Nahe der Hamburger Uni lädt das Logo zu einem der vielseitigsten Metalcore-Abende ein, den drei Bands auf die Beine stellen könnten. ATTILA, CHUNK! NO, CAPTAIN CHUNK! und SHOOT THE GIRL FIRST locken ein tendenziell junges, aber auch sehr gemischtes Publikum an: bunte Haare, Mützen, Hipsterbärte, Caps, Knicklicht-Brillen, eine Fastfood-Krone und ein Bananen-Kostüm – entspannt, chaotisch, interessant.
Das verbindende Element des Abends ist der Metalcore – irgendwie. SHOOT THE GIRL FIRST jedenfalls starten erst einmal mit elektronischen Clubsounds, nach denen Sänger Alex Sayti erst seine vom Dämon Deathcore besessenen Stimmbänder freiscreamt, um dann eine Stimmfarbpalette zu präsentieren, die einem mehr als nur ein respektierendes Nicken abnötigt. Ein gutgemeinter Vergleich mit Eskimo Callboy liegt nicht allzu fern, auch wenn die französischen SHOOT THE GIRL FIRST wesentlich mehr cleane Metalcore-Parts verbauen. Doch wenn Sie jetzt zum Konzert gehen, gibt es gratis noch ein Musik-Genre obendrauf! Crystal heißt die junge Dame am Keyboard – ja, Keyboard! –, die mit ihrer Stimme den Deathcore im Zeichen melancholischer Verzweiflung in den Post-Hardcore hinüberschickt. Besonders herzzerreißend shoutet sie sich durch die ruhigeren Passagen, was teilweise sogar ohne Mikro gut hörbar bleibt – Respekt! SHOOT THE GIRL FIRST sind jung, chaotisch und unangepasst. So jagen sie den locker gefüllten Raum im Sekundentakt von Elektro-Hops-Passagen über Violent-Dance-Massaker zu verträumtem Stillstand. Bis zum nächsten concert génial von SHOOT THE GIRL FIRST darf das Album „Follow The Clouds“ gesuchtet werden.
Den Mittelpart des schrägsten Core-Konzerts des Jahres spielen – ebenfalls aus Frankreich – CHUNK! NO, CAPTAIN CHUNK!, die Metalcore fabrizieren, dessen überwiegenden Cleanparts mit Pop-Punk ausgefüllt sind. Der Raum – stärker gefüllt als zuvor – ist in ständiger Bewegung, wenn der qualitativ mehr als einwandfreie Collegerock jäh in einen bassgepeitschten Breakdown übergeht, der live – wesentlich härter als auf den Platten – geradezu deathcorig beshoutet wird. Um die Genrekomplexität des Abends, die CHUNK! NO, CAPTAIN CHUNK! auch durch ein Stilrichtungs-Zappen im Intro gekonnt auf den Punkt bringen, nicht abbrechen zu lassen, wird der Alternative-Pop-Rock-Song „All Star“ von Smash Mouth gecovert. Hervorragend wird vom Original in eine Pop-Punk- und auch in eine Metalcore-Version des Stücks gesprungen. Amüsant locker, selbstverständlich und ungestellt machen die Jungs genau den Spaß, den sie auch ausstrahlen. Vom Videodreh über die Verstärkung durch den Shoot-The-Girl-First-Sänger bis zum deutlich zu optimistischen Stagedive bieten CHUNK! NO, CAPTAIN CHUNK! alles, was das genrekonfuse Core-Herz begehrt. Darüber hinaus haben sie auch noch ein neues Album im Gepäck: „Get Lost, Find Youself“.
Mittlerweile ist das Logo recht gedrängt voll und ATTILA lassen auf sich warten. Ungeduldig und bestens gelaunt singt das Publikum die Soundchecks mit und geht dann zum Scooter’schen „Döpen“ über, bis die „Party With The Devil“ mit ebendiesem Song beginnt. Der Sänger Chris Fronzak macht mit den langen Haaren unter der „SICK“-Mütze, seinem tätowierten Hals, seiner gruselig langen Zunge und seiner wahnsinnigen Ausstrahlung einen passend teuflischen Eindruck, wenn er erklärt, dass dieses Konzert der perfekte Ort zum Ausrasten sei. Gesagt, getan: Das Publikum pogt, mosht, crowd- und stagedivet zu einer Musik, die Deathcore, Rap, Hardcore und eine metalaffine E-Gitarre vereint. Das Ausspucken des Sängers, die recht amerikanische, affektiert coole Attitüde und das partiell sehr an Hip Hop erinnernde Bühnenverhalten scheinen hier niemanden zu stören – oder niemand hat Zeit dafür, denn eine raumeinnehmende Wall of Death verwandelt unter gewaltigen Deathgrowls die Fläche in ein Schlachtfeld. Was auf der neusten ATTILA-Platte „Guilty Pleasure“ eine weitere Entwicklung zum nu-metal-artigen Rapcore vermuten lässt, bekommt live einen Ausdruck, der eher nur in den zahmeren Momenten mal an Limp Bizkit oder aber auch System Of A Down erinnert. Abgeschlossen wird der genrevariable Abend durch eine Zugabe, in der ATTILA die Fans vom Elektro zum Rap, zum Elektro zurück, durch Rap und Metalcore zu einem Breakdown schickt, der in Deathcore aufgeht. Und die Menge singt bis zum Ende mit: „Payback Is A Bitch!“
Ein metalcoreinternes Genrechaos geht zu Ende und lässt einen äußert zufriedenstellenden Rückblick zu: SHOOT THE GIRL FIRST konnten trotz leicht verplant-chaotischer Art ein grandioses Trance-Death-Post-Hardcore-Bühnenstück inszenieren, das durch den Pop-Punk-Metalcore von CHUNK! NO, CAPTAIN CHUNK! energetisch, packend und ausgelassen fortgeführt wurde. ATTILAs Attitüde mag gewöhnungsbedürfig sein, ihre Musik weiß allerdings hervorragend zu unterhalten. Sehr gute Bands, sehr guter Sound, sehr gutes Konzert – was will man mehr?