Ich, Musiksammler, habe in der Musikabteilung eines bekannten Elektromarkts nach Gleichgesinnten gesucht – und traurige Wahrheiten gefunden.
Die erste Kundin heute trägt eine olivgrüne Übergangsjacke. Es ist kurz nach zehn. Vor kaum fünf Minuten hat der Elektromarkt seine Pforten geöffnet. Die unauffällige Endvierzigerin mit den straßenköterblonden Haaren stapft zwischen den CD-Regalen entlang. Sie heißt Kerstin und ist auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für ihre achtjährige Tochter. Bei Schlager bleibt sie kurz stehen. Ein Blick über die alphabetisch nach Interpreten sortierten CDs, ein Stirnrunzeln. Nein, da ist nichts dabei. Weiter geht’s in Richtung Deutschrock. Neues Spiel, neues Glück. Ein kurzer Blick, ein Stirnrunzeln. Nein. Die Böhsen Onkelz wären unpassend, Udo Lindenberg zu alt – und wer zur Hölle ist nur In Extremo?
Mein Sammeltrieb
Ich – 19, Musikjunkie – beobachte diese Szene amüsiert. Ich gehöre zu einer vom Aussterben bedrohten Art: Den Plattenkäufern. Immer dann, wenn eine Melodie mich packt, wenn ein Riff mich anstachelt, die Stereo-Anlage aufzudrehen, bis die Endstufe raucht, dann erwacht der Jäger und Sammler in mir. Ich möchte Musik nicht einfach hören. Erst wenn ich sie besitze, ist der Genuss komplett. Wenn die feine Diamantnadel leise knackend auf der Schallplatte aufsetzt oder der Laser im CD-Player sirrend auf den gleich folgenden Musikgenuss einstimmt, fühle ich, wie Dopamin meinen Körper durchströmt. Meine Altersgenossen verstehen das meist nicht. Denen hat das Streaming längst die Lust an der Haptik ausgetrieben. Nichts als rausgeschmissenes Geld sei meine Passion. „Musik kannst du auch auf YouTube hören“, heißt es dann. Oder: „Warum holst du dir nicht endlich Spotify?“
Auf der Lauer im Elektromarkt
Jetzt stehe ich im Elektromarkt, um auf ähnlich Verrückte zu treffen wie mich. Nur es gelingt mir nicht. Andreas Gabaliers „Amoi seg ma uns wieder“ schmachtet und schmalzt aus den Boxen. „Schlager und Heavy Metal verkaufen sich immer noch gut – auch wenn die Tonträgerverkäufe seit Jahren rückläufig sind“, berichtet die Angestellte des Markts, die für Musik und Filme zuständig ist. Ein Seitenblick zum Chart-Regal, in dem die CDs nach ihren Chartplatzierungen geordnet sind, bestätigt diese Beobachtung – zumindest was den Schlager anbelangt. Andrea Berg, Matthias Reim, Vanessa Mai, Michelle und Beatrice Egli in den Top-Ten. Einen Moment lang befürchte ich, den Glauben an das Gute im Menschen zu verlieren. Privat interessiert sich die Verkäuferin übrigens nicht für Musik. Wie sie dann damit umgehe, wenn Kunden eine Beratung wünschten, frage ich. „Die wollen normalerweise nur ein Geburtstagsgeschenk für ihre Kinder oder Ehepartner“, entgegnet sie kalt. „Dafür brauch ich doch kein Fachwissen.“
Der Rocker, der auf Schlager starrt
Dann endlich ein Silberstreif am Horizont. Er heißt Erwin und duftet nach Bier und Kippen. Erwin ist 54. Sein langes, dunkelblondes Haar schimmert im Kunstlicht rötlich. Darauf sitzt eine beige Cap. Wahrscheinlich ein Werbegeschenk. Auf seiner schwarzen Lederjacke baumelt ein silbernes Kreuz. Ihn schon erwartend beziehe ich Stellung in der Hard’n’Heavy-Abteilung. Umso überraschter bin ich, als Erwin schließlich am gegenüberliegenden Regal aufschlägt. Schlager und Volksmusik. „Der will mich doch verarschen“, denke ich und stelle mich neben ihn. Er ist gerade dabei, das Freddy-Quinn-Fach zu studieren, geht über zu Ernst Mosch und seinen Egerländern und landet schließlich bei Michael Wendler.
„Sie in der Schlager-Ecke?“ Erwin lacht, doch das Lachen dauert nicht lange. Es folgt Raucherhusten der übelsten Sorte. Keuch, hust, keuch, keuch, hust. „Wird scho wieder“, sagt Erwin. Ich habe da so meine Zweifel. Bilder von Raucherlungen, wie sie bei der Drogenprävention im Schulunterricht zu sehen sind, ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Nach einer Minute ist der Endfünfziger wieder im Stande, mit mir zu sprechen.
„Woss wolldn Sie nuchamoll vo mir wissn?“ – „Was Sie hier beim Schlager treiben.“ – „Asuu. Ich such a Geburdssdoochsgschenk fier mein Vadder. Midd Musigg kommer nix falsch machng“ Und da er sowieso nicht wisse, wohin mit seiner Freizeit, sei er eben mal spontan hierher gefahren. Ich bin erleichtert. Doch nicht lange. „Ich heer suwoss obber a scho ab und zu moll gern.“ Ich bitte Erwin, das zu präzisieren. „Nojoo, die letzen CDs, die ich merr kaaft hobb worn vom Gabalier und vom Maffay.“ Mittlerweile hört er seine Musik lieber im Internet. Auf den meisten Alben seien ja sowieso nur ein, zwei Lieder genießbar. Den Rest könne man in die Tonne kloppen. Erwin wird den Laden schließlich mit einer Roger-Whittaker-CD verlassen.
Die Mainstreamige
Kerstin, die geschenksuchende Mutter, hat mittlerweile aufgegeben und sich von der Verkäuferin beraten lassen. „‚Tschuldigung. Ich such was Nettes. Für meine Tochter. Auf’n Geburtstag.“ Zielsicher steuert die Verkäuferin auf das Neuheiten-Regal zu, zieht eine CD heraus und überreicht sie Kerstin. Der Soundtrack zur Disney-Channel-Seifenopfer „Violetta“. Auf dem Cover präsentiert eine junge Dame in einer fürchterlich aufdringlichen rosa Jacke ihr breites Frischkäsegrinsen.
Kerstin sagt, sie kaufe etwa sechs CDs im Jahr. Zwei für ihre Kinder, vier für sich. Welche Genres oder Interpreten sie denn bevorzuge, frage ich. Kerstin runzelt die Stirn. „Ganz verschieden“, antwortet sie schließlich. Eine Mainstream-Hörerin. Das war’s dann mit der Seelenverwandtschaft. Schließlich fällt ihr doch noch etwas ein. „Rockig muss es sein. So wie BossHoss zum Beispiel.“ Aha. Ballermann-Country-Konsens-Rock. Dann sind Nickelback wohl reiner Death Metal.
Klar gibt es auf dem Wacken mehr „Eventfans“, die für irgendwelchen halbmusikalischen Kram empfänglicher sind als die meisten. Die Begeisterungsfähigkeit für endlose Wiederholungen einprägsamer Refrains ist allerdings eine Sache, die so ziemlich ALLE Metaller mit Schlager-Anhängern gemeinsam haben, glaube ich. ;) Spätestens bei einem „All We Are“ von Doro verschwimmt die Grenze dann endgültig.
Ich bin ja, auch wenn ich mich damit womöglich als Nestbeschmutzer zum Abschuss freigeben, ohnehin der Meinung, dass Metal und Schlager, genauer gesagt manche ihrer Anhänger, Brüder im Geiste sind. Oder ist es irgendwie anders zu erklären, dass Rock-Hipster vor einigen Jahren voller Begeisterung auf Heino-Gigs gingen und auf dem Wacken seit Jahr und Tag Mambo Kurt und Feuerwehr-Blaskapellen abgefeiert werden? ;-)
Was spricht denn auch gegen a sauberne Blechmusi?
Dass sowas funktioniert, liegt ja wohl in erster Linie an einer ominösen Substanz namens Alkohol. Und Wacken ist ja ohnehin zu gleichen Teilen Festival und Volksfest. Ich bin mir nicht so sicher, ob Mambo Kurt auch auf dem PartySan funktionieren würde…
nie und nimmer, das Party San bleibt rummelfreie Zone!!!
Hallo? Nickelback SIND Heavy Metal!!!
Schöner Artikel! Ich hoffe allerdings, dass sich das „Ballermann“, im ansonsten zutreffenden „Konsens-Country-Rock“ nur auf dort gerne gespielte Musik interpretiert, denn ausgerechnet aus einem Genre wie dem Heavy Metal kommend sollte man BossHoss so etwas inhaltlich sicher nicht vorwerfen :D