Dezember 2011

Review Nightwish – Imaginaerum

Im Jahr 2007 sind NIGHTWISH in ihre zweite Ära gestartet, „Dark Passion Play“ war und ist noch immer ein großartiges Album. Tarja Turunen wurde verabschiedet (mehr oder weniger), die Schwedin Anette Olzon trat die schwere Nachfolge an. Sie konnte und wollte Tarja nicht 1:1 ersetzen, es wäre wohl auch schief gegangen, ich jedenfalls halte ihre Vorgängerin für die beste Sängerin der gegenwärtigen Populärmusik. Anette wurde größtenteils trotzdem überwiegend positiv aufgenommen, ihre vielseitige Stimme verleiht dem Sound schließlich auch neue Facetten und Möglichkeiten. Jetzt, vier Jahre später, ist sie so richtig angekommen in der NIGHTWISH-Welt. In ausgiebigen Touren ist sie mit der Band zusammengewachsen und hat wichtige Erfahrungen gesammelt.

Im ersten Track „Taikatalvi” darf sie das noch nicht zeigen, denn bei dem ruhigen Opener agieren alleine das noch gemäßigte Orchester und Marco Hietala am Gesang, der hier und im weiteren Verlauf endlich öfter zeigen darf, dass er ein richtig guter Sänger ist und viel mehr kann, als nur den Schreihals zum Kontrast zu mimen. Das Orchester selbst ist diesmal ebenfalls viel präsenter als noch auf „Once“ und „Dark Passion Play“. Vor allem bei letzterem war es ja schon stark integriert, auf „Imaginaerum“ aber ist es praktisch mit der Band verwachsen. Die Violinen, Celli, Dudelsäcke, Flöten, Trompeten, Hörner und viele weitere Blas-, Streich-, Zupf- und Percussion-Instrumente gehören inzwischen fest zum Klangspektrum der Finnen und es ist schlicht überwältigend, welch begeisternde Akustik hier geschaffen wurde. Dadurch ist das Album noch breiter, noch mächtiger, noch theatralischer und dramatischer als alles, was NIGHTWISH bisher gemacht haben. Dazu gesellen sich außerdem noch riesige Chöre und sogar ein Kinderchor. Dieser stört auch überhaupt nicht, ist an den richtigen Stellen eingebunden und trägt dort einiges zur einnehmenden Atmosphäre bei.

Der Metal kommt bei all der orchestralen Soundgewalt natürlich nicht zu kurz, häufig treten NIGHTWISH sogar mit richtig harten, ungeschliffenen Riffs und wuchtigem Drumming auf. Dabei ist die Nähe zum klassischen Heavy Metal wie auch zum bisherigen Schaffen überdeutlich, in den Melodien und Arrangements hört man immer noch die Musikanten von „Angels Fall First“, „Oceanborn“ und „Wishmaster“ heraus. Beim inzwischen siebten Album „Imaginaerum“ aber sind die Melodien, die Harmonien, die Gefühle der Musik bei weitem nicht mehr so offensichtlich und direkt präsentiert wie damals. Zahllose Spuren, Details und Wendungen innerhalb der Songs sowie der große Abwechslungsreichtum des Albums verlangen vom Hörer, dass er sich darauf einlässt, dass er sich mit der Musik auseinandersetzt, dass er selbst interpretiert und die Gefühle entwickelt, die ihm als richtig erscheinen.

Details und Wendungen werden durchgehend in Hülle und Fülle geboten, und ich kann es nur ein weiteres Mal erwähnen: Tuomas Holopainen ist ein unglaublich begnadeter Songwriter. Das vorab bekannte „Storytime“ mag in seinem Grundgerüst noch recht straight und direkt sein, bietet aber auch bereits viele kleine, versteckte Elemente, die es sich zu entdecken lohnt. Erstmals so richtig komplex wird es bei „Ghost River“, das alleine für sich schon beinahe ein kleines Rock-Musical darstellt. Das Zusammenspiel zwischen Anette und Marco am Gesang ist derart überragend, dass mir in Verbindung mit den Riffs, Chören und der Orchestrierung auch nach zahlreichen Durchgängen noch wohlige Schauer über den Rücken rasen. Überhaupt scheinen die beiden einen Heidenspaß daran zu haben, ihren Gesang in der Art eines Schauspiels aufzuziehen. Hier meint man, sich in einem Theaterstück zu befinden, in dem mit Inbrunst mehrere Charaktere verkörpert werden. Richtig abgefahren wird es bei „Scaretale“, hier wähnt man sich in einer von Tim Burton dirigierten Grusel-Oper, bei der vor allem Anette mit ihrem biestigem Gesang für Staunen sorgt. Ist vielleicht das vielseitigste und verrückteste Stück, das von NIGHTWISH jemals zu hören war. Sehr überraschend aber ist gleichermaßen „Slow, Love, Slow“ mit seiner rauchigen Jazzclub-Atmosphäre, sowohl die Instrumentalisten als auch Anette zeigen ganz neue Seiten von sich.

Selbst aus einer relativ gewöhnlichen Akustikballade wie „Turn Loose The Mermaids“ erwächst noch ein Spektakel. Meint man, das Stück bereits erfasst zu haben, ertönen plötzlich stark an Ennio Morricone erinnernde Westerngitarren, bevor auch das Orchester nochmal einen bemerkenswerten Einsatz hat – Fantastisch! Überhaupt zieht sich das durch das gesamte Album: Wähnt man sich schon in Sicherheit, ein Lied durchschaut zu haben, setzen NIGHTWISH noch einen drauf und erzeugen mit einer genialen und oft auch denkbar einfachen Wendung oder Steigerung (wie etwa blecherne Hammerschläge) noch eine ganz neue Qualität.
Mit dem fast 14-minütigem „Song Of Myself“ gibt es dazu noch den zweitlängsten Track der bisherigen Bandkarriere. Konzipiert ist es als Tribut an den US-amerikanischen Dichter Walt Whitman und präsentiert sich in drei Akten, von denen die ersten drei – erst kaum voneinander abgrenzbar – sehr metallisch, poppig und pompös als typischer Neo-NIGHTWISH-Song überzeugt. Der vierte Akt wirkt anfangs sehr befremdlich, hier nämlich sprechen mehrere Personen (z.B. Vater und Söhne von Marco Hietala) Verse des Dichters. Sehr eigen und gewöhnungsbedürftig, ist aber trotz des mehrere Minuten langen Sprechparts ein weiteres Highlight. Als Abschluss präsentiert sich der Titeltrack „Imaginaerum“ als Medley der Hauptthemen des gesamten Albums. Klingt in der Vorstellung vielleicht nicht besonders spannend, ist aber unglaublich gut umgesetzt und ein würdiges Ende dieser 75 Minuten.

Jeder der 13 Songs hätte hier einen eigenen Absatz verdient gehabt, jeder ist für sich als eigenständiges Lied sowie als unverzichtbarer Teil des Albums herausragend. NIGHTWISH gelang hier ein allüberstrahlendes Meisterwerk, völlig zweifellos mein persönliches Album des Jahres 2011. Spätestens jetzt, mit ihrem siebten Album, sind NIGHTWISH eine völlig einzigartige Band geworden, mit keiner anderen Gruppierung mehr vergleichbar, sie spielen in einem ganz eigenen Universum. Oft wird es als Floskel benutzt, hier jedoch ist es tatsächlich so, dass „Imaginearum“ von Anfang bis Ende Gänsehaut erzeugen kann und unter die Haut geht. Trotz vieler hervorragender Vorgängeralben gelang es Tuomas Holopainen hier, einige der besten Kompositionen der Bandgeschichte zu erschaffen, reich an Komplexität und Details wie auch an Eingängikeit und Langzeithaltbarkeit.

Eine weitere oft benutzte Floskel: Kopfkino. Dieses Album erzeugt Bilder vor dem inneren Auge wie kein zweites, stets wirkt es wie ein Soundtrack zu einem imaginären Film. Im Vorfeld oft und gerne kritisiert wurde die Idee, auf dem Album basierend einen Film zu produzieren, auch ich selbst hielt das immer für ziemlichen Quatsch. Nachdem das Album aber nun so einige Durchgänge hinter sich hat, bin ich der festen Überzeugung, dass die Musik eine hervorragende Basis für eine Filmidee ist. Ob die Umsetzung gelingt, steht natürlich wieder auf einem ganz anderen Blatt. Sehr empfehlenswert übrigens ist, wie auch schon bei „Dark Passion Play“, die Special Edition, da hier wieder eine Bonus-CD mit dem kompletten Album als Instrumental-Version dabei ist. Eine abschließende Warnung noch: Zum Nebenbeihören ist „Imagniaerum“ vor allem bei den ersten Durchläufen nur sehr bedingt geeignet, da es so unter Umständen eher oberflächlich, überladen und kitschig wirken mag und sich die Details kaum entfalten können. Aber das sollte ja spätestens seit „Once“ bekannt sein. Und wer NIGHTWISH nur direkt mag und nach „Century Child“ schon Probleme mit der Ausrichtung hatte, wird auch hier vielleicht nicht glücklich werden.

Wertung: 10 / 10

Geschrieben am 6. April 2013 von Metal1.info

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