Die norddeutschen Shanty-Rocker SANTIANO haben sich seit ihrer Gründung 2011 zu einem bemerkenswerten Phänomen entwickelt. Es scheint keine Rolle zu spielen, wo die gecastete Band die Bühne betritt: Das simple Konzept der feiertauglichen Seemannsmusik gemixt mit Cover-Songs alter Rockklassiker funktioniert auf Wacken genauso wie im Vorprogramm von Helene Fischer oder im Tollwood-Zelt in München. Ein Erklärungsversuch.
Warum die Location zunächst bestuhlt ist, erschließt sich nicht. Gerade bei SANTIANO und ihren Shantys steht, klatscht und singt die Menge, meist im Chor. So kommt es dann auch bereits nach wenigen Sekunden: Die Stuhlreihen spielen nur noch eine untergeordnete Rolle und die Konzertbesucher im beinahe ausverkauften Zelt verteilen sich darum und dazwischen. Für München ein seltener Umstand. Direkt zu Beginn entführen die Nordmänner ihre willige Mannschaft mit drei Vorzeigenummern auf die hohe See: „Gott muss ein Seemann sein“, „Salz auf unserer Haut“ und „Santiano“ funktionieren vom ersten Takt. Mitsingen kann jeder, der Sound ist brillant, das Licht perfekt – kurzum: die Inszenierung stimmt. Und die Menge tobt. Sympathisch dabei, dass sich der bewusst auf kommerziellen Erfolg getrimmte Fünfer keine Sekunde ernster nimmt als es seine Musik überhaupt zulässt. Hier geht es wirklich um die simpelste Form der Unterhaltung, quasi die musikalische Nulldimension in bester Schlagermanier. Dies ist so unverschämt eingängig, dass es schwer fällt, davon nicht zumindest ein bisschen angesteckt zu werden. Andererseits haftet SANTIANO immer etwas Unechtes an und die makellose Show trägt ihr Übriges dazu bei.
Beinahe wirkt es so, als ob die Verantwortlichen bei der Zusammenstellung der Band schon ein Live-Abziehbild vor Augen hatten: „Wir brauchen einen glatzköpfigen Sänger mit Tattoos und Charisma, dazu einen kauzigen Lockenkopf mit Gitarre und noch einen, der nach etwas aussieht und gleichzeitig singen kann.“
Genau das haben sie bekommen und ihnen die dazugehörige Musik mit inzwischen drei Alben auf den Leib geschneidert. Das funktioniert auf Englisch und Deutsch gleichermaßen. Ob „Blow Boys Blow“ oder ein frech von The Hooters abgekupfertes „500 Meilen“ – alles klickt, alles passt. Verspieler oder falsche Töne sucht man vergebens. Die einzelnen Musiker scheinen nur den Job zu haben, die Vorgaben live so perfekt und frenetisch wie möglich an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Diese Herausforderung erfüllen sie mit Bravour, da sie nie ohne Leidenschaft agieren. Im Gegenteil: Man kauft ihnen das Schauspiel ab, fragt sich allerdings gleichzeitig, warum viele kleinere Kapellen soviel Herz, Liebe, Zeit und Nerven in ihre Musik und besonders ihre Texte stecken, wenn der Weg nach oben vergleichsweise einfach ist und dabei völlig ohne einen Funken Anspruch auskommt.
Zum Schlagerpop gibt es noch ein bisschen Seefahrerromantik und wenn man ganz genau hinguckt, erkennt man im Hintergrund sogar einen Schlagzeuger und Keyboarder. Wirklich entscheidend ist dies nicht, ebensowenig wie der Umstand, wer gerade sonst noch auf der Bühne steht. Das SANTIANO-Konzept mit eingestreuten Klassikern wie „Alle die mit uns auf Kaperfahrt fahren“ oder „Irish Rover“ würde mit fünf anderen Musikern ebenso gut funktionieren. Genau diese Tatsache und ein beinahe zu perfektes Klangbild nehmen dem Projekt eine gewisse Nahbarkeit für alle, die mehr wollen als nur atemloses Klatschen und Singen auf hoher See. Eben weil die Musiker, ihre Geschichten und eigenen Ideen dafür völlig irrelevant zu sein scheinen.
Wenn Sänger Timsen schließlich zum Didgeridoo greift und Geiger Pete dazu einstimmt, bewegen sich SANTIANO etwas aus ihren Fahrwassern – ebenso wenn sie bei Balladen mit ihren vier hervorragend aufeinander abgestimmten Sangesstimmen gleichzeitig agieren. Der Rest funktioniert nach Schema F und wäre auch mit weniger Zeit ausgekommen, ohne dass der musikalische Nährwert des zweistündigen Abends gelitten hätte. Dass die Wahlseefahrer ihr erstes Konzertdrittel komplett ohne Songs ihres aktuellen Albums „Von Liebe, Tod und Freiheit“ auskommen und sich danach musikalisch rein gar nichts ändert, beweist wiederum einige der oben genannten Thesen.
Am Ende ist ihre Musik eben doch nur ein Mittel zum Unterhaltungszweck für Jedermann. Statt eines überflüssigen „Whiskey In The Jar“ wäre z.B. am Ende das plattdeutsche „Fresenhof“ die mutigere Alternative gewesen. Dann wären SANTIANO im Süden der Republik allerdings das Risiko eingegangen, dass sich Urbayern an diesem Teil des Konzerts stören könnten. Dieser Umstand sollte vermieden werden, denn SANTIANO wurden geschaffen, um immer allen zu gefallen. Und dieser Aufgabe kommen sie nach.