Review öOoOoOoOoOo (Chenille) – Samen

Was auf den ersten Blick nach „auf der Tastatur eingeschlafen“ aussieht, ist tatsächlich der Name eines französischen Avantgarde-Duos. öOoOoOoOoOo nennt sich dieses, oder alternativ, wohl damit man den Namen auch aussprechen kann, einfach CHENILLE, das französische Wort für Raupe. Das Tier also, das durch den zunächst verwunderlichen Namen optisch dargestellt werden soll. Etwa genauso verwunderlich ist ihr Erstlingswerk „Samen“, dessen Cover- und Booklet-Artwork aus diversen Fotografien nackter, zu bestimmten Gebilden angeordneter Menschen besteht.

Nun folgt der schwierige, im Grunde genommen unmögliche Teil, nämlich die Musik von öOoOoOoOoOo zu beschreiben. Das ist schon deshalb nicht wirklich machbar, weil jeder Song auf dem Album komplett anders klingt und zwar sowohl in Bezug auf die anderen Songs als auch auf seine eigenen verschiedenen Bestandteile. öOoOoOoOoOo vermischen grob geschätzt um die 15 verschiedenen Genres und Subgenres, von Black Metal bis Pop, von Jazz bis Dubstep, von Swing bis Post-Rock, von Symphonic Metal bis Techno. Das klingt in der Theorie genauso absurd, wie sich das Endprodukt anhört. Bei Experimenten wie diesen gibt es letztlich alle Möglichkeiten, vom kolossalen Scheitern durch Unvereinbarkeit bis hin zum absoluten Triumph durch die Kreation eines vollkommen neuen Stils. „Samen“ ist weder das eine, noch das andere.
Die ganz klaren Stärken der Scheibe sind neben der Vielseitigkeit, die ein Aufkommen von Langeweile quasi schon durch das Konzept ausschließt, vor allem die abgefahrenen musikalischen Ideen und deren gekonnte Umsetzung. Dass eine Band nicht nur viele Stile miteinbezieht, sondern jeden davon auch noch problemlos glaubwürdig spielen kann, ist eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass sie sich teilweise spielerisch und technisch sehr stark voneinander unterscheiden.

Dennoch ist „Samen“ nicht das Jahrhundertmeisterwerk, das es mit diesen Voraussetzungen sein könnte. öOoOoOoOoOo sind bei ihrem Versuch möglichst viele What-the-fuck-Momente zu kreieren so auf ihr Gimmick fokussiert, dass sie das Konzept von überzeugendem Songwriting immer wieder etwas aus den Augen verlieren. Musik muss nicht nur innovativ, progressiv und wiedererkennbar sein, sie muss dem Hörer letztlich auch gefallen. Gerade was die Songstrukturen angeht, machen öOoOoOoOoOo es einem aber immer wieder sehr schwer. Nach konventionellen Kniffen, an die man sich klammern kann, sucht man vergebens, hier werden vor allem komplett unzusammenhängende Parts aneinandergereiht, sodass man immer und immer wieder den Faden verliert und sich irgendwann ganz Alice-like in einer komplett absurden Welt wiederfindet, in der nichts Sinn zu machen scheint.
Was die Platte allerdings demgegenüber tatsächlich absolut hörens- und damit auch zweifellos empfehlenswert macht, sind diese unzähligen phänomenalen Einzelmomente. Das fängt an bei den vollkommen durchgeknallten Nonsense-Texten („Bacteroidesprevotellaruminococcus, Lactobacilluseggerthellaetceteradesunt, GUTZABRAIN GUTZABRAIN, do you copy that? It’s a pretty mess all around where the invader cracks down! BRAINAGUTZ BRAINAGUTZ, since 4EPS, das Krokodil ist tot.”), geht über die quasi nicht mehr angemessen in Worte zu fassenden Gesangsperformance, die sich grob irgendwo zwischen gollum’schem Gegurgel, Kehlkopfgeratter, poppigem sowie operettenhaftem Frauengesang und hochgepitchtem Chipmunk-Gebrabbel bewegt und endet bei absolut mitreißenden, groovenden Passagen wie beispielsweise dem Refrain von „No Guts = No Masters“ oder dem an Stolen Babies, die sicherlich mehr als einmal als Vorbild dienten, erinnernden „I Hope You Sleep Well“. Jeder Song auf dem Album hat so viele Momente zum Staunen zu bieten, dass viele Durchläufe nötig sind, um die Platte halbwegs erfassen und begreifen zu können. Einzig das irritierend konventionelle Post-/Alternative-Rock-Stück „Purple Tastes Like White“ fällt hier komplett aus dem Rahmen und langweilt dadurch tatsächlich etwas.

öOoOoOoOoOo haben mit „Samen“ ein absolut irrwitziges Werk vorgelegt, das mit Worten im Grunde nicht einmal annähernd adäquat beschrieben werden kann. Wer auf vollkommen durchgeknallte Gaga-Musik steht und sich an der Vermischung unzähliger Musikstile nicht stört, dem sei dringend geraten, in das Album zumindest einmal reinzuhören. Ob die Platte beim Hörer als epochales Meisterwerk oder vollkommen dämlicher Schwachsinn abgestempelt wird, hängt bei öOoOoOoOoOo wohl mehr als bei den meisten anderen Bands davon ab, wie bereit der Rezipient ist, sich auf die musikalischen Ideen und das Gesamtkonzept einzulassen. Fest steht jedoch: Es sind Bands wie öOoOoOoOoOo, die die Grenzen der Musik verschieben und ihre Entwicklung vorantreiben. Allein dafür muss man dem Duo dankbar sein.

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Wertung: 7 / 10

Publiziert am von Simon Bodesheim

2 Kommentare zu “öOoOoOoOoOo (Chenille) – Samen

  1. Naja, also zwischen gezieltem Komplettquatsch wie HGichT und sowas wie „Samen“ liegen schon noch Welten. Ersteres ist ja bewusst trashig und musikalisch anspruchslos gehalten.
    Ich stimme zu, dass viele Stile einfach in einen Topf zu werfen noch keine Musik macht – entsprechendes habe ich ja auch als wesentlichen Kritikpunkt genannt und dafür gab’s auch den meisten Punktabzug. Nichtsdestotrotz bekommt man hier musikalisch wirklich extrem kreatives und vor allem hochwertiges Zeug geboten und das ist auch im Avantgarde-Bereich so gar nicht selbstverständlich. Ich schüttle selbst oft genug fassungslos den Kopf über so manche Band, die vollkommen planlosen Mist baut und von den Leuten als der nächste heiße Experimental-/Avantgarde-Hit gefeiert wird. Es mag der Band hier nicht in jedem Song und an jeder Stelle gelungen sein, einen für die Qualität der Ideen angemessenen Zusammenhang herzustellen, aber das Album macht auf jeden Fall Spaß und in einer Zeit, in der grob geschätzt 95% der Bands nur noch ihre Vorbilder mehr oder weniger gut kopieren, sind zumindest mir persönlich dann solche Experimente mit merklich musikalischem Können dahinter wesentlich lieber als die drölftausendste Standard-Death-, Thrash- oder Black-Metal-Scheibe. Aber es ist eben trotzdem noch Luft nach oben bei „Samen“.

  2. Vor etwa 10 Jahren war ich noch total scharf auf Musik, die möglichst viele kontrastierende Stile möglichst wild unter einen Hut bringt. Irgendwann habe ich aber erkannt, dass Musiker sich mit diesem Vorhaben gerne aus der Verantwortung stehlen, die Versatzstücke auch zu einer stimmigen Komposition zu verbinden. Wenn dann noch Nonsens-Texte in x Sprache dazukommen, ist für mich der Eindruck perfekt, dass ich es hier nicht mit Musik, sondern mit dadaistischem Blödsinn zu tun habe. Da kann ich ja gleich „Hauptschule“ von HGichT hören.

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