Es sollte wohl einigermaßen der Wahrheit entsprechen, wenn ich behaupte, der “natürliche Feind” eines Progressive Rock-Fans ist der Mainstream-Radiopop. Nirgendswo sonst wird so schnell, günstig und gewinnbringend Musik produziert. Doch jetzt steht eben jener Progger vor einem großen Problem: FROST*, oder besser gesagt: Jem Godfrey.
Kennt den einer von euch? Nö. Egal? Nein! Mr. Godfrey zeichnet sich für Number One-Hits wie “Whole Again” von Atomic Kitten und Softpop wie Ronan Keating verantwortlich. Ihr wollt mehr? Das Tarkan-Remake „Kiss Kiss“ für sexy Holly Valance hat er ebenso produziert wie Blue. Und nun hat er, wie er selbst sagt, genug von diesem – verzeiht mir die Wertung – Mist! Stattdessen hat er sich mit John Mitchell von den britischen Neoproggern Arena und John Jowitt und Andy Edwards von IQ gleich genreeigene Allstars ans Land gezogen, um nichts anderes zu tun, als eine reinrassige Progplatte aufzunehmen. Oder wie der Herr selbst sagt: „Nach fünf Jahren Songwriting mit drei Akkorden und Texten, in denen sich ‚heart‘ auf ‚start‘ reimt, musste ich mein Gehirn mal wieder durchpusten. Nichts gegen Popmusik, sie ist wie eine Familienkutsche, zuverlässig und sicher. Doch ab und zu möchtest du mal einen Ferrari mieten und ihn um den Nürburgring peitschen, um dir zu beweisen, dass du noch lebst. Prog ist mein Ferrari.“
Diese Umschreibung passt nun wirklich wie die Faust aufs Auge. In ganzen sechs Stücken zwischen 4 und 27 Minuten brennen Godfrey und seine Kollegen ein Prog-Feuerwerk ab, dass es eine wahre Freude ist. Hier merkt man, dass einer wirklich was zu sagen hat! Das schönste an der Sache: Jeder Track klingt anders, dennoch wirkt das Album wie aus einem Guss. Der Sound der Platte ist dabei absolut einzigartig, auch wenn man das Rad natürlich nicht zu hundert Prozent neu erfinden kann. Die Produktion ist das, was FROST* so einmalig macht. Bei den ersten Hördurchgängen können Songs wie der fast achtminütige, instrumentale Opener „Hyperventilate“, das straighte, aber genauso verrückt rockende „No Me No You“ oder aber auch das zehnminütige „Black Light Machine“ mit seinen konfusen Instrumentalpassagen noch arg belastend und verwirrend wirken. Es scheint, als habe Godfrey alle Ideen der letzten zehn Jahre, die einigermaßen in die Schublade „Progrock“ passen, gesammelt, nur um sie auf „Milliontown“ auf gut eine Stunde komprimiert in die Ohren der Hörer zu pusten. Hier passt Godfreys Aussage, er habe sich 40 der besten Progrock-Platten der letzten Jahre gekauft, bevor er das Album in Angriff nahm, perfekt ins Bild.
Nach mehreren Durchläufen werden Songaufbau und Komposition jedoch ungleich transparenter und luftiger und man erwischt sich alsbald dabei, die Melodien mitzusummen und bei den Instrumentalparts wild abzurocken. Die anfänglich komplex und verkopft wirkenden Strukturen ergeben Sinn und reißen den Hörer mit. Aber wollen wir nicht länger um den heißen Brei reden: Was wir hier serviert bekommen, ist in erster Linie bombastischer, keyboardlastiger Neoprog, der in etwa so klingt, als würde man die Melodieseeligkeit von Kino (remember: ebenso mit und von John Mitchell), die Frickelei von Dream Theater, die flächigen und hymnischen Keyboards von alten Spock’s Beard und das konfuse Songgerüst eines Magellan-Tracks miteinander paaren. Klingt, als würde es nicht funktionieren – doch es tönt herrlich! Das Prinzip, mit dem Jem Godfrey dabei ans Songwriting geht, ist immer ähnlich. Er nimmt sich zunächst herzerfrischende Melodien und Gesangssarrangement, die unweigerlich im Ohr hängen bleiben und konstruiert um diese verschiedenen Gesangsparts dramaturgisch perfekt inszenierte Instrumental-Frickeleien, sodass sich beides in den Songs regelmäßig abwechselt. Außerdem setzt er geschickt das Laut-Leise-Spiel ein, lässt auf einen krachigen, metallischen Frickelpart einfach nur stumpf ein paar Pianoakkorde folgen, nur um dann wieder zum „Lärm“ wechseln zu können. Auffällig ist dabei, dass enorm viel der bombastischen Wirkung der Musik durch die monströse Produktion erreicht wird. Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber „Milliontown“ klingt so gut wie kaum eine Platte aus dem Genreumfeld. Godfrey hat hier sicherlich alles ihm Mögliche getan, um es absolut edel klingen zu lassen. Der Sound ist absolut fett, dabei aber irgendwie auch sehr synthetisch und elektronisch, was an den vielen verschiedenen Keyboardsounds (die auch gern mal die Kitschgrenze überschreiten) und Keyboardlagen ebenso liegt wie an dem extrem klinisch und flach produzierten Schlagzeug. Insgesamt wirkt das Album sehr höhenlastig und beinahe überspitzt, daher schon sehr unnatürlich – das werden nicht viele Hörer mögen, aber das macht hier nun mal das Spezielle aus und zeigt auch an, wo die Wurzeln von Godfrey liegen. Dass er manchmal sogar mit Drumsamples experimentiert, wie ausführlich im Track „The Other Me“ zu hören, liegt da nur Nahe.
Wer Godfrey Böses will, könnte sogar behaupten, dass abzüglich Produktion und Bombast nichts anderes als schnöde, langweilige MelodicRock-Mucke überbleibt, die er zu allem Überfluss auch noch mit den zehn letzten Boygroup-Refrains zugekleistert hat, die er in der Popwelt nicht unterbringen konnte. Teile der Gesangsarrangements von „Black Light Machine“ klingen mit ein bisschen Fantasie jedenfalls verdächtig danach. Auch ist auffällig, dass der Gesang grundsätzlich gedoppelt wird und dennoch sehr dünn erscheint. Damit ist klar, dass die Stimme von Godfrey nicht so kräftig und durchsetzungsfähig ist – aber das ist hier auch kein Problem, denn es passt einfach perfekt zum Sound der Platte. Dennoch: Songs wie „No Me No You“ mit seinen stumpfen, aber obercoolen Gitarrenriffs und den lässigen Vocals transportieren absolute Sommeratmosphäre und das Gitarrensolo, welches bei Minute 2:56 im Track „Black Light Machine“ einsetzt, scheint auch nicht von dieser Welt zu sein. Der absolute Hammer! Ich sehe dieses Album übrigens als das erste und bisher einzige richtige Sommer-Autofahr-Progalbum dieses Jahres an. Wenn wir das kurze, an Chroma Key erinnernde „Snowman“ einmal außen vor lassen, wird „Milliontown“ doch durchgehend von Dur-Melodien und jubilierenden Keyboards und Gitarren geprägt. Das könnte manch alteingesessenem Progger schon zuviel des Guten sein, andererseits liegt hier seit dem theoretischen Ableben von Spock’s Beard die erste Platte vor, die es tatsächlich schafft, an die Gute-Laune-Stimmung der alten Spock’s Beard-Scheiben anzuschließen, was in mir ehrlich gesagt große Freude auslöst. Der Long- und Titeltrack „Milliontown“ erinnert in den 27 Minuten nicht nur einmal frappierend an Neal Morse & Co., und das ist auch gut so. Allerdings wirken die vermittelten Emotionen nur selten wirklich tiefgehend und echt, was einfach produktionsbedingt ist und somit völlige Absicht. Klar ist leider auch: Live wird man die Musik so nicht umsetzen können.
Insgesamt finde ich es aber einfach toll, dass mal jemand den Versuch wagt, Elemente aus Prog und Pop auf so experimentelle Weise zusammenzuführen und dies mit einer neuartigen Produktion verbindet. So klingt Prog der Zukunft, der die Vergangenheit nicht vergisst. Von einem Meisterwerk an sich darf dabei allerdings nicht gesprochen werden. Auch, wenn ich persönlich „Milliontown“ für die erfrischendste, bunteste und überraschendste Prog-Wundertüte seit etlichen Jahren halte, so wird es sicherlich ebenso eine Menge Leute geben, die damit gar nichts anfangen können, obwohl sie Progfans in Reinkultur sind. Hier hilft nur: Ausführlich reinhören und selbst entscheiden!
Wertung: 9 / 10