Interview mit Paul Riedl von Blood Incantation (Teil 2/2)

Read the English version

2021 verschreckten BLOOD INCANTATION ihre treuen Fans, indem sie anstatt eines atmosphärischen Death-Metal-Albums ein atmosphärisches Ambient-Album veröffentlichten. Das neueste Werk, „Absolute Elsewhere“, das schon im Oktober das Licht der Welt erblickte, scheint eine Mischung aus beidem zu sein, mit einer kräftigen Dosis Siebzigerjahre Progressive Rock. Wie man auf so eine Idee kommt und was der Sinn des Lebens damit zu tun hat, erklärt Sänger Paul Riedl im Interview.

In Teil 1 des Interviews geht es um den jahrelangen Entstehungsprozess von „Absolute Elsewhere“ sowie den Einfluss des obskuren Ambient-Albums „Timewave Zero“ als auch die Entstehung der Maxi-Single „Luminescent Bridge“.

In Teil 2 erzählt Paul Riedl von der Zusammenarbeit mit Leuten wie Nicklas Malmqvist in den Hansa Studios und darüber, warum BLOOD INCANTATION keine Death-Metal-Band sein wollen. 

Du hast erwähnt, dass ihr andere Leute für mehr kreative Energie hinzugezogen habt. Offensichtlich habt ihr das auch bei „Absolute Elsewhere“ gemacht, wo Nicklas Malmqvist (Hällas), Malte Gerricke (Sijjin) und Thorsten Quaeschning (Tangerine Dream) mitgewirkt haben – wie war es, mit diesen Künstlern zu arbeiten?
Diese kollaborative Energie ist äußerst inspirierend. Sie ist sehr motivierend für uns. Die letzten fünf Jahre waren für die Band intern eine echte Entwicklungsphase, nicht nur wegen größerer Shows und guter Plattenverkäufe und so weiter. Eines der Dinge, die wir gelernt haben, ist, dass man manchmal nicht die beste Person für einen Job ist, und das bedeutet nicht, dass man den Job nicht machen kann. Es bedeutet nur, dass das Gesamtprodukt und das Endergebnis verbessert werden, wenn jeder Einzelne durch Delegation weniger leistet. Wir wussten also, dass wir diese Leute ins Boot holen mussten.

Wir hatten Nicklas schon vorher getroffen, weil Hällas und BI seit 2018 mehrere Festivals zusammen gespielt haben. Wir bestrafen sie immer, weil sie einfach die einzige große Band sind. Sie sind die beste Band, die in diesem Jahrhundert zustande gekommen ist, ohne Ausnahme. Die Gitarristen sind unglaublich. Der Gitarrenton ist unglaublich, die Arrangements, die Synthesizer, die Abmischung sind einfach top, top, top. Diese Band verdient es, in einem Stadion zu spielen. Wir waren also in Denver, und wir sprachen ihn alle an, und er hat eine tolle Anekdote zu diesem Ereignis in der Deluxe-Ausgabe von „Absolute Elsewhere“. Er erzählt von diesen vier schrullig aussehenden Typen, die auf ihn zukamen. Wir gaben ihm eine Kassette von der Vorproduktion zu „Absolute Elsewhere“ und er war so überwältigt, denn er ist Schwede und normalerweise ein eher zurückhaltender, ruhiger Typ. Er meinte nur: „Wer sind diese verdammten Typen?“ Ich schrieb einfach meine Telefonnummer auf das Band und fragte: „Wollt ihr nicht zu diesen Terminen nach Berlin kommen?“ Und wie er in dem Buch sagt, wenn jemand fragt, „willst du nicht nach Berlin kommen“, dann kommst du.

Blood Incantation, 2024
(Pressefoto von Julian Weigand)

Er kam also, und anfangs war er wirklich unsicher, was er da eigentlich machen sollte. Er dachte: „Ich werde Mellotron-Flöten auf einer Death-Metal-Platte spielen. Das ergibt doch keinen Sinn. Ihr seid doch völlig verrückt.“ Er sagte das sogar – es gibt da diesen einen Teil, wir nennen ihn „the gnome in the grass“, weil er sich anhört wie ein Gnom im Gras im Mittelalter. Und er sagte wörtlich: „Das ist nicht erlaubt. Dafür werdet ihr gekreuzigt werden!“ Und wir sagten: „Spiel das! Das ist genau die Melodie.“ Es ist ein bisschen zu zuckersüß, ein bisschen zu sehr Ohrenschmaus. Und wir wussten, das muss es sein, also befahlen wir ihm: „Du musst es so spielen.“ Und er meinte: „Das ist verrückt. Das klingt viel zu hippiehaft.“ Und ich sagte ihm: „Es muss noch hippiehafter sein. Es muss super verrückt sein!“

Anfangs war er unsicher, aber dann hat er sich irgendwie eingelebt, bzw. wir haben uns an seine Art gewöhnt. Am dritten Tag, an dem er da war, haben wir ihn trotzdem noch überfordert, und es kam ein bisschen zu einer Sackgasse. In der Dokumentation sind Teile zu sehen, wie wir Ideen ausprobieren, die es nicht auf das Album geschafft haben. Wir haben sie in den Dokumentarfilm aufgenommen, um zu zeigen, dass die kreative Energie so groß war, dass wir verrückte Sachen ausprobiert haben, und wenn es nicht funktioniert hat, war das nicht schlimm. Es gab keinen Druck wie „Hey Leute, wir verbrennen hier Band, Zeit ist Geld.“ Diese Energie gab es überhaupt nicht, und das ist das Verdienst von Arthur Rizk selbst. Aber eines Tages waren wir mit Nicklas in eine Art kreative Sackgasse geraten, in der er einfach überfordert war. Wir haben so viele verrückte Ideen ausprobiert. Und er hat sich gefragt: „Was machen wir hier eigentlich?“

(Pressefoto von Julian Weigand)

Und wie habt ihr das gelöst?
Einer von Arthurs größten Vorzüge als Produzent ist sein Taktgefühl. Er weiß genau, was er sagen muss, um den richtigen Ton aus der richtigen Person herauszuholen. Und manchmal sind die Leute im Studio gestresst, der Druck ist groß, das kann überwältigend sein. Also sagte er im Grunde: „Wir hören auf, wir gehen diesen Weg nicht weiter und wir jammen einfach. Ihr werdet einfach so spielen. Ihr werdet improvisieren, ihr werdet die Instrumente wechseln, ihr werdet tun, was immer ihr wollt. Wir werden es aufnehmen, aber das ist egal.“ Wir lieben es zu jammen. Manchmal spielen wir Reggae, manchmal Death Metal, manchmal Post Rock, manchmal Dub, manchmal Punk, all diese verschiedenen Riffs. Manchmal ist es auch Krach, das ist uns egal. Wir mögen es einfach zu spielen.

Nicklas war also da drüben und spielte die Hammond und fragte sich immer noch: „Was zum Teufel machen wir hier? Was ist hier los? Klingt wie Müll.“ Und Arthur kam regelmäßig mit den „Oblique Strategies“-Karten heraus, dem Brian-Eno-Orakel-Deck, das wir für alle unsere Alben verwenden. Und er legte einfach jeweils eine andere Karte auf jede kleine Station und ging dann zurück in seinen Kontrollraum, kam 10 Minuten später zurück und machte es noch einmal. Am Ende haben wir das drei oder vier Stunden lang gemacht. Und in der dritten oder vierten Stunde hatten wir es dann richtig drauf. Und Nicklas spielte irre Soli. Das war kein Metal. Es war einfach nur verrückte Musik.

Nachdem wir alle wieder auf diese gemeinsame Ebene gebracht hatten, hatten wir auch Nicklas‘ Skandinavischsein geknackt, und er war viel offener und verstand, dass er sich an einem sicheren Ort befand. Es ist okay, eine falsche Note zu spielen, eine zu hippiehafte Note zu spielen, eine zu ekelhaft süße Note zu spielen, eine ABBA-Melodie zu spielen. Wen kümmert’s? Du bist hier frei. Danach haben wir es wirklich geschafft. Das war, als er das Minimoog-Solo im ersten Teil von „The Stargate“ spielte. Das war der Moment, in dem er sich öffnete und wirklich einen gewaltigen Eindruck hinterließ. All das soll heißen, dass diese Aura der Zusammenarbeit und kreativen Offenheit entscheidend für die Entwicklung und das letztendliche Ergebnis war, welches „Absolute Elsewhere“ heute ist.

Blood Incantation - Absolute ElsewhereInwieweit hat die Entstehung von „Absolute Elsewhere“ eure Art, Musik zu machen, deiner Meinung nach verändert? Wenn überhaupt?
Der Prozess für „Absolute Elsewhere“ begann vor vier Jahren mit „Timewave Zero“. Es war ein sehr langer Prozess, bei dem, obwohl die Songs vielleicht schon vorher oder währenddessen geschrieben wurden, ihre endgültige Form ohne all diese anderen Dinge nicht möglich gewesen wäre. Und das ist etwas, das uns jetzt weiterbringt – wir verlieren zwar nie das Interesse am Musikmachen, aber manchmal ist es schwer. Und wenn wir ein Album fertig haben, sind wir normalerweise so erschöpft, dass wir ein paar Jahre lang keinen neuen Song schreiben. Deshalb liegen unsere Alben auch drei oder vier Jahre auseinander, weil wir uns wirklich bis an den Rand der Erschöpfung in das jeweilige Endergebnis vertiefen.

Bemerkenswerterweise haben wir nach „Absolute Elsewhere“ sofort angefangen, Ideen zu haben. Wir haben bereits Ideen für das, was als Nächstes kommt. Die nächste Veröffentlichung ist der „All Gates Open: Original Motion Picture Soundtrack“, eine Stunde unveröffentlichte Ambient-Musik, die den Soundtrack zum Dokumentarfilm darstellt. Aber danach haben wir bereits wirklich verrückte Ideen für Metal- und Nicht-Metal-Kombinationen, die so unterschiedlich sind wie „Luminescent Bridge“ von „Absolute Elsewhere“, dieses neue Zeug geht sogar noch weiter in diese seltsamen, kollaborativen, expansiven, melodischen, progressiven, lauten, leisen, hellen, dunklen, integrativen Sachen. Es genügt zu sagen, dass wir erst am Anfang stehen, auch mit dem „Absolute Elsewhere“-Tourzyklus, der bisher drei Etappen bis Anfang 2026 gebucht hat, aber ich denke, wir werden noch mehr Metal von BI sehen, bevor er zu Ende ist.

Blood Incantation, 2024Als ich mir „Absolute Elsewhere“ zum ersten Mal angehört habe, war ich völlig begeistert. Mein erster Gedanke war: „Das ist völlig neu, so etwas haben sie noch nie gemacht“, aber ich habe mir eure älteren Sachen noch einmal angehört, und ich habe das Gefühl, dass das nicht ganz stimmt, denn ihr hattet schon immer diesen wirklich experimentellen Vibe, und ihr seid immer über sämtliche Grenzen hinausgegangen. Und ich finde, dass „Absolute Elsewhere“ auch innerhalb eurer Diskografie absolut Sinn ergibt. Wenn man sich eure Alben der Reihe nach anhört, passt es einfach wie ein Puzzleteil,
Dem kann ich nur zustimmen.

Ich finde das total faszinierend. Wie haben eure früheren Alben dieses neue beeinflusst? Du hast schon über „Timewave Zero“ gesprochen, aber sagen wir mal „Starspawn“ oder „Hidden History“.
Nun, Isaac sagt oft, dass wir zunehmend von unserem eigenen früheren Repertoire beeinflusst werden. Und so denke ich persönlich, dass viele Riffs auf „Absolute Elsewhere“ die niedrige Sludginess von „Starspawn“ und dann die höhere, aggressive Technik von „Hidden History“ haben. Sie sind fast gemischt, aber beim Abmischen wurden sie auch wie zuvor schon erwähnt ein wenig zurückgedreht, um einige dieser Riffs ein wenig klarer zu machen.

Ich habe Leute sagen hören, dass sie den Death Metal auf „Absolute Elsewhere“ am wenigsten von unserem Death Metal mögen. Und das ist verständlich, denn es ist vielleicht der am wenigsten todesmetallische – einige Stücke sind trotzdem sicherlich die brutalsten. Aber es gibt auch mehr Black Metal, mehr Speed Metal, mehr Heavy Metal neben dem Prog und dem Krautrock und dem Ambient-Kram. Aber es gibt auch einiges, das einfach nur extremer Metal ist, den man nicht wirklich als etwas Bestimmtes bezeichnen kann.

Es ist einfach nur technischer, progressiver Extreme Metal, so würde man es wohl nennen, aber eine Band wie Septicflesh oder Behemoth, das ist ja auch kein Black Metal, kein Death Metal, das sind einfach diese Jungs. Und das ist eigentlich etwas, was wir wirklich versuchen. Wir wollen keine Death-Metal-Band sein. Wir wollen keine Prog-Band sein. Wir wollen keine Metal-Band sein. Wir wollen einfach BLOOD INCANTATION sein. Wir wollen einfach eine Band wie Opeth oder sogar wie Tool oder Iron Maiden sein. Diese Bands spielen nicht mehr unbedingt in verschiedenen Genres. Sie spielen einfach ihr Genre. Das ist es, was wir meinen, wenn Isaac sagt, dass wir zunehmend von unseren früheren Werken beeinflusst werden.

Die Leute haben auf „Absolute Elsewhere“ ein paar Stichworte aufgeschnappt, die mehr oder weniger eine stilisierte Version eines Riffs sind, das wir schon gemacht haben, oder eine leicht umarrangierte Version eines Riffs, das wir schon gemacht haben. Und das ist Absicht, denn wir mochten das Riff beim ersten Mal, aber vielleicht war das Riff beim ersten Mal weniger BLOOD INCANTATION und mehr etwas anderes. Wir fragten uns: „Was war die BI-Essenz, die diesem Riff zugrunde lag?“ Das ist das neue Zeug, das ich gerade beschrieben habe. Wir scherzen immer, dass wir unsere endgültige Form noch nicht erreicht haben. Ich denke, „Absolute Elsewhere“ ist sicherlich am nächsten dran. Aber wir sind noch nicht fertig.

Eine weitere Sache, die die Leute meiner Meinung nach unbedingt verstehen müssen, ist, dass wir in erster Linie Fans sind, vor allem sind wir Opfer, wie jeder andere Fan auch, von dem, was die Musik von BLOOD INCANTATION uns bringt. Wir sind dabei, um mitzufahren. Wir haben keine Kontrolle darüber, wohin sie uns führt. Wir sind sehr begierig darauf, es herauszufinden. Wir würden es gerne wissen. Und dennoch, in jeder neuen Ära, wenn es heißt: „Jetzt ist es Zeit dafür“, gehen wir mit. Wir müssen nicht mit ihr streiten. Wir sind nur auf dem Boot. „Absolute Elsewhere“ ist die bisher größte Annäherung an das, wo wir am Ende landen werden, aber noch sind wir nicht dort, und es wird so verrückt sein, wie „Absolute Elsewhere“ nach „Hidden History“ war. „Hidden History“ war auch verrückter als „Starspawn“. Und wie du schon sagtest, gibt es diese Art von teleskopischer, linearer Erzählung über unsere Alben hinweg, die wir für sehr natürlich halten.

Und um ehrlich zu sein, geht es uns mit „Timewave“ genauso. Es ergibt absolut Sinn für eine Weltraumband, Weltraummusik zu machen. Die Leute regen sich auf, wenn sie sagen: „Aber ihr seid doch eine Death-Metal-Band“, aber die Wahrheit ist doch: „Nein, eigentlich wollt ihr, dass wir eine Death-Metal-Band sind. Euer Ego gibt vor, dass es so sein muss. Ihr wollt, dass diese Sache, die außerhalb eurer Kontrolle liegt, unter eurer Kontrolle ist. All das ist ein Trugschluss des Intellekts. Was tatsächlich passiert, ist, dass BLOOD INCANTATION Musik ist, die sich in ihrem eigenen Tempo entfaltet, nach ihren eigenen Richtlinien, in Übereinstimmung mit ihren eigenen Zielen, in die nicht mal wir eingeweiht sind. Wir sind ein Teil des Ganzen.

(Pressefoto von Julian Weigand)

Eigentlich ist das eines der Dinge, über die Robert Fripp in der King Crimson-Dokumentation spricht. Die Leute, die zu den Konzerten kommen, sagen: „King Crimson dieses Jahres und dieses Albums, warum spielt ihr das nicht?“ Die Wahrheit ist, dass es diese King Crimson nicht mehr gibt. Es war damals und wir haben uns weiterbewegt. Wir bewegen uns mit King Crimson. Die Musik führt uns dorthin, wohin sie uns halt führt.“ Und als wir das sahen, schauten wir uns an und dachten: „Heilige Scheiße, ist der Typ auf ‚Timewave Zero‘? Was ist denn hier los?“ Und das ist entscheidend für das Verständnis dessen, wonach die Musik von BLOOD INCANTATION sucht und wo sie sich befindet.

Es wird immer Death Metal in unserer Musik geben, genauso wie es immer Prog-Elemente in unserer Musik gegeben hat. Es hat immer cleane Gitarren gegeben, es wird immer verzerrte Gitarren geben, es hat immer akustische Instrumente gegeben. Es hat immer Synthesizer gegeben. Was wir versuchen, ist einfach Musik zu machen, die wir hören wollen, und sie lässt uns wissen, wann sie fertig ist, egal, ob das ein vierminütiger oder ein 20-minütiger Song ist. Wir sind nicht diejenigen, die sagen: „Das ist es“. Als Isaac versuchte, einen fünfminütigen Song für „Obliquity“ für eine 7-Inch zu schreiben, hat das Universum das nicht zugelassen, weil die Verträge zu restriktiv waren. Aber sobald die Musik frei war, wurde „Obliquity“ wirklich zu dem Song, der jetzt auf der Single ist.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Publiziert am von

Dieses Interview wurde per Telefon/Videocall geführt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert