Voilà, da ist es – das erste unerwartete Highlight des Jahres. Mit ihrem schlicht „Incura“ betitelten Debüt haben mich die Kanadier von INCURA rundheraus überrascht. Immerhin musste die Gruppe gleich zwei Hindernisse überwinden, um ihren Weg in mein Herz zu finden. Zum einen die meiner bescheidenen Meinung nach leider völlig misslungenen, weil zu augenfällig tendenziösen Bandfotos (was hat bitte eines der Mitglieder auf einem Flügel zu liegen, wobei ihm die langen Haare vom Instrument hängen?), zum anderen den Promo-Zettel, der die gewohnten Superlative ins Lächerliche trieb.
Würde stimmen, was dieser Zettel verspricht – „INCURAs Musik ist praktisch nicht klassifizierbar“ –, dann wäre dieses Review eine bare Unmöglichkeit. Das Schreiben über Musik ist ja so schon keine allzu leichte Angelegenheit. Zudem habe ich mich schon ein wenig über die angebliche Intention des Albums gewundert: „Ihre Botschaft ist einfach: Sei ein Anführer, kein Mitläufer.“ Es bleibt die Frage, ob ein Heer aus Anführern nicht mindestens ebenso gruselig ist, wie ein Heer aus Mitläufern. Sei es drum. Hätte der Verfasser dieser Zeilen den Fuß etwas vom Jubel-Pedal genommen und schlicht gesagt: „Incura“ ist ein verdammt gutes Prog-Rock-Album geworden, ich hätte ihm von Herzen zugestimmt.
Denn genau das ist der Fall; mit „Incura“ legen die Kanadier ein abwechslungsreiches und sehr unterhaltsames Album vor. Die Band bewegt sich in der Schnittstelle zwischen Hard Rock und modernem Metal und reichert ihre Musik zudem mit teils geradezu operettenhaften Momenten an. Dieser theatralische Aspekt macht einen Großteil der oben angeklungenen Probleme in Sachen Klassifizierung aus. Denn – und das sei nachgerade unterstrichen – mit „symphonic“ hat das hier nichts zu tun. Statt aufgeplusterter Konservenorchestrierung spielen INCURA mit klassischen Harmonien, legen darüber ihre knackigen Riffs und entwickeln daraus ihre schlicht süchtig machenden Strophen- und Refrainmelodien. Getragen wird das Ganze von dem teils etwas überspitzt agierenden Sänger Kyle Gruninger, der eine kräftige, klare Stimme und darüber hinaus ein Gespür für Dramatik und Komik zugleich hat.
Man muss sich nochmals klar machen, dass „Incura“ ein Debüt ist. Ein Debüt, das in 10 Songs so viele witzige, ergreifende und packende Ideen entfesselt, dass andere Bands hieraus mit Leichtigkeit ihre ganze Diskographie bestreiten könnten. Schon der Opener „Get The Gun“ baut in wenigen Sekunden eine dermaßen gelungene Stimmung auf, dass die im Promo-Zettel erwähnte zweijährige Kreativphase, die der Aufnahme des Albums vorausging, sofort gerechtfertigt erscheint. Und so geht das weiter; „I’m Here Waiting“ besticht durch seinen getragenen Refrain, „Who You Are“ durch die konsequente Verquickung von Rock und klassischer Melodieführung (mit Hang zur Parodie) und „Decide“ zieht in Sachen Eingängigkeit alle Register. Das alles ist richtig gut. Natürlich könnte man – um nochmals den mittlerweile lieb gewonnenen Promo-Zettel zu zitieren – auch davon sprechen, dass INCURA eine Vision ist, die wahr geworden ist. Nein, das wäre wohl doch zu viel, selbst angesichts der restlos desolaten Radio-Landschaft. „Incura“, wie bereits erwähnt, ist ein verdammt gutes Prog-Rock-Album geworden, eingängig, abwechslungsreich – und letztlich sogar klassifizierbar.
Wertung: 9 / 10