Interview mit Doris Yeh von Chthonic

CHTHONIC sind zweifelsfrei Taiwans Metal-Exportschlager. Die Band brachte diesen August ihr neues Album „Mirror Of Retribution“ auf den Markt und tourte anschließend durch die USA und Großbritannien. Mit Bassistin Doris Yeh konnten wir nun über das neue Album, die orientalische Hölle, Politik und taiwanesisches Essen plaudern.

Hallöchen Doris – wie geht es dir denn heute?
Ich komme gerade von der US-Tour und der UK-Tour zurück und bin müde, aber zufrieden!

Euer neues Album „Mirror Of Retribution“ ist nun seit einigen Monaten auf dem Markt. Wie fühlt ihr euch damit?
Ich denke, dieses Album ist das beste, das wir bisher veröffentlicht haben. Die Reaktionen der Fans und Presse sind wirklich sehr gut, wir sind verdammt glücklich damit!

„Mirror Of Retribution“ war in vielerlei Hinsicht eine Überraschung für mich. Euer Songwriting hat sich massiv gesteigert, ihr klingt atemberaubend atmosphärisch. Wie ist denn das Songwriting und die Produktion gelaufen?
Ich denke, wir haben ein gutes Thema für das Album ausgewählt, weswegen wir auch sehr kunstvoll am musikalischen Teil arbeiten konnten und viel Raum hatten, in den wir verschiedenste Emotionen packen konnten. Das Songwriting ist uns hierbei wirklich außerordentlich gut gelungen. Zudem haben wir das Album in Los Angeles zusammen mit Rob Caggiano aufgenommen, was sehr zu einem straighten und schweren Sound beigetragen hat.

Mir gefallen ganz besonders die Momente, in denen die Er-Hu zum Einsatz kommt. Könntet ihr euch vorstellen, diese in Zukunft verstärkt einzusetzen, ohne damit möglicherweise zu folkig zu klingen?
Ich liebe den Sound der Er-Hu (Henna) – es hört sich genau so an, als würden Menschen schreien und das trifft einige Teile unserer Songs wirklich ziemlich gut. Aber ich denke, es kommt auf die Themen an, über die wir in der Zukunft schreiben werden, um zu sagen, wie viel Gebrauch wir von der Er-Hu machen oder nicht.

Der Albumtitel bedeutet übersetzt so viel wie „Spiegel der Vergeltung“ und er hält der Seele, die in die Hölle kommt, alle Sünden vor, die sie Zeit ihres Lebens begannen hat. Es gab davor noch keine Metal-Band, die sich so ausführlich damit beschäftigt hat, weil es einfach ein so weitreichendes Thema ist Was gab den Ausschlag für euch, es zu versuchen?
Wir haben eine sehr lange Zeit darüber nachgedacht, über die Philosophie der orientalischen Hölle und die historischen Hintergründe des „228-Massakers“ zu schreiben. Es ist ein gutes Thema, beinhaltet sehr viele starke Emotionen, ist brutal, traurig, grausam und kämpferisch zugleich und berichtet außerdem über den Wert und Mut eines einzelnen Herzens. Nachdem wir uns entschieden, das alles als Konzept für unser fünftes Album zu verwenden, begannen wir mit den Recherchen dazu. Den Namen der ersten Schicht der Hölle, „The Mirror Of Retribution“, haben wir deshalb als Titel gewählt, weil wir denken, dass sie gleichzeitig die grausamste Stufe der Hölle ist.

Anfang des Jahres hattet ihr die Ehre, den Dalai Lama zu treffen, der sich für euren Einsatz bei der Free Tibet-Kampagne bedankte. Wie war es für euch, eurem spirituellen Oberhaupt gegenüber zu stehen?
Ich persönlich bin leider zu diesem Zeitpunkt nicht mit nach Indien. Aber ich habe seine Weisheit zusammen mit einigen anderen Künstlern diesen März trotzdem in Taiwan treffen können. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, hat er uns ein großes Lächeln und einen warmen Händedruck geschenkt und dann haben wir gegenseitig Gedanken und Ideen ausgetauscht. Am Ende gab er uns die Worte „Gerechtigkeit soll offenbart werden“ mit auf den Weg – diese Worte kannst du nun als Tattoo auf meiner rechten Schulter begutachten.

Interessierte er sich auch näher für eure Musik, bzw. hat er sich damit auseinandergesetzt?
Als er das Foto gesehen hat, das wir für das „Free Tibet Konzert“ geschossen haben, auf dem wir in voller Montur und geschminkt zu sehen waren, lachte er und sagte: „Ihr seht wie Dämonen aus. Aber mir gefällt es!“ Ich denke, er hat unsere Musik bisher noch nicht gehört. Aber wenn er es in Zukunft wird, würde er sie wohl sehr interessant finden!

Politik in der Musik (speziell auch im Metal) wird nicht von jedem gerne gesehen. Welche Rolle spielt die Musik für die Politik deiner Meinung nach?
Leute zu töten ist wohl eines der beliebtesten Themen im Metal überhaupt. Und Politik tötet täglich Menschen. Da gibt es eine lustige Verbindung, nicht wahr?
Die Leute verlieben sich jeden Tag, darüber können Musiker genau so gut Texte schreiben. Die Politik tötet aber auch jeden Tag Menschen und Musiker müssen darüber Texte schreiben, anstatt wegzulaufen. Ich finde, Musik spielt eine sehr, sehr wichtige Rolle in allen Belangen der Menschlichkeit – darauf kommt es an!

Ich führe die europäische Verschlossenheit gegenüber Politik im Metal auch darauf zurück, dass wir keine schwierige nationale und kulturelle Lage haben, wie es bspw. in Taiwan und Tibet der Fall ist. Würdest du mir dabei zustimmen?
Politik hat viele verschiedene Aspekte. Sie besteht nicht nur aus Fragen der Anerkennung von Unabhängigkeitsansprüchen, sondern setzt sich auch mit anderen öffentlichen Probleme und Fragen wie der der Menschenrechte, Freiheit, sozialer Gerechtigkeit, Tier- und Umweltschutz auseinander. Es gab schon viele Bands, die darüber geschrieben haben – wie etwa Megadeth, die gegen den Krieg oder Anthrax, die gegen Rassismus sind, wie The Agonist, die sich für den Tierschutz einsetzen. Selbst die antichristliche Black Metal-Bewegung in Skandinavien trägt Teile dieser Anschauung in sich.

Jedes Land hat seine eigenen Problemen, denen es entgegentreten muss. Die Politik bewegt dich zwar gleichzeitig dazu, dich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen, zeigt dir aber auch, wie weit du eigentlich davon entfernt bist und wie wenig du dagegen tun kannst. Sie kontrollieren alles, was um dich herum geschieht und letztendlich kontrollieren sie auch dich.

Metal behandelt immer die extremsten Sichten des Lebens, wir eine davon. Wir schreiben über die extremsten Gefühle in der realen Geschichte und Mythologie unseres Landes. Würde es jemand Folk Metal nennen, wären wir trotzdem die einzigen, wären wir die einzigen, die sich über die Geschichte der heutigen Zeit interessieren – die nennt sich nämlich Politik. Mut und Gerechtigkeit sollten in jeder Generation den gleichen Wert haben und erstrebenswert sein.

Ihr nehmt seit 1999 Alben auf. Ist es für euch in diesen 10 Jahren – ob politisch, musikalisch oder technisch – einfacher geworden? Hat sich überhaupt etwas geändert?
Die guten Dinge überwiegen glücklicherweise die schlechten. Was sich wohl am meisten geändert hat, ist unser Denken. Wir haben gelernt, wie wir uns trotz all der Frustration bewegen können, nicht zum Stillstehen kommen. Der Mut und das Vertrauen sollte in erster Linie von einem jedem selbst kommen, ehe er das auch von anderen Menschen erwartet. Ich denke, die Band wird noch viel ändern können, wenn die Leute zuerst eine andere Denkweise entwickeln.

Ihr werdet in Taiwan kontrovers diskutiert, weil ihr nicht über die obligatorischen – und von der Regierung geduldeten – Themen wie beispielsweise Liebe singt, sondern über Geschichte und Mythen und damit auch Kritik übt. Dient ihr da teilweise auch als Inspiration für andere Bands und Künstler?
Es gibt sehr viele Bands und Künstler in Taiwain, die genau so denken wie wir. Deshalb ist es schwer zu sagen, wer da wen inspiriert hat.

Ihr habt gerade die US-Tour hinter euch gebracht. Wie war es, vom kleinen Taiwan in die fast schon unrealistisch großen Staaten zu kommen? Gab es da vielleicht sogar einen kleinen Kulturschock?
Unsere erste US-Tour war damals 2007 beim Ozzfest und es war die interessanteste Tour, auf der ich bisher war. Verrückte Fans, absolut heißes Wetter und ein Tourbus, der die ganze Zeit kaputt ging… Das wirklich merkwürdige daran ist ja, dass ich mich immer noch nicht an die Toiletten dort gewöhnen kann – warum auch immer. Das ist für mich eigentlich der größte Kulturschock gewesen (lacht).

Gibt es schon Pläne, Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres wieder in Europa auf Tour zu gehen?
Wir hatten eine großartige Zeit in Großbritannien, wo wir unsere erste Headliner-Tour überhaupt spielten. Die Fans und Konzerte waren genial und die Distanzen zwischen den einzelnen Gigs waren schon weitaus besser zu verkraften als in den USA. Ich denke, wir werden so schnell wie möglich wieder nach Europa zurückkommen!

Du bist außerdem Schauspielerin. Wie geht es mit deiner Karriere voran? Ich hab gelesen, dass du eine Rolle in „Tears“ spielst?
Ganz genau! Die Geschichte handelt von einem Polizisten, der nach Wiedergutmachung sucht – ich spielte ein Mädchen, das ihm Betelnüsse verkaufte. Das wird der Eröffnungsfilm des diesjährigen Filmfestivals in Taiwan sein und wird im kommenden März in den Kinos erscheinen.

Wie würdest du Taiwan jemandem beschreiben, der noch niemals dort war?
Großartiges taiwanesisches Essen, das du in keinem Restaurant in Europa in vergleichbarer Qualität bekommen wirst! Diese Worte kamen mir gerade so in den Sinn… (lacht)

Doris, wir sind schon wieder fast fertig – jetzt kommt unser traditionelles Metal1.Brainstorming. Was fällt dir ein zu:

Katzen: meine besten Freunde
Taipei 101: für Touristen
Salmiakki: verrücktes Zeug…
Joey Wong: Gutes Mädchen
Touren: Burger King
Metal1.info: Tut mir leid wegen der Verspätung…

Vielen Dank für das Interview – es war mir ein Vergnügen. Habt eine gute Zeit!

Geschrieben am von Metal1.info

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