Review Sigur Rós – Ágætis byrjun

Andächtig faltet die Mischung aus Embryo und Engelchen die Hände auf dem Cover von „Ágætis byrjun“ der isländischen Ausnahmeband SIGUR RÓS. Manchmal verraten großartige, gar nicht aufdringliche, sondern einfach nur ästhetische Albumcover schon, was jemanden auf CD erwartet. Geradezu minimalistisch die Aufmachung und trotzdem schön. Warum auch unnötig protzen. Der Fokus liegt auf der Musik und auf sonst nichts. Die ersten Exemplare von „Ágætis byrjun“, die nur in Island veröffentlicht wurden, bastelten und klebten die vier Musiker übrigens alle selbst zusammen. Kaum zu glauben, dass sie nur kurze Zeit später sich selbst im Vorprogramm von Radiohead wieder fanden.

Kaum greifbar, irgendwo noch zwischen Traum und Wirklichkeit schwebend geht das Intro zu „Ágætis byrjun“, welches rückwärts gespielte Passagen des Titeltracks enthält, in das erste Stück „Svefn-g-englar“ über. Schlafwandlerisch, so nicht nur die Übersetzung des Titels, träumt sich die nominelle Rockbesetzung, die aber alles andere als eine solche agiert, voran und doch sind diese ersten zehn Minuten für mich fast nur eine Art wundervolles, behutsames Vorspiel auf die eigentliche Verschmelzung von Realität und Fiktion. Gerne lehne ich mich ein wenig weit aus dem Fenster und behaupte, dass „Starálfur“ das für mich wundervollste Stück Musik ist, das jemals geschrieben wurde. Ein solches Stück kann es nur einmal geben und wird auch nie wieder geschrieben werden. Die Hinzunahme der von mir so geliebten Streicher macht hier aus einem großen einen großartigen Song, der so viele Gefühle auf einmal vereint. „Starir Á Mig Lítill Álfur“ – „Eine kleine Elfe blickt mich an“. Als läge man in seinen Bett, geborgen und von allen Sorgen befreit, während man in das Gesicht einer kleinen, wundervollen Elfe blickt. Zur Mitte hin scheint diese ganz leicht zu tanzen zu beginnen. Danach? Ein musikalischer Kuss? Sanft, voller Verbundenheit und Sehnsucht? Während man noch scheint zu schweben geht dieser endlose Traum in „Flugufrelsarinn“ über, das fast eine Spur befreiter und leichter erscheint. Zwischenzeitlich fragt man sich, wie so eine Art von Musik überhaupt von Menschen geschaffen werden kann. Es muss wohl auch ein wenig an dieser ganz besonderen Insel Island liegen, die die Heimat für SIGUR RÓS ist und mit ihrer nahezu unberührten Natur eine exzellente Inspirationsquelle sein muss. Anders scheint es kaum möglich zu sein derartige Klangteppiche und Soundwände aus dem Nichts zu erschaffen, zu verschmelzen und wieder verschwinden zu lassen. „Flugufrelsarinn“ ist ein Flug über den weiten Ozean, ein Flug der Seele, die so lange versucht hat sich selbst zu entgrenzen. Ein Flug, bei dem der Blick über die endlose Weite des Ozeans streift, oder ist es nur der Blick von einer Klippe aus bis zum Horizont und die Sehnsucht diesen erreichen zu können?

Die Musik mit „normalen“ Begriffen zu beschreiben ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Natürlich handelt es sich um eine ganz gewöhnliche Besetzung einer Rockband unter Hinzunahme eines Streicherquartetts, doch mit dem, was man unter Rockmusik versteht hat es sehr wenig zu tun. Sie schafft es Stimmungen und Emotionen aller nur erdenklichen Extrema zu vereinen, obwohl die „Ausbrüche“ nur minimal sind. Ein weiteres, aus der riesigen Klasse dieses Album noch ein wenig hervorstechendes, Highlight ist „Viðrar vel til loftárása“, bei dem ausnahmsweise wirklich eine sehr klare Melodielinie, gebildet durch ein Klavier, zu erkennen ist, wohingegen meist das ineinander verschmelzen von Flächen vorherrscht. Spätestens hier muss man auf die elfenartige Stimme von Sänger Jónsi eingehen, der zudem sein Instrument, die Gitarre, teils mit einem Geigenbogen auf ganz besondere Art spielt. Sie ist extrem hoch, wobei „Falsett“ hier nur ein viel zu oft und in diesen Zusammenhang sicher falsch benutzter Begriff ist. Elfenartig trifft es für mich am besten, teilweise erinnert sein Gesang auch an den von Walen, was vielleicht auch auf die Fremdartigkeit der isländischen Sprache zurückzuführen ist. Beim mondscheinartigen „Olsen Olsen“ befreit er die Musik letztlich von allen sprachlichen Barrieren und singt in seiner eigenen Sprache „Vonlensku“, zu Deutsch in etwa „Hoffnungssprache“, die sich nur der Onomatopoesie bedient. Seine Stimme ist auch der ganz besondere Reiz an dieser Musik. Verletzlich und doch so kraftvoll, fragil und trotzdem gefestigt, sanft und intensiv, voller menschlicher Emotionen, innerhalb eines scheinbar unendlichen Klangspektrums. Umso schwerer ist es diese Musik in Worte zu fassen. Auch wenn es noch so abgedroschen erscheinen mag: Man muss es einfach mit eigenen Ohren gehört und gefühlt haben. Buchstaben vermögen hier keine zutreffende Beschreibung liefern.

Und so ist dies auch nur ein Versuch die Faszination der Isländer auf so viele Menschen vorsichtig zu umreißen und mit blanken Worten zu beschreiben. „Ágætis byrjun“ ist mehr als nur „Ein Guter Start“, es ist ein Meisterwerk. Etwas nie wieder zu wiederholendes. Etwas wunderschönes, auch wenn ich Gefahr laufe dieses Wort hier schon zum zigsten Mal geschrieben zu haben. Es ist Balsam für die Seele, eine Art Ort an dem man so sein kann, wie man eben ist und akzeptiert wird. SIGUR RÓS sind eine der ergreifendsten Gruppen, die dieser Planet jemals hervorgebracht hat und „Ágætis byrjun“ in meinen Augen ihr unantastbares Meisterwerk, das nichts anderes als die Höchstnote verdient.

Wertung: 10 / 10

Geschrieben am 6. April 2013 von Metal1.info

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