speziellen Themen hoch, wie neulich mit dem Keystone-Pipeline-Protest (eine Öl-Pipeline von Kanada in die USA, die über das Land von Native Americans verlaufen sollte, die in den letzten Jahren zu großen Protesten wegen der ökologischen Gefahren geführt hat).

Eure Texte drehen sich einerseits oft um Kapitalismus und soziale Probleme – andererseits trefft ihr diese Art von Aussagen nicht über Rassismus. Sind die beiden Themen eurer Meinung nach ohnehin untrennbar verbunden, sodass das eine das andere beinhaltet, oder ist euch die Reform / die Abschaffung des Kapitalismus wichtiger?
Ich denke schon, dass es sehr miteinander zusammenhängt: Die Zugehörigkeit zu einer Klasse hängt sehr eng mit der „Rasse“ zusammen. Armut befördert alle möglichen Arten von Teilung und befeuert diese in der Gesellschaft – die Rasse ist ein Marker für alles, was im gesellschaftlichen Sinne „anders“ ist: Besonders wenn die Städte de facto segregiert sind, also weiße Betreiber der Gentrifizierung in einem Teil, arme schwarze und Latino-Bewohner im anderen Teil der Stadt wohnen, treten die Parallelen sehr deutlich zu Tage. Vor diesem Hintergrund geht es in Songs, welche Fragen der Klassenzugehörigkeit behandeln, immer auch um Fragen von “race” und Rassismus. Was Lieder anbelangt, in denen es explizit um Rassismus geht – da kann ich dir „Angst isst die Seele auf“ von “Retaliate“ nennen.

Ihr vergleicht Menschen in euren Texten oft mit Ungeziefer, bezeichnet sie als Dreck oder Abschaum, zum Beispiel in “The Choir Invisible“ und “They Always Come Back“. Ich gehe davon aus, dass es in Letzterem um Flüchtlinge geht, die aus ihren Heimatländern fliehen müssen. Würdest du sagen, dass Flüchtlinge in anderen Teilen der Welt so wahrgenommen werden?
Ich benutze gerne solche Metaphern: Sie vermitteln eine starke Bildsprache und verleihen den Texten Rauheit, die gut zu der Härte der Musik passt. In „The Choir Invisible“ nimmt das lyrische Ich die Perspektive derjenigen ein, die Flüchtlingen nicht helfen würden, die diese Begriffe und die Sprache nutzen würden, um sie zu dehumanisieren. Diese Kritiker, die Flüchtlingen keine Hilfe leisten, und die keinerlei Mitgefühl haben, gebrauchen diese Sprache, um ein gegensätzliches Narrativ und nativistische Gefühle zu erzeugen. Das ist bei  „They Always Come Back“ anders: Es ist eher eine fiktionale, post-apokalyptische Erzählung von der Menschheit, die sie durch ihre eigenen, zu cleveren Technologien zerstört hat – mehr oder weniger wie Ungeziefer, das am unteren Ende der evolutionären Nahrungskette steht.

Inwieweit ist die Situation an der mexikanischen Grenze die logische Folge des Verhaltes aller Parteien in Bezug auf dieses Problem? Denkst du, dass die Politik irgendwann in der Lage sein wird, die Stellung der Flüchtlinge in den nächsten Jahren besser zu regeln  – möglicherweise, wenn ein Demokrat zum Präsidenten gewählt wird?
Ich denke, das Grenzthema ist ein Werkzeug für die Rechten in der USA; hier spielen erneut die Furcht vor Migranten und die Furcht vor dem Fremden ‒ als Ablenkung vor echten Problemen ‒ eine Rolle. Das erlaubt es ihnen, andere, dringendere Themen an den Rand der Berichterstattung zu drängen. Das größte Problem ist, dass die Grenz- und Migrationsbehörden extrem unterfinanziert sind – darüber hinaus sollte es humanere Optionen und Prozesse für Menschen geben, um Asyl zu beantragen und ins Land zu kommen, um Arbeitsvisa zu bekommen und so zur Gesellschaft beizutragen.

Das Album-Cover zeigt eine Schiffflotte mit Schiffen, die aus Skeletten bestehen – wer steuert diese Schiffe und wohin fahren sie?
Das Album-Cover soll das bedeuten, was du oder irgendwer anders sich darunter vorstellt…wir freuen uns, dass es vage genug ist, verschiedenen Interpretationen Raum zu bieten; für uns stellt es primär das Konzept des „Todes der Wahrheit“ (death of truth) dar. Das ist das lose Thema das Albums (darum das „Veritas“, das auf der Steintafel steht, die eines der Skelette an der Spitze einer der Steinsäulen auf dem Cover umklammert). Es ist das Motto unserer Zeit, und das letzte Kapitel der “Rituals Of Power“.

In euren Texten benutzt ihr oft Metaphern aus der griechischen Mythologie ‒ „Cronus eats the young“, „the spear of Osiris“ oder „Diolysian days“, um nur ein paar zu nennen: Kannst du erklären, woher diese Vorliebe stammt und was du damit ausdrücken möchtest?
Ich bin ein großer Fan der Metaphern und Allegorien klassischer Literatur und ich nutze diese oft, wenn ich Inspirationen suche oder Themen historisch grundieren möchte. Die Arbeiten der klassischen Mythologie sind der grundlegende Kanon großartiger Geschichten. Von da aus gibt es viel, was wir nutzen können, um die ethischen Herausforderungen, die vielen unserer aktuellen Probleme zugrunde liegen, zu interpretieren und zu reflektieren.

Ihr habt auf einer Reihe von Shows in Deutschland dieses Jahr Songs von praktisch allen Alben gespielt, bis zurück zu “Discordia” und “Retaliate”: Legt ihr Wert auf eine ausgewogene Setlist? Vielleicht auch weil ihr noch „Fans“ der alten Songs seid?
Ja, es ist immer gut, ein paar ältere Songs im Set zu haben; es geht nicht immer nur um das „Neueste“. Wir haben inzwischen fast 100 Songs zur Auswahl, deswegen wird es immer schwieriger. Aber wir denken stets, wir haben ein paar von jedem Album, die wir spielen müssen. Sie sind entweder gute Live-Songs oder Songs, die Teil unserer „Live-Identität“ geworden sind (wie bei jeder Band, die ihre Go-To-, Band-definierenden Live-Songs hat. Ich persönlich mag die alten Lieder immer noch; sie stellen gleichzeitig eine Verbindung sowohl zum Publikum als auch zur Bandgeschichte dar.

Jason, du absolvierst gerade ein PhD-Programm in Media Studies an der Western University of Canada – ist das etwas, das du neben deiner Karriere bei MISERY INDEX verfolgst? Wie integrierst du das in den Tour-Plan?
Ja, ich bin jetzt schon einige Jahre dran. Es ist schwierig miteinander zu vereinbaren. Wir waren jedoch in den letzten Jahren nicht mehr so viel auf Tour, es wird also besser. Ich hoffe, ich werde bald damit fertig.

Mark hat kürzlich in einem Artikel über die Notwendigkeit gesprochen, sich vor „nicht-konsensuellen Kräften, die versuchen, deine Individualität zu unterdrücken, indem sie eine konformistische Agenda der Massenkontrolle“ verfolgen, zu schützen – kannst du erklären, was damit gemeint ist?
Ich denke, die größte Gefahr sind unsere Medien selbst, die von sich individualisierenden Ideologien abhängen und diese fördern. Eine Plattform wie Facebook, um ein offensichtliches Beispiel zu nennen, funktioniert nach der operativen Logik der Profitmaximierung, wofür jeder Nutzer individualisiert wird (um Daten zu extrahieren). Danach wird jedem eine algorhythmisch bestimmte Masse an Informationen geboten, die am besten zu ihm „passt“, um seine Aufmerksamkeit auf der Plattform zu halten (und sie an Werbeunternehmen zu verkaufen). Diese Plattformen neigen immer zu Medien, welche Leute bei der Stange halten, indem sie ihre Vorurteile und ihr Weltbild bestätigen und damit verstärken. Wir leben somit alle auf unserem eigenen Plateau der Ansichten und Erfahrungen und interagieren kaum mit der der anderen. So wird das soziale Gefüge der Gesellschaft auseinander genommen.

Ich würde das Gespräch gerne mit einem kleinen Brainstorming beenden: Was kommt dir bei folgenden Begriffen in den Sinn?
Rammstein: Richtig gute Live-Show. Sie gebrauchen auf eine clevere Art und Weise Sprache, Bilder und Überzeugung, um Konventionen zu erschüttern.
Donald Trump: Das Schlimmste, das der Welt in der jüngeren Geschichte passiert ist.
Klimawandel: Das dringendste Problem, mit dem die Menschheit konfrontiert ist
Dein momentanes Lieblingsalbum: Chapel of Disease – And As We Have Seen the Storm
MISERY INDEX in 10 Jahren: Wahrscheinlich machen wir dasselbe wie jetzt: Songs schreiben, aufnehmen und gelegentlich auf Tour gehen. Wieso nicht?

Jason, danke für das Gespräch.
Danke für den Support. Fight the good fight!

 

Publiziert am von Pascal Stieler

Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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