FOCUS gehören zu den wenig beachteten, aber qualitativ großen Progressive-Rocks-Acts der Siebziger. Obwohl der musikalische Vergleich zu Jethro Tull naheliegt, war die Band um Jan Akkerman und Thijs van Leer auf der einen Seite immer etwas weniger vom Folk beeinflusst, auf der anderen Seite aber auch klassischer als die Briten. Beides dokumentiert der größte Erfolg der Band, „Hocus Pocus“, recht eindrucksvoll und präsentiert zugleich das instrumentale Können wie auch das markante Jodeln van Leers.
Gut 40 Jahre nach dem Erscheinen dieses Hits sieht die Situation doch etwas anders aus. Akkerman ist längst Geschichte, FOCUS haben, nachdem es 2002 und 2006 immerhin noch einmal neues Material gab, auch schon wieder sechs Jahre Studiopause hinter sich. Van Leer ist aber immer noch an Bord und prägt den Sound der Band nach wie vor. Inzwischen allerdings weniger mit Vokalakrobatik, als vielmehr mit seinem vielseitigen Flöten- und Hammondspiel. Dass beides dem Multiinstrumentalisten noch eine Menge Spaß macht, hört man dem Album sehr deutlich an. Die leicht manische Seite seines früheren Spiels scheint ihm indes abhanden gekommen zu sein, und so klingt „X“ eher nach einer gemütlichen Lokomotivfahrt durch den Märchenpark im Disneyland, als nach einem spannenden Prog-Album. Die Sonne scheint, Bambi winkt, Aschenputtel verteilt Gummibären, Schneewittchen und die sieben Zwerge tanzen Ringelreihn, da schmeckt die Zuckerwatte gleich noch einmal besser. Alles ist wundervoll harmonisch auf diesem Album, man schafft es sogar, das ziemlich amtliche technische Können jedes Protagonisten zur Schau zu stellen, ohne, dass der Frieden dabei gestört würde.
Leider darf die Lok aber zu selten Luft ablassen – „All Hens On Deck“ ist das einzige Beispiel, in welchem mal etwas Linie in das fabenfrohe Spiel kommt, hier treffen grelle Hammond-Sounds auf Fusion-Rhythmen und schaffen damit ansatzweise Spannung. Ansonsten präsentieren sich FOCUS als große Prog-Hippies, die sogar Yes und den erwähnten Jethro Tull problemlos den Rang ablaufen, was dick aufgebutterte gute Stimmung angeht. Das ist immerhin so gut gemacht, dass die Scheibe auch aus den frühen Siebzigern stammen könnte, die lyrischen, elegischen Songstrukturen mit Folk-Einflüssen klingen wirklich zu 100% nach Oldschool – nur ist das vielleicht nicht unbedingt das, was man von einer Band will, die in dieser Ära nicht nur selbst eine Reihe von Alben aufnahm, sondern seitdem auch noch 40 Jahre lang ausufernd kopiert wurde.
Wie immer bei solchen Alben ist es auch im Falle von „X“ schwierig, eine gerechte Wertung abzugeben. Wer sich gerade in den Progressive Rock einarbeitet, kann sich dieses Album an Stelle von vielen anderen zulegen und bekommt musikalische Feinkost, die der Konkurrenz in nichts nachsteht. Wer aber – wie ich – schon das ein oder andere Wunderland-Prog-Album besitzt und bemerkt hat, dass die Lok im Grunde doch immer nur im Kreis fährt, kann sie sich auch wunderbar sparen. Dass das Cover vom klassischen Prog-Zeichner Roger Dean gestaltet wurde, das Motiv aber nicht gerade überwältigt, reflektiert dieses Dilemma ganz gut auf optischer Ebene.
Wertung: 6.5 / 10