Mit (ehemaligen) Mitgliedern von Amorphis, Dark Tranquillity, Insomnium, Dimmu Borgir und Sentenced hat sich mit CEMETERY SKYLINE ein Allstar-Projekt zusammengefunden, das aufhorchen lässt. Im Interview berichtet Keyboarder Santeri Kallio über den Gothic Rock der 1990er-Jahre, das Für und Wider eines Allstar-Projectes und die künftigen Pläne von CEMETERY SKYLINE.
Fangen wir beim Cover an: Ich finde es ästhetisch sehr schön – allerdings wären Wolkenkratzer in Form eines Kreuzes nicht das Erste, was mir in den Sinn kommt, wenn man an eure skandinavischen Herkunftsländer denkt. Warum ist es trotzdem das perfekte Cover, um „Nordic Gothic“ zu illustrieren?
Nun, ich mag die Idee, dass das Cover nicht wirklich aus Skandinavien stammt. Das Artwork zeigt eher eine dystopische Stadt, in der das alles passiert. Es wäre ziemlich generisch gewesen, einfach ein Gebäude aus Schweden oder eine Hütte auf einem Feld aus Finnland zu zeigen. Das Artwork, wie es jetzt ist, ist viel universeller – etwas, in das jeder eintauchen und die Atmosphäre in der Musik spüren kann. Die Texte lassen sich sehr leicht auf die Widrigkeiten des Lebens der Hörer übertragen. In diesem Sinne passt die Gothic-Atmosphäre, die Metastasis, der Cover-Künstler, für uns geschaffen hat, ziemlich perfekt zu einem Nordic-Gothic-Kontext.
Womit du den Albumtitel schon angeschnitten hast … es wirkt wie ein Selbstläufer, aber es sind oft die einfachen Dinge, die einem zuletzt einfallen. Wie kam es zu diesem Titel?
Der Albumtitel entstand aus dem Textkontext. Das Album handelt von der skandinavischen Einsamkeit und der selbstgewählten Einsamkeit, den Kämpfen im Leben und den widersprüchlichen Beobachtungen des Erwachsenwerdens und Alterns. Mikael, der die Texte geschrieben hat, schlug „Nordic Gothic“ schon sehr früh im Prozess vor, und wir alle in der Band dachten, dass das der perfekte Titel für diese melancholischen Geschichten ist, die wir präsentieren: Er stand also schon lange Zeit im Raum – so ziemlich den ganzen Prozess über. Wir haben auch ein paar andere Ideen durchgespielt, aber diese schien am besten zu passen und den Kontext zu repräsentieren. Und es ist immer gut, auf die Vision des Texters bezüglich des Titels zu vertrauen, da er den Kontext immer besser kennt als alle anderen Mitglieder der Band. Ich glaube, wir haben diesen Titel zu dem Zeitpunkt abgesegnet, als wir das Artwork aus Paris bekamen.
Wie es dazu gekommen ist, ist ganz allgemein interessant: Ihr seid fünf Musiker aus zwei Ländern und seid insgesamt in zehn verschiedenen Bands aktiv. Eine weitere Band zu gründen, scheint nicht unbedingt eine naheliegende Entscheidung zu sein – vor allem während der Pandemie, als man sich so etwas nicht mal bei ein paar Bier in der Bar ausdenken konnte …
Ich glaube, wir alle haben eine Leidenschaft für melancholischen Dark Rock – wie Type O Negative, The Mission, Sisters of Mercy und Killing Joke, um nur einige zu nennen. Wir haben alle schon sehr lange in Metal-Bands gespielt, die eher auf schweren Riffs, Komplexität und Aggressivität basieren, also waren wir alle angetan von der Tatsache, dass das etwas sein könnte, was noch keiner vor uns gemacht hat, auch wenn wir die goldene Ära der Gothic- und Dark-Rock-Szene in den späten 1980ern und den ganzen ’90er-Jahren miterlebt haben. Das hier war anders genug, um es zu wagen. Ich glaube nicht, dass es mit einem weiteren Melo-Death-Projekt so weit gekommen wäre, verglichen damit, wo CEMETERY SKYLINE jetzt steht.
Wie lange oder gut kennt ihr euch schon, oder wie genau kam es zu dieser personellen Konstellation?
Wir waren 2018 mit Amorphis und Omnium Gatherum in Nordamerika auf Tour. Der Bus rollte irgendwo in der Nacht durch die Rocky Mountains und Markus und ich fingen an, uns zu betrinken. Wir sprachen in der Nacht darüber, dass wir eines Tages zusammen Musik machen sollten – daher wussten wir beide, dass wir einen ziemlich ähnlichen Sinn für Humor und ähnliche Visionen in Bezug auf Musik haben. Zwei Jahre später bekam ich einen Anruf von Markus. Er rief mich an und fragte, ob ich immer noch an dem Projekt interessiert sei, das den „Geist“ von Type O Negative, Sisters Of Mercy, The Mission und Killing Joke ehren und bewahren sollte. Das klang sehr vielversprechend und ich sagte zu. Nachdem wir ein paar Demos hin und her geschickt hatten, dachten wir an unseren gemeinsamen Freund aus Schweden, Mikael Stanne. Er sagte sofort zu – er ist ein großer Fan dieser Art von Musik aus den 1980ern und 1990ern. Wir machten weiter Demos mit Gesang, und Mikael schlug Victor von Dimmu Borgir vor – einen Freund aus Göteborg, der Bass spielen sollte. Der war auch gleich begeistert von unseren Visionen für unser Genre und stieg sofort mit ein. Auf der Suche nach einem Schlagzeuger kam uns dann ein alter Freund aus dem Norden in den Sinn: Vesa von Sentenced, denn wir wussten, dass er sich auf diesem Gebiet auskennt und neben seiner neuen Band, The Abbey, relativ ungebunden ist. Vesa sagte ziemlich schnell zu, dass er mitmachen würde. Und das war’s, die Besetzung von CEMETERY SKYLINE stand!
Die Pandemie dürfte zumindest dafür gesorgt haben, dass ihr alle mehr Zeit zur Verfügung hattet – gezwungenermaßen. Wie verlief das Songwriting und die Albumaufnahmen?
Der erste Start mit Markus – es war noch niemand sonst außer Mikael involviert – war sehr interessant, da keiner wusste, was wir eigentlich machen. Also hat Markus Demotracks für „Violent Storm“ und „The Coldest Heart“ geschrieben und ich glaube, ich habe „In Darkness“ und einige andere gemacht. Dann haben wir die Demos nach Schweden zu Mikael geschickt. Wir wussten wirklich nicht, wie er die Songs gesanglich angehen würde – er ist schließlich ein Growler oder Schreihals. Als er uns die erste Gesangsspur zurückschickte, waren wir überwältigt. Sein Gesang war etwas völlig anderes als bei seinen anderen Bands, die Metal machen. Der Ansatz war düster, melancholisch und vor allem: melodisch. Die Vocals haben irgendwie genau das transportiert, was wir tatsächlich machen. Und da wir jetzt wussten, wie die Gesangsperformance beziehungsweise der Gesangsstil klingen würde, war es viel einfacher, weiter zu komponieren und unsere musikalische „Box“ sozusagen kleiner zu machen. Mit dieser Methode haben wir unser erstes Demo produziert, um das Interesse der Plattenfirmen zu wecken. Vielmehr um zu sehen, ob jemand überhaupt daran interessiert ist. Wir haben das Demo an fünf der größten und besten Metal-Firmen in Europa geschickt und die haben alle sofort Ja gesagt. Das war eine sehr positive Überraschung und war für uns quasi die Bestätigung dafür, dass es tatsächlich passiert. Die Albumaufnahmen waren dann ziemlich normal und dauerten ohne die ganzen Pausen und Unterbrechungen insgesamt etwa acht Wochen, einschließlich des Mixens. Wir haben im Grunde alles remote gemacht, einer nach dem anderen, außer dass ich und Markus als Songwriter bei den Schlagzeugaufnahmen anwesend waren, um sicherzustellen, dass die Schlagzeugspuren so gut sind, dass jeder ohne einen externen Produzenten weitermachen kann.
Für dich war es damals erst deine zweite aktive Band neben Amorphis – im Gegensatz zu Mikael zum Beispiel. Kam euch das Ganze plötzlich wie eine dumme Idee vor, als die Pandemie vorbei war und die Shows und Touren mit euren eigentlichen Bands wieder anfingen? Wie gut passt CEMETERY SKYLINE in die Zeitpläne von dir und den anderen?
Nun, CEMETERY SKYLINE wurde nicht wegen Covid gegründet – eigentlich haben wir die Band sogar schon vor Covid gegründet, insofern habe ich darauf keine besondere Antwort. Aber ja, sicherlich werden all unsere anderen Bands – Dark Tranquillity, The Halo Effect, Amorphis, Dimmu Borgir, Insomnium, Omnium Gatherum und so weiter etwas Zeit für sich beanspruchen. Andererseits sind das so große Bands, dass die Produktionsplanung und das Booking fast ein Jahr im Voraus gemacht werden, also denke ich, dass es auch für CEMETERY SKYLINE genügend Möglichkeiten gibt, in den Kalender zu passen. Außerdem ist die Begeisterung in der Band riesig, also können wir vielleicht auch etwas Zeit dafür einfordern. Das haben wir eigentlich schon, und kein Booking Agent hatte ein Problem damit, sodass wir schon rund zehn Shows in Finnland gebucht haben, Festivals und Clubs, und eine für US ProgPower in den USA. Aus Europa kommen einige Angebote, aber im Moment ist das Gebiet für uns noch im Aufbau. Man wird sehen.
Interessanterweise haben mehrere deiner Kollegen bei Amorphis während der Pandemie neue Projekte gestartet. Wie erklärst du dir das – und wusstet ihr voneinander, dass ihr verschiedene Projekte starten würdet?
Ich habe keine Ahnung, wie es dazu kam, dass alle Alben zur gleichen Zeit herauskamen, aber ich denke, als Esa sein Soloalbum herausbrachte, hat das vielleicht den Schneeballeffekt ausgelöst, sodass die anderen Jungs anfingen, über ihre eigenen Soloalben nachzudenken. Bei mir hatte es keine Auswirkungen auf CEMETERY SKYLINE – ich hatte mich mit Markus ja schon länger darauf verständigt, dass eines Tages etwas passieren würde, wir hatten die Band, wie gesagt, schon vor Covid gegründet. Es kann aber durchaus sein, dass die zusätzliche Zeit während Covid uns die Möglichkeit gab, etwas anderes als Amorphis zu machen. Verdammt, es wurden so viele Amorphis-Shows abgesagt. Tatsächlich habe ich nach 150 abgesagten Shows aufgehört zu zählen. Im Grunde saßen wir zwei Jahre lang zu Hause, da verstehe ich es total, dass man da lieber ein paar Musikprojekte macht, als nur die Wand anzustarren.
Wie hat sich die Arbeit am CEMETERY-SKYLINE-Album für dich – persönlich, aber auch generell aus der Sicht des Keyboarders – von der Arbeit für Amorphis unterschieden?
Der größte Unterschied war natürlich die Tatsache, dass wir bei der Produktion des Albums keinen externen Produzenten hinzugezogen haben. In dieser Hinsicht hatten wir also völlige Ausdrucksfreiheit. Außerdem ist die Musik nicht Metal, also gibt es viel mehr Platz für Keyboards, und in Anbetracht des Genres, das wir anstrebten, dürfen die Keyboards sogar sehr präsent sein. Auch die Tatsache, dass wir nur eine Gitarre haben, gab mir mehr Freiheit, mit meinen Tracks zu experimentieren. Sowohl in Markus‘ als auch in meinen Demos gab es bereits reichlich Keyboards, also lag es nahe, sie zu behalten, anstatt sie zu streichen, wie es in der Metal-Szene oft vorkommt. Keyboards sind dort eher ein Gewürz oder die Kirsche auf dem Sahnehäubchen für die Intros und C-Parts. Ich habe auch unsere Vorproduktions-Demo für Plattenfirmen gemischt, bei der die Keyboards laut und deutlich zu hören waren. Wir haben auch – nach einem Tontechniker-Wettbewerb – Alexander Backlund von den Fascination Street Studios ausgewählt, nicht nur wegen des sehr guten Gesamtsounds, sondern auch, weil er die Rolle der Keyboards in dieser Band praktisch sofort verstanden hat.
Generell würde mich interessieren, wie ihr beim Songwriting vorgegangen seid – soweit ich weiß, hat keiner von euch zuvor Musik in diesem Genre geschrieben. Habt ihr euch vorher bestimmte Alben angehört, um in die richtige Stimmung zu kommen, oder wie seid ihr in die richtige Stimmung gekommen, um diese Musik zu schreiben?
Auf jeden Fall haben wir uns nichts angehört und auch nicht versucht, irgendetwas zu kopieren. Wir haben die goldenen Zeiten des Goth- und Dark-Rocks miterlebt, also war der atmosphärische und spirituelle Ansatz schon da – in jedem Kopf und Herzen. Wir haben einfach Songs komponiert, die in das Genre passen, über das wir gesprochen haben, wie melancholische, atmosphärische und gotische Klanglandschaften, im Geiste dieser legendären Bands, um sie und die Zeit der 1980er und 1990er in dieser Musik zu ehren – nicht um irgendetwas zu kopieren. Etwas zu machen, was schon gemacht ist, wäre für unsere Band mit Musikern, die seit über 30 Jahren im Geschäft sind, viel zu trivial gewesen.
Habt ihr nur die Songs geschrieben, die auf dem Album gelandet sind, oder gibt es schon Ideen für weitere Songs … und damit für ein weiteres Album?
Wir haben ein paar übrig gebliebene Songs von „Nordic Gothic“, die eigentlich die gleiche Qualität haben wie alle Songs auf „Nordic Gothic“. Die Zeit wird zeigen, ob wir sie als separate Singles, als EP oder vielleicht als eine Art Deluxe-Edition veröffentlichen werden. Wir haben uns noch nicht entschieden, aber ich kann versprechen, dass diese Songs auch zu hören sein werden, und die Leute können sich über ein bisschen mehr Musik freuen, die dem „Nordic Gothic“-Kontext hinzugefügt wird. Das nächste Album … darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, also lasst uns einfach die Veröffentlichung des Debütalbums, die Kritiken, das Feedback der Leute und einige Tourneen genießen. Wenn die Zeit reif ist, werden wir mit der Arbeit an einem neuen Album beginnen – versprochen. Aber wie gesagt – in der Zukunft.
Wenn ja … wie soll es dann weitergehen, wenn es nicht noch eine Pandemie gibt, was wir mal nicht hoffen wollen?
Nächstes Jahr stehen ein paar Shows an, aber bis jetzt haben wir noch keine großen Tourpläne. Aber wenn der Drang und der Druck zu groß wird oder wir ein sehr gutes Supportslot-Angebot von einer großen Band bekommen, müssen wir vielleicht auch darüber nachdenken. Bis jetzt versuchen wir, die Shows, die wir gebucht haben, so gut wie möglich zu machen, mit einem angemessenen Produktionsniveau, wie sie es verdienen – und damit das Publikum „Nordic Gothic“ wirklich so genießen kann, wie es live gehört werden soll.
Können wir noch auf eine Tour von CEMETERY SKYLINE hoffen?
Einzelshows ja – eine Tour höchstwahrscheinlich nicht. Mikael veröffentlicht gerade Alben mit Dark Tranquillity und The Halo Effect, ich glaube nicht, dass wir die Ressourcen oder die Zeit haben werden, um mit CEMETERY SKYLINE auf Tour zu gehen. Andererseits haben wir, wie gesagt, mehrere Festivals in Finnland und eine Clubtour mit vier Shows gebucht und das ProgPower USA 2025 ist bestätigt. Es wird trotzdem noch mehr Shows geben … alle sind bereit dafür und die Euphorie in der Band ist groß!
Wenn es keine Headliner-Tour wird … welche Band (egal ob realistisch oder unrealistisch) würdest du gerne mit CEMETERY SKYLINE supporten?
Da gibt es so einiges … Depeche Mode, Ghost oder auch die Sisters of Mercy? Lasst uns abwarten und sehen, wie es weitergeht!
Zum Abschluss noch ein Themensprung: Du hast auch deine Band Kyyria im Jahr 2023 wiederbelebt. Wie kam es dazu, nachdem die Band seit 1998 auf Eis lag – und was können wir hier erwarten? Neue Musik? Tourneen?
Ich denke, die Zeit war reif … ein Vierteljahrhundert, 25 Jahre. Wir haben schon oft darüber nachgedacht, aber jetzt war die Zeit reif dafür. Die Reunion-Tour hat verdammt viel Spaß gemacht, und wie ich es mir schon vorher gedacht hatte, brauchten wir eine Art Befreiung von der Vergangenheit, denn die Trennung 1998 war nicht so schön. Ich denke, dass wir alle unsere persönliche Erlösung von der Verbitterung und Angst bekommen haben, die die plötzliche Trennung damals verursacht hat. Die Tour verlief so gut wie nur möglich, wir spielten vor vollen Clubs und das Publikum war begeistert. Wir werden vielleicht ein Live-Album von der Tournee veröffentlichen, aber mehr ist für die Zukunft nicht geplant.
Vielen Dank für deine Zeit – zum Abschluss noch ein kurzes Brainstorming:
Ville Valo: Eine Legende. Er hat den finnischen Metal auf die Weltkarte gebracht.
Kamala Harris: Hoffentlich gewinnt sie
Dein Lieblingssong von „Nordic Gothic“: „The Coldest Heart“ mit seiner funkigen Pianoline.
Vinyl: Let’s make Vinyl great again!
Wenn „Nordic Gothic“ ein Auto wäre – welcher Typ? Ein Leichenwagen mit Cyber-Truck-Twist!
CEMETERY SKYLINE in zehn Jahren: Auf der Bühne der Royal Albert Hall
Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
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