Wer Anna Kränzlein kennt weiß, dass ihr Weg zu Schandmaul und den folkigen Tanz- und Springreigen über die Klassik führte – nicht zuletzt ihr Geigendiplom spielte schließlich eine entscheidende Rolle dabei, dass sie das Wagnis einging, die klassischen Elemente verschiedener Künstler von Gluck über Monti bis zu Corelli mit den Klanggewohnheiten der Neuzeit und ihren eigenen Kompositionen in Verbindung zu bringen.
Ich selbst bin weit davon entfernt, ein echter Kenner der Klassik zu sein und dementsprechend werde ich keine Vergleiche zwischen den Originalversionen und Annas Interpretationen vornehmen, sondern mich lediglich auf die musikalische Gestaltung der einzelnen Stücke durch die Schandmaulgeigerin beschränken. Dennoch ist mir der „Czardas“ von Vittorio Monti zumindest vom Namen ein Begriff – seit sie zwölf Jahre alt ist, begleitet Anna dieses Stück durch Lagerfeuerabende und Abiturfeiern. Durch ihre selbst arrangierte Begleitung wird dies wohl bis auf unbestimmte Zeit so bleiben, denn ihre selbst kreierten Stimmen entdecken den Wechsel zwischen Schwermut und Fröhlichkeit, der die Seele dieses Stückes bildet, neu, wobei mir persönlich der schnelle Part besser ins Ohr ging.
Bereits Lied 2 ist die erste von insgesamt vier Eigenkompositionen der Schandmaulgeigerin und offenbart unter dem „Deckmantel“ der flotten Heiterkeit einen ähnlich ansprechenden Wechsel zwischen schnell und langsam wie im ersten Stück. Der fehlende Gesang stört bis jetzt zu keiner Sekunde, doch beim dritten Titel der CD dringen zum ersten Mal ungewohnte Töne an das Ohr des Hörers. „Carmen“ ist an sich immer sehr speziell – eine Tatsache, die jeder bestätigen wird, der damit zumindest etwas vertraut ist. Entsprechend fällt der Gesang aus, der anfangs sehr ungewohnt und beinahe abschreckend ist, aber an den man sich nach einigen Hördurchgängen durchaus gewöhnen kann.
Camille Saint-Saens „Introduction el Rondo capriccioso op. 28“ kann man fernab des Titels als Paradestück des Albums bezeichnen. Selbst für den unkundigen Hörer wie mich offenbart sich der hohe Schwierigkeitsgrad durch das pure Zuhören, wobei Annas Geige jederzeit Herr der Lage ist. Gewisse Ähnlichkeiten zu einem Orchester sind offensichtlich, dennoch findet sich in diesem schwungvollen Stück Geigenkunst weit weniger Pop-Pathos als bei Künstlerinnen wie Vanessa Mae.
“Amelie” und “Dü?un” spielen wiederum den stets präsenten, aber nie erzwungenen oder aufgesetzten Abwechslungsreichtum von „Neuland“ wieder. Ersteres ist an den bekannten Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“ angelehnt und eigentlich hätte das Lied einen Platz auf dem offiziellen Soundtrack verdient gehabt. „Dü?ün“ hingegen mutet sehr orientalisch verspielt an: Rauschende Feste in der Türkei oder dem Orient kommen einem wohl als erstes in den Sinn. Der große Vorteil der CD liegt unter anderem darin, dass man auch mit einem Ohr hinhören kann und trotzdem nette Spielereien entdeckt, die bleibenden Eindruck hinterlassen, selbst wenn man in diesem Genre generell ansonsten eher fremd ist und/oder nebenbei anderweitig beschäftigt ist. Klassikfetischisten können andererseits Stunden damit verbringen, die wirklich perfekten Tonfolgen zu begutachten und sich daran zu erfreuen, wie Anna Katharina Kränzlein beweist, dass die Arbeit an ihrem Geigendiplom Früchte getragen hat.
Der Gesang von „Che faro“ ist dem von „Carmen“ nicht unähnlich und an sich trifft auf dieses Stück 1:1 das zu, was ich bereits zu Carmen schrieb. Interessant fände ich persönlich ein zweites Album mit selbst geschriebenen Songs, so wie Anna es zum Beispiel bei Schandmaul schon praktiziert. So könnte man auch den zweifellos guten Gesang genau wie den Rest der steifen Klassik „einsteigerfreundlicher“ gestalten, denn anfangs werden die meisten Unkundigen im Hinblick auf den Gesang erst einmal zucken und ihr eigenes, persönliches Neuland betreten.
Mit „Vazou“ leitet schließlich die Schlussphase des insgesamt wirklich guten Erstlingswerks ein und ist dabei meiner Meinung nach die beste von Annas Eigenkreationen. Ich hörte selten zuvor ein so eingängiges und dennoch markantes Geigenstück, das mit einer Gesamtlänge von unter drei Minuten eine solche Faszination hervorruft. Mich erinnert es an einen sinnlichen Tango, aber das muss nichts heißen. „La Follia“ von Arcangelo Corelli ist mit über acht Minuten Gesamtlänge zweifellos der krönende Abschluss und mir bleibt nur noch zu sagen, dass dieses „Neuland“ eine Entdeckungsreise wert ist und man fast den Vergleich zur „deutschen Vanessa Mae“ ziehen möchte, doch im Gegensatz zu jener offenbart Annas Musik eine Bodenständigkeit, Verspieltheit und Freude, die sich mit dem Menschen dahinter deckt und gleichzeitig ein musikalisches Erlebnis darstellt, das ein stimmiges Gesamtbild entwirft.
Wertung: 7.5 / 10