(Hard Rock / Moderne Klassik / Moderner Jazz / Progressive) MOTORPSYCHO machten zuletzt 2010 mit dem monströsen Space-Rock-Album „Heavy Metal Fruit“ auf sich aufmerksam, das den unglaublichen Spagat zwischen entspannt vor sich hin groovendem Hard Rock und pechschwarzen Soundwänden im Sinne King Crimsons hinlegte. 2012 tut man sich nun mit dem Keyboarder Ståle Storløkken zusammen, der noch ein Streicherensemble und das Trondheim Jazz Orchestra an Bord holt, um mit „The Death Defying Unicorn“ noch einen draufzusetzen.
Dabei bleiben MOTORPSYCHO sich musikalisch prinzipiell treu: Dominanter, dröhnender, dabei sehr selbstbewusst bedienter Bass, fette, bratende Gitarren und unbarmherziges Schlagzeug. Gesang spielt bei den Norwegern keine besonders große Rolle, immer noch lauscht man vor allem instrumentalen Kolossen, die im einen Moment erstaunlich eingängig und griffig daherkommen, im nächsten zu undurchsichtigen, zähen Brocken mutieren, in die man sich erst mühevoll hineinfinden muss. Den wesentlichen Unterschied macht wohl tatsächlich der Beitrag Storløkkens und der Jazz- und Klassik-Musiker, die die ohnehin nicht leicht zu fassende Musik zu etwas vollkommen Neuem, noch nie Gehörtem mutieren lassen.
Bläser und Streicher sind es, die „Out Of The Woods“ und das anschließende, zugehörige „Hollow Land“ führen: Nervös und fragil, aber doch bestimmt und treibend bahnen sie sich den Weg in die Dunkelheit, aus der der Hörer zu keiner Sekunde mehr entlassen wird. Für irgendein Genre typisch klingt man nie, nur die Assoziationen sind bekannt. Mal geht es groovig wie im Stoner-, mal abgehoben wie im Space Rock zu, mal entspannt-gammelig wie im Psychedelic, mal gibt es introvertierte Klang-Collagen wie im traditionelleren Jazz, mal scheinbar unverknüpft nebeneinander stehende Instrumental-Tupfer wie im Free Jazz zu hören. Man kann erhaben klingen, locker, schüchtern, im nächsten Moment wieder todernst und brachial. Das eigentlich Unfassbare ist dabei noch vor der unkonventionellen, vielschichtigen Instrumentierung der Umstand, dass man es schafft, diese vollkommen gegensätzlichen Eindrücke logisch miteinander zu verknüpfen und den Hörer nicht vollkommen zu überfahren. So fremd „The Death Defying Unicorn“ für die Ohren klingt, so spannend ist es, die Geschichte des Konzeptalbums zu erkunden. Auch vollkommen ohne Texte bleiben die knappen anderthalb Stunden eine einzigartige Reise, die von Spannungsbögen nur so trieft und bei der man zu keiner Sekunde das Gefühl hat, die Protagonisten hätten in ihrer doch recht komplexen Klangwelt irgendwann selbst den Faden verloren.
Auf „The Death Defying Unicorn“ wird man keine Mitsing-Melodien finden, vermutlich werden während der ersten Hördurchläufe überhaupt wenige konkrete Höhepunkte hängenbleiben – die gibt es zwar auch, wie etwa im tieftraurigen „Oh, Proteus – A Prayer“ oder im berührenden, triumphalen „La Lethe“, sie sind jedoch nur das Sahnehäubchen auf einem Album, das gerade dadurch groß wird, dass es ohne klare Struktur auskommt und seine Geschlossenheit und seinen Sinn erst in seiner Gesamtheit offenbart. Für Freunde bildgewaltiger, unkonventioneller Musik, die, wenn überhaupt an etwas, am ehesten an Filmmusik oder modernen Jazz und ebensolche Klassik erinnert (dafür aber wiederum viel zu viel Eier hat), könnte „The Death Defying Unicorn“ so etwas wie der Heilige Gral sein. Mehr Vielfalt bei mehr innerer Logik, mehr Innovationswillen bei mehr Hörbarkeit ist dieser Tage wohl kaum auf dem Markt zu finden. Ich mag aufgrund der ausgesprochenen Seltsamkeit der Musik keine Kaufverpflichtung aussprechen, reinhören sollte aber absolut jeder, der ansatzweise etwas mit interessanter, unverbrauchter Musik anfangen kann.
Wertung: 10 / 10