Triggerwarnung: Suizid (In diesem Interview wird u.a. darüber gesprochen, wie der Befragte mit dem Tod seines Vaters umgegangen und wie dieser Tod zustande gekommen ist. Sollte das Thema Suizid für dich relevant sein, kannst du dich z.B. jederzeit unter 0800 111 0 111 an die Telefonseelsorge wenden)
Ein Konzeptalbum über den Suizid des eigenen Vaters, das in 10 Tagen in totaler Dunkelheit entstanden ist – genau wie die Idee zum Projekt selbst. So lautet grob die Quintessenz von CHALBÄRÄ, dem neuen Ritual-Folk-Projekt des INFINITAS-Schlagzeugers Piri. Im Interview verrät er unter anderem mehr über die Hintergründe seiner neuen Musik, wie Ritual-Folk mit Schweizerdeutsch harmoniert und wie es ist, seinen Vater tot aufzufinden.
Hallo Piri! Du hast mit „Äschä stübt mee“ vor kurzem den ersten Song deines neuen, eigenen Projekts CHALBÄRÄ veröffentlicht. Wie es geht dir inzwischen damit? Wie zufrieden bist du mit den ersten Reaktionen?
Hoi Sigi, danke dir für die Frage. Es geht mir glänzend! Ich bin überwältigt davon, wie groß der Anklang meines ersten Songes ist. Ich war tatsächlich seeeeehr nervös, wie diese Art von Musik ankommt.
Woher stammt der Name CHALBÄRÄ und was bedeutet er?
CHALBÄRÄ ist ein Muotathaler Dialekt-Wort. Es hat drei Bedeutungen, welche allesamt perfekt auf meinen Prozess zutreffen. Das Wort kommt ursprünglich davon, wenn eine Kuh ein Kalb gebärt. In Bezug auf mich sehe ich dies als Neugeburt – Piri V2 sozusagen. Echter, ehrlicher, sensibler, eigentlich wirklich etwas wie neu geboren. „Herumchalbern“ steht wiederum für Blödsinn machen. Ich habe gelernt, dass das wichtig für mich ist, vor allem nach dem Suizid meines Vaters und dessen Auffinden. Da habe ich rund ein Jahr danach festgestellt, wie wichtig es ist, das innere Kind herauszulassen. „I chalbäräti nu“ als drittes bedeutet so viel wie „Mach doch nicht so ein Theater“ oder „Lass mal fünf gerade sein“. Mir wurde auch bewusst, dass Jammern nichts bringt. Ändere etwas oder finde dich damit ab.
Du hast gepostet, dass du die Idee zu dem Projekt hattest, als du zehn Tage in voller Dunkelheit verbracht hast. Wie darf man sich diese Eingebung konkret vorstellen und wie hast du dann begonnen, an dieser Musik zu arbeiten?
Ich war tatsächlich zehn Tage in kompletter Dunkelheit, ohne elektronische Geräte, ohne Menschen. Einfach nur ich allein und die Dunkelheit. Da hast du jeeeede Menge Zeit zum Studieren und man wird sehr feinfühlig. Ich habe in dieser Zeit viele Eingebungen erleben dürfen. Die kommen dann in den Kopf und es fühlt sich direkt sehr einfach, ganz logisch und korrekt an. Du weißt sofort: „Ja genau, so muss es sein“. Das sind manchmal nur Sekunden, aber du kriegst in wenigen Sekunden so viele Infos, die du alle verstehst und dann habe ich mir viele Notizen gemacht – ja genau, im Dunkeln und ich kann es sogar noch lesen. Ich hatte konkrete Ideen zu Songs, Texten und Themen. Auch das Logo für CHALBÄRÄ und das Album-Cover habe ich vor meinem geistigen Auge gesehen, ebenso wie die Video-Clips. Es war alles da! Jetzt geht es darum, diese wertvollen Eingebungen zu etwas Handfestem zu machen.
Du machst bei CHALBÄRÄ derzeit alles selbst. Was fällt dir dabei am leichtesten, was am schwersten?
Am einfachsten ist es für mich, schweizerdeutsche Videos zu erstellen. Da bin ich zu 100% echt, ultra autenthisch. Das geht mit Englisch oder Schriftdeutsch leider schon ein wenig verloren. Aber trotzdem versuche ich die Fans etwas wachzurütteln und meine Erlebnisse vom Zehn-Tage-Dunkel-Retreat, vom Suizid meines Vaters und seinen Depressionen ans Tageslicht zu bringen. Wenn ich damit mindestens einem Menschen auf der Erde helfen kann, hat es sich schon gelohnt!
Am schwersten ist es, alle Ideen und alles, was mir sonst nocht einfällt, unter einen Hut zu bringen. Es fehlt tatsächlich die Kapazität für alle meine Einfälle. Wenn Songwriting, Recording, Mixing, Mastering, Logo-Design, Cover-Artwork, Social-Media-Pflege, Merchandise-Design, Distribution weltweit sowie Video-Erstellung alles bei einer Person liegen, bleiben nicht viele Stunden übrig, um mal im Wald Inspiration zu holen. Dies erweist sich als etwas schwierig, dass ich mir genug „musikalisch-künstlerische Zeit“ einräume.
„Äschä stübt mee“ behandelt mit dem Suizid deines Vaters direkt ein sehr persönliches Thema. Du hast ihn damals tot gefunden und wirkst sehr aufgeräumt, wenn du darüber sprichst. Wer oder was hat dir dabei geholfen, dieses Ereignis (erfolgreich?) zu verarbeiten?
Schön, dass es so wirkt. Ich will auch aufgeräumt wirken, sodass sich interessierte Personen auch trauen sich zu melden und den Kontakt herzustellen. Tatsächlich habe ich das Ereignis sicherlich noch nicht fertig verarbeitet, falls das denn je klappen wird. Ich denke sehr viel daran. Manchmal auch täglich. Nicht im schlechten oder nachtragend, aber ich habe viele Berührungspunkte mit dem Ereignis und mit meinem Vater. Da wird man immer wieder erinnert. Zum Beispiel, dass er sich im Treppenhaus meines Elternhauses erhängt hat. Da gehe ich sehr oft ein und aus. Die Bilder bleiben da natürlich im Kopf. Aber auch hier möchte ich kurz erwähnen: Er sah sehr friedlich aus, als er da hing.
Am meisten hat mir aber der Zehn-Tage-Dunkel-Retreat geholfen. Ich hatte da super Begleitung: Ein Traumdeuter hat mitgearbeitet und meine Träume erleuchtet. Im Dunkeln hat man sehr kräftige und starke Träume. Ebenfalls hat es mir sehr geholfen wieder mehr Sport zu machen, was ich aktuell zu meiner Schande etwas vernachlässige. Ich habe beim Bouldern eine neue Leidenschaft entdeckt. Wenn du da an der Wand hängst, dann zählst nur du. Du allein. Alles andere, jeder Gedanke, ist unwichtig. Es zählt nur du und die Wand. Das hilft extrem, den Kopf zu lösen bzw. zu lüften.
Nach 1000 Plays bei Spotify hast du den nächsten Song angekündigt, der bereits fertig ist. Wie sehen deine weiteren Pläne für Chalbärä aus?
Genau, die zweite Single „Gäll Dädi Gäll“ erscheint am 7. August. „Gäll Dädi Gäll“ ist ein tiefgründiger Song in Muotathaler Mundart, der das universelle Bedürfnis beleuchtet, anderen gefallen zu wollen. Der Titel, der verschiedene Bedeutungen wie „Ist das nicht so, Vater?“ oder „Stimmt doch, oder?“ umfasst, reflektiert die Suche nach Anerkennung und die oft getragenen Masken, um diese zu erreichen. Der Song betont, dass wahre Akzeptanz in der Authentizität liegt und inspiriert dazu, die Masken fallenzulassen. Es folgen dann noch weitere Singles, bis schließlich das Album kommt. Und das ganze Album geht um die Thematik meines Vaters und um seinen Suizid. Es ist also ein Konzeptalbum.
Wird deine Musik weiterhin so persönliche Themen behandeln?
Ja, definitiv, zumindest sicher für das erste Album. Ich habe bereits eine Vision für das zweite, aber das liegt noch in der Ferne. Aktuell bleibt es definitiv so persönlich.
Kannst du uns vielleicht ein bisschen einen Ausblick auf ein mögliches Album geben? In welche Richtung kann/soll es musikalisch noch gehen?
Wie gesagt, das Album wird ein Konzeptalbum zum Suizid meines Vaters. Es hilft mir auch dabei, das Ereignis zu verarbeiten. Natürlich freut es mich sehr, falls sich Leute bei den Emotionen wiedererkennen. Ich habe übrigens auch schon den Albumnamen als Eingebung in der Dunkelheit erhalten. Es ist alles da. Ich brauche es nur noch in die physische Welt zu überführen.
Nordic-Ritual-Folk genießt vor allem dank dem Boom rund um Heilung immer noch eine große Beliebtheit. Ist das auch in der Schweiz so?
Ich denke gerade, weil sie eine sehr spezielle Nische abdecken und dies sehr authentisch tun, ist die Beliebtheit sehr groß. Menschen mögen es, wenn sie in eine Welt abtauchen können und für ein paar Stunden total den Alltag vergessen können.
Woher kommt deine Verbindung zum Folk?
Den urigen Anteil habe ich bestimmt von unserem Bergdorf mitgekriegt, da wird Musik von Hand gemacht, mit „Schwyzer Orgeli“ (Harmonika), Geige und Klarinette. Ich höre sehr gerne alte urige Musik. Am meisten inspiriert mich aber Danheim, da fühle ich mich zuhause.
Was hat dich dazu bewogen, Schweizerdeutsch mit dieser Art von Musik zu kombinieren?
Unser Bergdorf Muotathal spricht ein spezielles, sehr rares Schweizerdeutsch. Bereits zehn Kilometer außerhalb unseres Dorfes erkennen sie uns an der Sprache. Unser Dialekt ist rauer und erdiger als es sonst gesprochen wird. Zudem verwenden wir viele alte Wörter, welche in der Schweiz ansonsten nicht mehr verwendet werden. Ich werde sehr oft darauf angesprochen, dass ich einen einzigartigen Dialekt habe. Die Idee kam mir dann, dass ich so völlig authentisch sein kann. Dies mit nordischer Musik zu mischen, ist wohl der spirituelle Anteil in mir drin. Damit die Musik meditativ wird und zum Genießen oder auch zum Nachdenken und sogar zum Tanzen anregt.
Inwiefern helfen dir deine Erfahrungen als Schlagzeuger von Infinitas gerade dabei, CHALBÄRÄ als Projekt aufzuziehen?
Sehr! Wir machen bei Infinitas ebenfalls alles selbst. Und das ist eine Menge Arbeit. Wir sind auch schon in ganz viele Fettnäpfchen getreten und haben aus unseren Fehlern gelernt. All dieses Wissen hilft mir extrem und die anderen Bandmitglieder finden es toll, dass ich dieses Projekt gestartet habe und stehen hinter mir. Das hilft sehr.
Hast du andere Musiker oder Bands, mit denen du vorab oder jetzt über CHALBÄRÄ sprichst und die dich ggf. beraten oder unterstützen?
Natürlich spreche ich mit befreundeten Musikern über CHALBÄRÄ. Ich habe da auch schon die eine oder andere Idee, dass es vielleicht einmal eine passen Kollaborationen geben könnte. Aber das hat noch etwas Zeit. Chalbärä darf zuerst alleine etwas wachsen.
Lass uns mit einem kurzen Brainstorming abschließen:
Fußball-Europameisterschaft: War glaube ich kürzlich, oder?
Wardruna: Hammer! Bin fasziniert und höre ich gerne.
Künstliche Intelligenz in der Kunst: Kann helfen bei Büroarbeiten, aber mit Vorsicht zu genießen.
Dein bisheriges Album des Jahres: Ich glaube, meine Lieblingsbands haben noch nichts veröffentlicht – bitte rädert mich nicht, falls ich falsch liege – ich komme aktuell kaum dazu, neues Material auszuchecken.
CHALBÄRÄ in zehn Jahren: Spielt live mit Wardruna und Danheim an speziellen Schauplätzen, ich habe liebe Live-Musiker an meiner Seite und schrei mir an den Live-Shows die Seele aus dem Leib! Seid gefasst, es wird emotional!
Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
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