Review Rammstein – Liebe ist für Alle da

Marily Manson dürfte ein Bisschen traurig sein: Währen sein Video zu „Heartshaped Glasses“ kaum Aufmerksamkeit erhaschen konnte und er mehrfach darauf hinweisen musste, dass darin leibhaftige Sexualität zu sehen sei, um überhaupt kurze Beachtung zu finden, gelang RAMMSTEIN mit ihrem Pornovideo zu „Pussy“ der Musik-Skandal des Jahres. Mit expliziter Sexualität auf Hardcore-Porno-Niveau lassen sie jeden Clip selbsternannter „Porno-Rapper“ bubenhaft aussehen, mit sexueller als einziger Handlung rücken sich RAMMSTEIN pünktlich zum Album-Release in den Mittelpunkt medialen Interesses – denn egal, ob man die Idee, im Jahre 2009 mit Sex provozieren zu wollen, für plumpe Provokation oder Sozialkritik an der Doppelmoral der Gesellschaft erachtet – eines ist sie auf alle Fälle: Ein Promotion-Gag der Superklasse. Tageszeitungen veröffentlichen Interviews mit Bassist Riedel, die sich ausschließlich mit dem pornographischen Video beschäftigen, selbst Der Spiegel reagiert kaum anders und Deutschlands auflagenstärkste „Zeitung“ beglückt das Volk mit dem tollen Wortspiel „Rammelstein“. Dass das Konzept aufgeht, zeigt sich nur wenig später: Pussy landet ohne Umwege auf Platz 1 der deutschen Charts, eine Premiere in der fünfzehnjährigen Bandgeschichte.

Für die nötige Aufmerksamkeit ist also gesorgt, nun muss die Musik diese nur noch rechtfertigen. Doch das sollte, so viel sei vorweggenommen, dem Album „Liebe ist für alle da“ nicht schwer fallen.

Dem pornösen Video, dem morbiden Artwork und dem brachialen Songtitel „Rammlied“ zum Trotz, fängt das Werk geradezu episch an: Ein Chor, dazu Lindemanns Klargesang – schon hier lässt sich erahnen, dass das Album weit vielschichtiger als alles ausfällt, was man bisher aus dem Hause RAMMSTEIN kennt. Der zweite Riff erinnert zwar deutlich an „Sehnsucht“, jedoch ohne die Neuerungen, die „Reise, Reise“ mit sich brachte, außen vor zu lassen. Mit „Ich tu dir weh‘“ folgt sogleich die erste makabere Nummer des Albums – Sadomasochismus-Verherrlichung, wie sie seit „Weißes Fleisch“ höchstens dann und wann Eisregen gewagt hatten: „Bei dir hab ich die Qual der Wahl – Stacheldraht im Harnkanal“ oder „Wünsch dir was, ich sag nicht nein und führ dir Nagetiere ein“ – da geht einem RAMMSTEIN-Fan doch das Herz auf.
Mit dem von Jagdhörnern eingeleiteten „Weidmanns Heil“ ist dann der erste brachiale Kracher des Albums zu notieren. Wäre der Song einige Jahre früher gekommen, wäre der „Weidmanns- Manns- Manns- Heil!“-Refrain wohl gefundenes Fressen für alle Faschismus-Paranoiden, so ist es lediglich eine groovende Hookline in einem treibenden Song – schon der Einstieg tritt Arsch wie man es lange nicht gehört hat – definitiv ein Höhepunkt des Albums. Auch das an den zahnreichen Hai aus der Dreigroschenoper angelehnte „Haifisch“ kann als solcher verbucht werden – denn auch, wenn der Refrain scheinbar reichlich wenig mit dem Rest des Textes zu tun hat, grenzen Verse wie „In der Tiefe ist es einsam und so manche Träne fließt und so kommt es, dass das Wasser in den Meeren salzig ist“ doch fast schon an Poesie. Leider ist nicht jeder Text so gelungen wie dieser – und interessanterweise geht damit auch ein musikalischer Qualitätsabfall einher, sind „Wiener Blut“, das den österreichischen Inzestfall doch sehr oberflächlich und musikalisch belanglos verarbeitet, sowie „Mehr“ textlich und musikalisch zwar nicht schlecht, aber dennoch die schwächsten Songs des Albums – vielleicht bedingt aber auch das Eine das Andere.

Eigentlich mag ich keine Song-By-Song-Reviews. Dass dieses hier beinahe als ein solches zu bezeichnen ist, liegt daran, dass nahezu jeder der Songs einen eigenen Abschnitt verdient hätte: Sei es nun die Nahezuballade „Frühling in Paris“, der Song zum Porno, „Pussy“, oder der Titeltrack „Liebe ist für alle da“ – Lindemann präsentiert seine Sangeskunst vielseitiger und vollkommener denn je und auch musikalisch hat man einen deutlichen Schritt in die richtige Richtung getan.

Denn „Liebe ist für alle da“ ist nach dem völlig misslungenen „Rosenrot“ mehr als nur ein Schritt in die richtige Richtung: Elegant werden die Trademarks, die RAMMSTEIN mit „Sehnsucht“ und „Mutter“ so erfolgreich gemacht haben, mit der musikalischen Weiterentwicklung von „Reise Reise“ gepaart und ergeben ein in sich stimmiges Werk, das von sanft bis heftig, von schleppend bis von reißend, von liebevoll bis bösartig eigentlich alles enthält, was RAMMSTEIN auszeichnet – und das auf einem konstant hohen Niveau, wie man es seit „Mutter“ nicht mehr gehört hat. Schade nur, dass das Album als solches weit harmloser und weniger skandalös ausgefallen ist, als uns die Promotionmaschinerie im Vorhinein glauben machen wollte. Reinhören kann hier dennoch wirklich jedem empfohlen werden, denn auf seine Art wird jeder Freude an dem Werk haben: Die einen, weil ihnen die Musik der Truppe (wieder) gefällt, die anderen, weil sie sich endlich wieder über die primitiven Riffs und teils etwas platt wirkenden Texte der Band echauffieren können – manches ändert sich eben (zum Glück) nie.

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Wertung: 9.5 / 10

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