Wenn der Hauptsongwriter einer Band beschließt, keiner weiteren Tracks für die Combo zu komponieren, bedeutet das oft den Tod einer musikalischen Institution. So geschehen mit Spock’s Beard, die seit dem Weggang von Neal Morse nur noch mit Ghostwritern an ihren Alben arbeiten. Kansas, die erfolgreichste amerikanische Prog-Formation der Siebziger, hat dieses Schicksal nun auch getroffen. Kerry Livgren und Steve Walsh verdeutlichten, dass sie keine Beiträge für ein neues Kansas-Werk schreiben werden.
Die verbliebenen vier Musiker – Billy Greer (Bass), Richard Williams (Gitarre), Phil Ehart (Schlagzeug) und David Ragsdale (Violine) – machten aus der Not eine Tugend und schlossen sich kurzerhand zu einer neuen Gruppe zusammen: NATIVE WINDOW. Als solche wollen sie keineswegs Kansas ersetzen und beerben; es ist ein Nebenprojekt, das natürlich darauf pocht, dass die immer noch zahlreichen Kansas-Fans, die sehnsüchtig ein neues Album ihrer Helden erwarten, jetzt bei Native Window zuschlagen.
An dieser Stelle bereits die erste Warnung: Auf ihrem Debüt präsentieren NATIVE WINDOW keineswegs progressiven Rock, sondern spielen eine sehr ruhige, meist akustisch gehaltene Version des Melodic Rock. Nun haben Kansas in den Achtzigern ja durchaus auch Melodic Rock-Platten veröffentlicht, doch diese lassen sich nicht wirklich mit dem selbstbetitelten Erstling von NATIVE WINDOW vergleichen.
Beim Songwriting der Scheibe gab es laut Drummer Phil Ehart zunächst nur ein Kriterium: „Der Song muss auch akustisch gut klingen“. Dieser Beschluss hat schwere Folgen: Über die gesamte (sehr kurze) Spieldauer von 41 Minuten und 10 Songs geht es hier äußerst seicht und kraftlos zu. Schon nach drei Songs sehnt sich der Hörer nach einem flotteren Rocksong, auf den er aber vergeblich wartet. Die Melodien sind ausgelutscht und genretypisch, immerhin hervorragend gesungen von Billy Greer und mit teilweise schönem Chorgesang aller Beteiligten veredelt. Auf Keyboards verzichtet der Vierer, dafür darf David Ragsdale mit seiner Violine schöne Akzente setzen. Viel Platz für Instrumentalpassagen bleibt allerdings nicht: Beinahe alle Songs sind nach vier oder spätestens 4 ½ Minuten zu ende, ähnlich aufgebaut und aus erschreckend wenig Zutaten zusammengesetzt. Bei Herren, die noch vor wenigen Wochen erstaunlich vital und jung auf der aktuellen Kansas-Live-DVD „There’s Know Place Like Home“ gerockt haben, muss die Messlatte einfach höher liegen.
Die zwei stärksten Tracks sind genau in der Mitte platziert: „Blood In The Water“ ist ein netter Rocker mit einigermaßen spannenden Arrangements, der auf jedem guten Hardrock-Werk zwar untergehen würde, hier aber den Hörer wachrüttelt. Das darauffolgende „An Ocean Away“ besticht durch tolle Melodien. Danach versinken NATIVE WINDOW schnell wieder in dem Sumpf aus Kitsch, Beliebigkeit und lahmen Kompositionen.
Es ist ein zähes, langatmiges Album, dass die Kansas-Instrumentalisten hier vorlegen. Kansas-Anhänger, die die Band wegen ihres energiegelandenen Progrocks mögen, lassen bitte die Finger davon. Eine herbe Enttäuschung steht Euch bevor. Selbst Melodic Rock-Hörern dürfte diese Platte nur mäßig Freude bereiten. Es ist einfach alles zu routiniert, uninspiriert, dröge. Wirklich schade, denn das bedeutet, dass alle Kansas-Fans wohl wirklich vergeblich auf ein gutes, neues Album hoffen. Andererseits können sie froh sein, dass diese Platte nicht unter dem Banner Kansas erscheint, denn damit würden sich die vier Herren ganz sicher keinen Gefallen tun.
Wertung: 5.5 / 10