Wer im Jahr 2021 Post-Punk spielen möchte, sollte sich unbedingt FOTOCRIME zum Vorbild nehmen. Mit „Heart Of Crime“ hat Projektkopf Ryan Patterson im Corona-Lockdown eine fantastische Platte geschaffen, die das Genre nicht nur von seiner besten Seite zeigt, sondern es auch untrennbar mit artverwandten Musikrichtungen wie EBM und Synth-Pop verknüpft. Wie Patterson damit zurechtkam, wegen des Lockdowns notgedrungen erstmals in die Rolle des Produzenten zu schlüpfen, warum auf dem größtenteils von ihm allein aufgenommenen Album so viele Gastbeiträge zu hören sind und weshalb seine Musik trotz ihres modernen Sounds eng mit den Ursprüngen des Punk verbunden ist, schildert Patterson im folgenden Interview.
Deine Musik wird oft mit Post-Punk assoziiert, hat mit Punk im engsten ursprünglichen Sinn klanglich aber nur noch wenig zu tun. Siehst du dich selbst dennoch als Punk-Musiker?
Ich betrachte mich als Punk im Allgemeinen, nicht nur als Musiker. Meine Verbindung zur Kunst, Musik, Ethik und Gemeinschaft des Undergrounds bezieht sich darauf, wie ich Punk als Kultur definiere und wie sie sich auf meine Arbeit in allen Bereichen auswirkt. Bei dem Konzept des Post-Punk in den späten 1970er Jahren ging es ursprünglich darum, einige der reduzierenden Merkmale des frühen Punk oder zumindest die engstirnigen Ansichten bestimmter Punk-Fans zu überwinden, aber nicht darum, die ursprünglichen Konzepte des Punk hinter sich zu lassen. Suicide war wohl die erste „Punk“-Band und gleichzeitig die Blaupause für den Post-Punk, so gesehen hat FOTOCRIME viel mit dem Punk in seinen frühesten Ausprägungen zu tun. Ich denke aber nicht über all das nach. Ich weiß, wer ich bin, und meine Einflüsse, Geschmäcker und Kreationen umfassen alles, was mich bewegt, unabhängig von der Definition.
Du hast mit „Heart Of Crime“ ein neues Album am Start. Ich habe den Eindruck, dass du darauf mehr denn je auf Electro-Sounds anstelle von Gitarren setzt. Wie schwierig ist es, beim Songwriting von einem so stilprägenden Instrument Abstand zu nehmen?
Ich liebe es, Gitarre zu spielen, ich liebe ihren Klang, ich liebe es, wie sie sich in meinen Händen anfühlt, wie eine Gitarre aussieht. Ich habe weder Interesse noch die Absicht, mich von der Gitarre zu distanzieren. Ich fühle mich eins mit der Gitarre und zusammen mit meiner Stimme kann ich mich am besten mit einer Gitarre klanglich ausdrücken. Ich liebe und schätze jedes Instrument, aber ich liebe auch bestimmte Synthesizer und Drumcomputer besonders. Normalerweise beginne ich das Schreiben von Songs mit der Bassgitarre und ich habe es genossen, die Grundlage für einen Song mit dem Bass zu schaffen.
Rock- und Punk-Fans können in dieser Hinsicht ziemlich engstirnig und abschätzig sein. Hattest du Sorge, dass deine neuen Songs mit weniger Gitarren bei den Leuten schlechter ankommen könnten?
Darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich mache Musik für mich selbst und wenn sie anderen gefällt, dann ist das wunderbar und ich weiß das sehr zu schätzen. Von den elf Songs auf „Heart Of Crime“ sind zwei komplett elektronisch. Ich glaube, auch auf meinem vorherigen Album „South Of Heaven“ gab es zwei komplett elektronische Songs. Ich mache das, was sich für den Song richtig anfühlt und was mich bewegt.
Nicht nur instrumental, sondern auch soundtechnisch klingt deine Musik wesentlich glatter als man es von klassischen Punk-Platten kennt. Haben amateurhaft gespielte Instrumente und Lo-Fi-Produktionen deiner Meinung nach heute noch eine Daseinsberechtigung?
Ich denke, dass großartige Songs zum Vorschein kommen und die Produktion ein Teil der Kunst ist. Einige meiner Lieblingsplatten der letzten Zeit sind rohe Hardcore-Platten, einige meiner Lieblingsalben der letzten Zeit sind hochproduziert. „Heart Of Crime“ habe ich zu Hause aufgenommen und selbst abgemischt, es ist ein komplettes DIY-Album und -Recording, aber absichtlich nicht lo-fi.
Zu dem Track „Delicate Prey“ gab es vorab ein Musikvideo. Mit seinen hellen Farben und sauberen, werbetauglichen Aufnahmen scheint der Clip im Widerspruch zur Musik, die eher an eine schummrige Club-Tanzfläche denken lässt, zu stehen. Wie passt das aus deiner Sicht zusammen?
„Delicate Prey“ ist ein fröhlicher Song, und ich wollte, dass die dazugehörigen Bilder mit dieser Freude in Verbindung stehen. Tanzclubs mögen nachts gedeihen, aber im Allgemeinen sind sie eine Explosion der Beleuchtung und alles andere als schummrig oder dunkel.
Du stehst bei Profound Lore unter Vertrag – ein Label, das viele Metal-Bands beheimatet. Hast du selbst auch einen Bezug zu Metal-Musik?
Profound Lore ist ein unglaubliches Label, das eine beeindruckend große Vielfalt an Veröffentlichungen hat. Ich habe keine Verbindung zum Metal als Szene oder Kultur, aber ich liebe viele Metal-Bands, von Eyehategod über Judas Priest und Bolt Thrower bis hin zu Witchery und darüber hinaus.
Verbrechen ist ein soziales Konstrukt, das du im Titeltrack deiner neuen Platte gewissermaßen wegdenkst („There’s No Law You Can Break“). Wie ist vor diesem Hintergrund der Albumtitel zu verstehen – geht es darum, dass wir alle kriminelle Energie in uns tragen, um die Essenz des Verbrechens an sich oder um etwas anderes?
Ich denke, ein Song muss nicht unbedingt wörtlich eine bestimmte Idee oder Sichtweise ausdrücken. Manchmal sind meine Songs wortwörtlich, manchmal sind sie persönlich, manche sind erzählerisch oder bildlich oder sogar surreal. Das ist etwas, was ich beim Schreiben von Texten sehr genieße. „Heart Of Crime“ ist sowohl ein Albumtitel als auch ein Song, den der Hörer auf seine eigene Weise interpretieren kann. Für mich haben sie eine Menge Bedeutungen. In gewisser Weise steht er in direktem Zusammenhang mit FOTOCRIME, in anderer Hinsicht bezieht er sich auf Kriminalität im sozialen Sinne und den sozialen Vertrag zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft, aber ich bin mir nicht sicher, ob der Erzähler des Liedes oder das „Du“ im Text unbedingt gut ist oder einen Standpunkt vertritt, dem ich selbst zustimme. „Legend in your own mind“ ist eigentlich eine Beleidigung. Das Lied ist so etwas wie ein spiritueller Raubüberfall.
Während einige Songs wie „Politi Policia Polizei“ und „Industry Pig“ politische Themen andeuten, wirken etwa „Crystal Caves“ und „Skinned Alive“ eher persönlich. Siehst du „Heart Of Crime“ insgesamt eher als politisches oder persönliches Werk?
Für mich sind das Persönliche und das Politische völlig miteinander verwoben und auch wenn politische Konzepte zwangsläufig nach außen gerichtet sind, so haben sie doch immer einen persönlichen Hintergrund und eine persönliche Perspektive. „Industry Pig“ ist tatsächlich eine sehr spezifische persönliche Perspektive und wurde nicht unter einem allgemeinen Gesichtspunkt geschrieben. „Crystal Caves“ ist Teil der lokalen Folklore, es ist eine Interpretation des Todes von Floyd Collins in der Crystal Cave mit einer Verbindung zu buchstäblicher und emotionaler Klaustrophobie sowie der allumfassenden Kraft der Natur. „Skinned Alive“ ist sehr persönlich, hat aber auch einen direkten Bezug zu einem bestimmten Horrorfilm. „Politi…“ ist ernst, aber sehr satirisch… Überall, wo man hinkommt, sind Polizeiautos. Das ist eine lange Umschreibung dafür, dass das alles sehr persönlich und sehr politisch ist, aber gleichzeitig so weit von beidem entfernt, dass ich mich wohlfühle, wenn ich es mit der Welt teile.
Du scheust dich nicht davor, dich in den sozialen Medien politisch zu äußern. Beispielsweise hast du auf die prekäre Lage der Menschen in Palästina aufmerksam gemacht und dich für die Black-Lives-Matter-Bewegung ausgesprochen. Musstest du deswegen Anfeindungen hinnehmen?
Nein, und ich würde mir auch keine Anfeindungen von jemandem gefallen lassen, der sich nicht auf die Seite der Unterdrückten stellt und die Unterdrückung bekämpft.
Wir leben in politisch herausfordernden Zeiten: Die COVID-19-Pandemie ist noch nicht überstanden, die Gesellschaft in den USA scheint nach dem erbitterten Wahlkampf und dem Ansturm auf das Capitol mehr denn je gespalten zu sein, Klimakrise und autokratische Regierungen sind auf dem Vormarsch. Kann man aus deiner Sicht überhaupt noch hoffen, dass sich alles zum Guten wenden wird?
Ich hoffe es. Massive gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen kommen nur sehr langsam voran. Es scheint, dass „ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ in diesem Zusammenhang ziemlich zutreffend ist. Ich hoffe, dass wir schnell genug vorankommen können, um den Planeten vor einer Katastrophe zu bewahren und rassistische, frauenfeindliche, fremdenfeindliche und unterdrückerische Überzeugungen hinter uns zu lassen.
„Heart Of Crime“ ist während der COVID-19-Pandemie und somit unter den Eindrücken großer gesellschaftlicher Einschränkungen entstanden. Wie hat sich diese Situation auf dich ausgewirkt?
Es ist schwer, das alles auf die Schnelle zusammenzufassen. Ich musste sofort alle meine Tourneen absagen, aus Kalifornien nach Hause fahren, mein ganzes musikalisches Leben und mein neues Album auseinanderfallen sehen. Kurz darauf starb ein sehr enges Familienmitglied unter Umständen, die mit der Pandemie zusammenhingen. Es war in dieser Hinsicht und in vielerlei Hinsicht schrecklich. Es war ein sehr hartes Jahr.
Du hast die Platte erstmals beinahe vollständig auf dich allein gestellt aufgenommen und gemixt. War das eine große Herausforderung für dich?
Ja, das war es. In vielerlei Hinsicht war es sehr einschüchternd und beängstigend. Ich habe viele Jahre lang mit J. Robbins zusammengearbeitet, der den Großteil meiner Musik produziert, aufgenommen und abgemischt hat, sodass es sehr anstrengend war, allein aufzutreten. Glücklicherweise hatte ich nichts als Zeit, sodass ich mir Zeit nehmen, viel lernen und es genau so klingen lassen konnte, wie ich es wollte. Das war sehr lohnend und bedeutsam für mich. Als ich mir die Testpressung der LP zum ersten Mal anhörte, hatte ich ein so seltsames Gefühl, das ich nicht ganz erklären kann, anders als bei all den anderen Testpressungen meiner Veröffentlichungen in meinem Leben. „Heart Of Crime“ ist die direkteste Destillation meiner selbst, die ich je gemacht habe.
Das Endergebnis klingt erstaunlich gut abgerundet. Kannst du dir vorstellen, deine Musik auch in Zukunft so zu kreieren, oder fehlt dir die hautnahe Zusammenarbeit mit anderen Musiker*innen und Produzent*innen?
Danke, es bedeutet mir viel, das zu hören. Ich denke, ich werde jede Situation zu gegebener Zeit beurteilen. Ich genieße die Kameradschaft beim Musikmachen mit anderen Leuten, ich liebe es, in einem Aufnahmestudio zu sein, ich mag es, den Input und die Talente von Leuten zu bekommen, die ich respektiere. Aber ich schätze auch die Möglichkeit, mir Zeit zu nehmen und nicht jeden Tag Hunderte oder Tausende von Dollar auszugeben, um Musik aufzunehmen. Die persönliche Befriedigung und die kreative Freiheit, die ich durch meine eigenen Aufnahmen erhalte, sind ebenfalls sehr reizvoll und erfreulich. Ich bin sicher, dass es in Zukunft eine Mischung aus all diesen Optionen geben wird.
Auf dem Album finden sich laut der Bandcamp-Beschreibung allerdings zahlreiche Gastbeiträge, sogar kleine Details wie die von Ben Sears beigesteuerten Hi-Hats in „Crystal Caves“. Wie kam es dazu, dass doch so viele Musiker*innen – wenn auch teils nur im Kleinen – an der Platte mitgewirkt haben?
Es bedeutet mir viel, meine Freunde in meiner Musik zu involvieren. Wenn ich also etwas brauche, das ich nicht selbst machen kann, oder wenn ich das Gefühl habe, dass ein Freund es besser machen könnte, dann bitte ich ihn, sich zu beteiligen. Einige von ihnen sind zu mir gekommen, um Teile aufzunehmen, andere haben sie aus der Ferne selbst aufgenommen. Alle Gäste, die auf dem Album zu hören sind, sind langjährige Freunde von mir, einschließlich all der Leute, die bei FOTOCRIME live gespielt haben, mit Ausnahme von Pall Jenkins von Black Heart Procession / Three Mile Pilot, einem Freund, mit dem ich noch nie musikalisch gearbeitet habe.
Du spielst auf „Inferno Rebels“ außerdem selbst das Saxophon. Was hat dich dazu inspiriert, dieses Instrument aus deiner Vergangenheit wieder aufzugreifen und wie schwer ist es dir gefallen, dich wieder einzuspielen?
Ich bin definitiv ein Saxophon-Anfänger, aber es hat Spaß gemacht, das Instrument wieder zu spielen. Ich habe es ein bisschen in meinem Mittelschulorchester gespielt, aber nur ein ganz kleines bisschen. Ich hatte mir überlegt, es wieder zu versuchen, also habe ich mir schließlich ein Tenorsaxophon gekauft und angefangen zu spielen. Ich hoffe, dass ich damit weitermachen und besser werden kann. Es war toll, es bei einigen Songs auf der Platte zu spielen, es ist auch bei „Crystal Caves“, „Politi…“ und „Zoë Rising“ zu hören.
Auf welchen Aspekt von „Heart Of Crime“ bist du besonders stolz?
Ich kann nicht sagen, dass es einen einzelnen Aspekt gibt, den ich herausheben würde, ich sehe es als ein ganzes Werk. Das Songwriting, die Texte, die Performance, die Aufnahme, das Abmischen, das Artwork, es ist alles ein Ganzes und ich bin sehr stolz auf alles.
Wie wird es nun mit FOTOCRIME weitergehen?
Nick Thieneman und Aon Brasi werden sich mir anschließen, um im Herbst wieder Shows zu spielen, und ich kann es kaum erwarten. Ich hoffe, dass ich 2022 nach Europa zurückkehren kann. Wir drei haben vor kurzem im legendären Inner Ear Studio in Washington DC mit J. Robbins als Produzent ein paar neue Songs aufgenommen, ich habe eine Reihe weiterer unveröffentlichter Songs und arbeite auch an einem Instrumentalalbum.
Zum Abschluss noch ein kurzes Brainstorming. Was fällt dir zu den folgenden Begriffen ein?
„Punk ist tot“: The Exploited
Impfpflicht: Überleben
Billie Eilish: Marketing
Globale Mindeststeuer: Gleichbehandlung
Verschwörungstheorien: Themenverfehlung
Nachtleben: Killing Jokes „Night Time“
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Vielen Dank für das Interview und danke fürs Lesen.
Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
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