Interview mit Eviga von Dornenreich: 20 Jahre – Teil 3 (2009–2016)

Im dritten Teil unseres dreiteiligen Special-Interviews zum 20jährigen Bestehen von DORNENREICH berichtet Eviga über die Rückkehr des Metal in den DORNENREICH-Kosmos und die letzte Etappe von „Nachtreisen“ bis „Freiheit“. Ein Gespräch über die Schwelle zwischen allen scheinbaren Gegensätzen, Intensität und die anstehende „Gänsehaut statt Gänsemarsch“-Tour.

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2009 dann die erste Live-DVD, „Nachtreisen – und ganz entgegen eurem Perfektionismus sind darauf zwei nicht perfekte Shows zu finden: Bei der Metal-Show auf dem Summer-Breeze lief nicht alles rund und bei der WGT-Show hatten noch nicht alle Songs Texte. Auch der Produktionsprozess war extrem fordernd, meintest du in unserem letzten Interview. Kurz und Bündig: Würdest du diese DVD so heute nochmals in Angriff nehmen und veröffentlichen?
Dornenreich - NachtreisenSo wie Klang am Ende die Stille betont, umspielt und ihrer Schönheit erst kontrastierend hervorbringt, sind auch die Bruchstellen im Fragmentarischen bzw. Unperfekten eine wichtige expressive Funktion. Der Charme dieser beiden Mitschnitte liegt für mich gewiss auch in der Dokumentation intensiver Momente, die zwar alles andere als perfekt, dafür aber umso lebendiger sind – live eben. (lacht) Und ich finde es schön, wie der Entstehungsprozess einiger In Luft geritzt-Stücke hier dokumentiert ist, denn nicht nur fehlen die Texte noch komplett, auch musikalisch ist noch nicht alles so, wie sich die Album-Versionen der Stücke später präsentieren. Überdies bin ich immer noch sehr glücklich darüber, wie uns die Darbietung von Mein Publikum – Der Augenblick und Innerwille ist mein Docht hier gelang, obwohl wir an diesem Abend äußerst nervös und noch unerfahren waren. Es war nämlich erst das vierte oder fünfte Konzert mit Inve. Und doch merkt man uns trotz allem an, welch’ probeintensive Monate wir hinter uns hatten, als wir dort – im Rahmen des Leipziger Wave-Gotik-Treffens – spielten.
Die Angebote, diese Mitschnitte zu realisieren, waren bei beiden Veranstaltungen sehr gut, und gerade die Möglichkeit, mit Markus Stock und Thomas Helm als Session-Mitgliedern zu arbeiten, war zu verlockend, um sie ungenutzt zu lassen. Doch, nein, hätte ich damals gewusst, welchen langwierigen und nervenaufreibenden Post-Production-Prozess all das nach sich ziehen würde, hätte ich mich wohl nicht darauf eingelassen
(lacht). Ich würde auch heute nicht mehr so schnell eine Live-Veröffentlichung anvisieren. Rückblickend bin ich allerdings sehr froh darüber, heute so intensive Dokumente einer wichtigen DORNENREICH-Phase zu haben – nicht zuletzt deshalb, weil hier unsere Verbundenheit mit Markus Stock und Thomas Helm in Bild und Ton eingefangen ist.

2011 dann die Rückbesinnung mit „Flammentriebe. Der Metal ist wieder zurück im DORNENREICH-Repertoir. Was hat dich zu dieser Entscheidung verleitet?
DORNENREICH setzt seinem gesamten Wesen nach scheinbare Gegensatzpaare in einer vereinenden künstlerischen Vision in Beziehung zu einander. Außerdem war und ist DORNENREICH in seiner ursprünglichen Lebendigkeit unberechenbar und so war mir nach
In Luft geritzt klar, dass die Alben In Luft geritzt und Flammentriebe sich nicht nur wechselseitig intensivieren und definieren würden in ihrem so konträren Erscheinungsbild, sondern dass sie auch die lebendige Essenz DORNENREICHs betonen würden, nämlich den intensiven, unwandelbaren Kern jenseits äußerer (Klang-)Gewänder, die Qualität eines gewissen Bewusstseins an der Schwelle zwischen allen scheinbaren Gegensätzen. Und so wundert sich wohl auch niemand darüber, wenn ich zu Protokoll gebe, dass auch ein Stück wie Flammenmensch mittels akustischer Gitarre skizziert wurde. (lacht)

dornenreich-flammentriebeAuch die Texte sind wieder wortreicher – eine Folge des musikalischen Stilwechsels, oder eine davon unabhängige Entwicklung?
Ja, die speziell rhythmisierte musikalische Basis verlangte nach einer ausformulierten, wortreicheren Herangehensweise an die Texte. Die thematische Grundausrichtung des Albums ist ja eine beißende Zivilisationskritik, was also nicht nur musikalisch, sondern insbesondere auch textlich beziehungsweise konzeptionell einen großen Unterschied zu
In Luft geritzt markiert, dem die Texte auch in ihrer sprachlichen Beschaffenheit Rechnung tragen.

Das Album wurde oft, nicht zuletzt bei uns, als eine Art Bestandsaufnahme der bisherigen Alben eingeordnet: Von allen Alben etwas, aber nichts grundlegend Neues. Wie stehst du zu dieser kritischen Einschätzung?
Das halte ich persönlich für eine zwar nicht unzutreffende, doch am Ende recht oberflächliche Einschätzung. Klar, wir hatten mittlerweile definierende Charakteristika herausgearbeitet, etwa die typische DORNENREICH-Dynamik. Der kritische, ja nicht selten geradezu offen politische Grundton der Texte war in meinen Augen aber durchaus ein Novum und auch die musikalische Dramaturgie war neu in ihrer Einbindung einer druch Mark und Bein gehenden Metal-Teufelsgeige und in ihrer strukturellen Wucht-durch-Vereinfachung.

Dornenreich Eviga Jan 2016 metal1.info part III

Hand aufs Herz: War die Ähnlichkeit von „Wolfpuls“ und „Schwarz schaut tiefsten Lichterglanz“ Absicht?
Hand aufs Herz: Erst als ich die Gitarren im Studio aufnahm, machte mich Markus Stock auf die rhythmische Ähnlichkeit der jeweils ersten Gitarrenlinien aufmerksam. Ich war selbst erstaunt darüber, dass mir das nicht früher aufgefallen war – und ich wollte dann zunächst auch noch schnell was daran ändern, was aber nur eine sinnlose Änderung-um-der-Änderung-willen gewesen wäre. (lacht) Wie auch immer, Fakt ist, dass sich lediglich die ersten Riffs dieser beiden Stücke in ihrer Rhythmisierung ähneln, aber gewiss nicht beide Stücke in ihre Gesamtheit.

Dornenreich - FreiheitDrei Jahre später erscheint mit „Freiheit“ das bis Dato aktuelle Album, zu dem wir schon ein sehr ausführliches Interview geführt haben. Deshalb an dieser Stelle nur eine Frage dazu: Worauf bist du bei diesem Album besonders stolz und was würdest du heute, hättest du die Chance, anders machen?
Auf den Facettenreichtum, auf so manche getroffene Einzelaussage sowie die Gesamtaussage, die dem Potenzial und dem Auftrag des gewaltig großen Titels
Freiheit doch ein Stück weit zu Ehren gereicht, fühle ich. Auch erfreue ich mich am überraschenden Spannungsbogen einer sich aufbauenden, sich brechenden und sich schließlich langsam wieder erneut aufbauenden und sich wandelnden Welle. Und nicht zuletzt macht es mich glücklich, dass dieses Album, das erneut so anders ist, als es Flammentriebe war, auf jeder Ebene, sei es musikalisch, textlich oder bildästhetisch, eindeutig ein DORNENREICH-Album ist, in all seiner Intensität, Unberechenbarkeit und Authentizität. Bis auf kleine strukturelle Änderungen in einzelnen Parts würde ich heute – fast genau zwei Jahre nach Fertigstellung des Albums – tatsächlich nichts anders machen.

Anschließend hattet ihr wortreich so etwas wie euren Abschied oder eine Pause angekündigt – wenn man sich euren Tourkalender anschaut, ist davon aber nicht viel zu merken gewesen. War das so geplant?
Was ich sagte, war, dass Freiheit wohl für längere Zeit unser letztes Studio-Album bleiben würde. Und ich fügte an, dass dies nicht als absoluter Abschied zu verstehen wäre und dass wir im Rahmen spezieller Anlässe et cetera auf die Bühne zurückkehren würden. Und natürlich war uns schon seit vielen Jahren klar, dass wir zur Feier des zwanzigjährigen Bestehens der Band zahlreiche Konzerte geben würden, so es Umstände und Gesundheit zulassen sollten. Und nun scheint es soweit zu sein: 20 Jahre DORNENREICH. Angesichts dieser Zahl an Bandjahren fühle ich mich selbst gleich nicht mehr wie 20 – jedenfalls körperlich nicht. (lacht)

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Damit wären wir mit unserer Reise im Hier und Jetzt angekommen: Was dürfen sich Fans von der anstehenden „Gänsehaut statt Gänsemarsch“-Tour 2016 erwarten?
Eine Setlist, die akustisch wie metallisch so intensiv, so fordernd ist und so abenteuerlich durch die Geschichte der Band fliegt, dass ich mir selbst gerade nicht sicher bin, ob wir uns das wirklich noch zumuten können. (lacht) Ganz im Ernst: Es werden unvergessliche Abende für alle Beteiligte werden, meine ich. Und ganz ehrlich: Wer weiß, wie oft wir noch die Möglichkeit haben werden, solche aufwendig organisierte Tourneen mit solchen Setlists zu spielen. Deswegen zählen wir freilich auch auf euch alle da draußen, denen DORNENREICH jemals etwas bedeutet hat oder noch bedeutet. Vergesst nicht, dass wir diese Konzerte für den freien, leidenschaftlichen Geist spielen, der sich in DORNENREICH seit 20 Jahren ausdrückt – und dabei insbesondere auch für euch!

Zum Abschluss dieses besonderen Interviews unser traditionelles Metal-Brainstorming, Edition DORNENREICH:
Wolf: Wunderbares Wesen, allzu oft befrachtet mit der Last menschlicher projizierter Ängste.
Mensch:
Zweifelhaftes, oft verirrtes, unfertiges Wesen, sich allzu oft selbst missverstehend als Seinskrone .
Trieb: Eine Energie, die gelebt, verstanden und immer wieder verwandelt sein will.
Flamme: Ein verwirklichter Teil des Ganzen und somit – leider – letztlich oft ein unpassendes Symbol für das menschliche Bewusstsein.
Traum:
Zeigt etwa auch die Täuschbarkeit unserer menschlichen Sinne – wie oft halten wir Geträumtes während des Schlafes für die eine Wirklichkeit – und könnte dadurch eine Quelle nährender Demut sein. Das Leben ist unermesslich groß, weit und tief …
Freiheit:
Es ist eine Sache, sie in gewissem Sinne zu erlangen, eine andere, sie zu ertragen, und eine ganz andere, sie für Lebendiges einzusetzen.

Eviga, ich bedanke mich vielmals für deine Zeit und Antworten! Die letzten Worte gehören dir:
Auch ich habe zu danken, Moritz. Es war mir Herausforderung und Freude, mich auf deine oft durchaus eigenwilligen Fragen einzulassen.

Dornenreich 20 Jahre Rückblick

Photo-Credit (Titelbild) & Schwarz-Weiß-Photo: www.zwielichtsammler.com

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