Mit „01011001“, dem neuen Konzeptalbum von AYREON bzw. Arjen Lucassen, präsentiert InsideOut gleich zu Beginn des neuen Jahres einen vielversprechenden Kandidaten für die vordersten Plätze der „Prog-Album des Jahres 2008“-Abstimmungen. Davon ist jedenfalls auszugehen, legt man die bisherigen Ayreon-Werke zugründe – vor allem „Into The Electric Castle“ (1998) und „Human Equation“ (2004) sind ein Stück Space-Progrock-Geschichte, das man nicht verpasst haben sollte.
Auch bei „01011001“ (ASCII-Code für „Y“) handelt es sich wieder um ein Doppel-Album, diesmal gibt es 107 Minuten verteilt auf 15 Songs. Doch neben Masse ist bei Ayreon seit jeher ja auch die Klasse sehr wichtig. So wird auch das neue Album wieder von einer illustren Schar an Gastsängern und Gastmusikern veredelt bzw. erst auf die Beine gestellt, da Lucassen selbst sich hauptsächlich um die instrumentale Komponente kümmert und das Singen meistens den angeheuerten Szenegrößen überlässt. Es wäre sicherlich zuviel des Guten, hier alle aufzuzählen, besonders eingehen möchte ich jedoch auf Anneke van Giersbergen (Aqua de Annique / Ex-The Gathering) und Blind Guardian-Röhre Hansi Kürsch, sowie Jonas Renkse von Katatonia. Diese drei sind für mich zweifellos die Highlights auf „01011001“: Anneke van Giersbergen begeistert mich seit jeher und strahlt einfach eine Magie aus, der man sich nur schwer entziehen kann. Sie singt ihre weiblichen Mitsängerinnen locker an die Wand und ist so ziemlich als einzige weibliche Vokalistin wirklich auf dem Album herauszuhören und klar und deutlich wiederzuerkennen. Wer eine kleine Kostprobe von ihrem Gesang auf dem Album haben möchte, höre sich den Mittelteil des Openers „Age Of Shadows“ an. Da gibt es Gänsehaut! Jonas Renske überzeugt mit einem sehr stilsicheren und klaren, angedunkelten Gesang, ohne Gothic-Klischees zu bedienen. Seine Rolle auf dem Album ist insofern etwa zu vergleichen mit den Parts, die Devon Graves auf „Human Equation“ eingesungen hat. Hansi Kürsch schließlich ist ein Sänger, der mir – mit Verlaub – bei Blind Guardian nie besonders viel gegeben hat und für mich dort sehr bemüht klingt. Doch hier passt sein hoher Gesang, oftmals im Chor arrangiert, sehr gut ins Bild. Er singt auch viele eher beschwingte Parts, was ich nicht unbedingt erwartet habe. Etwas schade ist, dass er nur wenig Gelegenheit bekommt, solo zu singen, sodass seine Stimme unter den oftmals operesken Vocals der anderen etwas untergeht.
Auch die übrigen Sänger machen ihre Aufgabe sehr gut, wobei Lucassen meiner Meinung nach sich hier etwas zu viele männliche Hardrockröhren (Bob Catley und Steve Lee) und weibliche Gothic-Möchtegern-Opernsängerinnen geangelt hat. Ob nun Simone Simons, Magali Luyten oder Liselotte Hegt singt, bleibt zumindest mir ohne Beihilfe des Booklets oft verborgen. Da diese beiden Tendenzen auch klare Auswirkungen auf die instrumentale Seite der Scheibe haben, ist das etwas schade. Ohne Frage wird Arjen das Gesangsensemble der „Human Equation“ nicht mehr toppen können.
Die Instrumente bedient Arjen Lucassen wie immer überwiegend selbst, lediglich das Schlagzeug hat wieder sein langjähriger Partner Ed Warby übernommen. Ein paar Gastsolisten gibt es freilich auch: Flower Kings-Keyboarder Tomas Bodin steuert ein Solo bei, ebenso Derek Sherinian (ex-Dream Theater) und Michael Romeo (Symphony X).
Zur Story: „01011001“ erzählt wiedermal eine nicht unkitschige SciFi-Geschichte: Die „Forever“ sind Wassergeschöpfe, die mittlerweile völlig abhängig von ihrer Technologie sind und ohne diese nicht überleben können. Sie drohen, ihre Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und auszudrücken zu verlieren, gewinnen dafür aber ewiges Leben. Als ein Komet an ihrem Heimatplaneten „Y“ vorbeirast, nutzen sie die Gelegenheit und bringen auf ihm ihre DNA unter. Der Komet hat Kurs auf den Planeten Erde, wo er zur Zeit der Dinosaurier einschlägt und aus seiner Zerstörung die menschlichen „Forever“ entstehen. Die Gefühle sind wieder da, und um die körperlichen Gebrechen und die mentalen Grenzen zu überwinden, beschleunigen die „Forever“ die Entwicklung ihrer menschlichen Abkömmlinge. Doch der Plan geht schief: Auch die Menschen werden abhängig von Maschinen und stehen vor der Selbstzerstörung. Die „Forever“ auf Planet Y müssen nun entscheiden, ob und wie sie den Menschen auf der Erde helfen können bzw. wollen. Sicherlich eine sehr konstruierte Geschichte, die aber natürlich einen Bezug zu unserem stetigen technologischen Fortschritt hat. Lucassen hat zudem einige Querbezüge zu seinen anderen Alben eingebaut, so trägt zum Beispiel ein Part des Songs „The Sixth Extinction“ den Titel „2085“.
Stilistisch bekommen wir die übliche AYREON-Kost geboten: Flirrende Synthies, metallische Riffs und Grooves, atmosphärische Instrumentalpassagen und folkloristische Zwischenspiele mit klassischen Instrumenten, wie immer zusammengehalten durch die sehr ohrwurmigen Melodien, die sich durch die ganze Platte ziehen. Im Vergleich zum direkten Vorgänger „Human Equation“ wirkt „01011001“ weniger heavy und aggressiv, aber auch weniger schlüssig. Obwohl alle AYREON-Zutaten vorhanden sind, sind die Übergänge nicht immer zwingend und durch die oben beschriebene Sängerauswahl hat das Album in bestimmten Phasen einen überdeutlichen Hardrock-Poser-Faktor und auch nervige Opern-Säuseleien. Das gab es zwar vorher auch schon, aber nicht in dieser Breite. Auffällig ist, dass alternativ zur nicht schlechten Sängerriege auch einfach Russell Allen von Symphony X alle männlichen Gesangsparts übernehmen könnte. Er ist einfach der perfekte Sänger für diese Art von Musik, erfüllt alle Kriterien, für die sich Lucassen hier jeweils einzelne Sänger geholt hat. Nebenbei sei angemerkt, dass die Gesangsanteile auch sehr ungleich verteilt sind: Phildeaux Xavier singt nur einen kurzen Part in einem Song, während zum Beispiel Jorn Lande recht oft zum Zuge kommt.
Auf musikalischer Seite habe ich neben dem insgesamt schlechter durchdachten Albumkonzept vor allem zwei Anmerkungen zu machen: Viel zu häufig kommt es textlich und musikalisch hier zu Wiederholungen, viele Refrains bestehen aus den immer wieder gleichen Wörtern, zum Beispiel „Liquid Eternity“ oder „Age Of Shadows“. Hier passiert auch musikalisch nicht viel, und es gibt nichts schlimmeres als abgedroschene Refrains. Außerdem sind mit „Connect The Dots“ und „Web Of Lies“ zwei recht peinliche Titel am Start: Ersteres passt überhaupt nicht auf das Album und versucht durch einen grotesk-ironisch übertriebenen Text unsere Abhängigkeit von modernen Technologien zu verdeutlichen – wohl bemerkt mit schrecklichen Melodien, mittelmäßig und unmotiviert eingesungen von Ty Tabor. Zweiteres ist eine einfache Folk-Ballade mit Duett-Gesang, die sich um die Liebe im Internet und das Kennenlernen per Chat dreht. Am Text ist zwar etwas wahres dran, aber so wirklich tiefgründig und überzeugend kommt der Song nicht rüber. Das die Platte zudem zu viele Vocalparts enthält und deswegen die Instrumentalpassagen kürzer treten, fällt auch überdeutlich auf. Lediglich in den etwas längeren Nummern gibt es ausführliche Solospots.
Alles in Allem klingt das jetzt vielleicht vernichtender, als es eigentlich gemeint ist: „01011001“ ist ein gutes bis stellenweise sehr gutes Album, das mir aber nicht schlüssig genug ist und vor allem kompositorisch an einigen Stellen Leerlauf bereithält. Auch wenn Lucassen nach wie vor die geilsten Keyboardsounds der Szene hat, kann er mit seinen analogen Synthies und dem Blubber-Geräuschen, die die Songs verbinden und unterstützen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arrangements an vielen Stellen für eine Progplatte zu einfach gehalten sind. „Human Equation“ und „Into The Electric Castle“ hatten sowohl gesanglich, als auch instrumental mehr zu bieten. Da hilft auch der neue, immer wieder auf CD1 auftauchende mechanisierte Rhythmusmacher nicht, der wohl auch die übermäßige Technologisierung und die Abhängigkeit davon hinweisen soll. Die kompositorischen Schwachstellen springen dem Hörer übrigens auch direkt zu Beginn der Platte entgegen: Wie kann man ein Doppel-Konzeptalbum mit einem nahezu „Einton“-Riff eröffnen, das zudem noch das schwächste der Platte ist?
Ergo: Eine empfehlenswerte Platte, vielleicht auch als Einstieg für AYREON-Neulinge (dann steht euch schließlich das beste noch bevor!). Ansonsten „more of the same“ in ordentlicher Qualität. Wo „Human Equation“ mit der imaginären 10 einsam an der Diskografie-Spitze steht und „Into The Electric Castle“ mit 9 Punkten folgt, reiht sich das neuste Opus des Holländers mit 8.5 Punkten sicher dahinter ein. Es gibt schlechtere Platten von Lucassen, aber auch bessere. Der aufwendige Trailer zum Album, der beinahe zu einem Kinofilm hätte gehören können, hat es schon vermuten lassen – wer kennt es nicht: Der Trailer ist besser als der Hauptfilm! Insofern bleibt das Album hinter meinen Erwartungen zurück. Dennoch: Auch „01011001“ macht Spaß, vor allem auch dann, wenn man es als Progger mal etwas hardrockiger und simpler haben möchte.
Wertung: 8.5 / 10