Das vergangene Jahr war für Roine Stolt- und Flower Kings-Anhänger eine komische Angelegenheit – Roine trat von seinen Sideprojects „The Tangent“ und „Kaipa“ zurück und es gab ausnahmsweise kein neues Flower Kings-Album. Dafür veröffentlichte er dann ein neues Soloalbum. Auf „Wall Street Voodoo“ frönte er seiner Bluesleidenschaft auf ausführlichen zwei Scheiben, ohne den Prog auch nur einmal ernsthaft zu streifen. Verhältnisse, die das so mit Prog-Musik jeder Coleur umworbene Stolt-Fanvolk so rein gar nicht kennt.
Aber 2006 wird jetzt alles wieder besser: Es gibt ein neues Album, das mal wieder ein Doppeldecker mit 136 Minuten neuer Musik ist, eine Tour in Europa und den USA und später noch eine neue Live-DVD, die Material des diesjährigen Konzertabends in Tilburg, Holland enthalten soll.
Die Aufgaben, vor denen „Paradox Hotel“ steht, sind nicht ganz leicht zu bewältigen: Es hat diejenigen zufrieden zu stellen, denen der Vorgänger „Adam & Eve“ zu vorhersehbar, zu einfach, zu kompakt und zu konstruiert war. Es muss diejenigen gutmütig stimmen, die „Unfold The Future“, das letzte Doppel-CD-Werk der Schweden, zu experimentell, jazzig, ausladend und zusammenhanglos empfanden. Und dann bleiben da natürlich noch diejenigen, die von einer Band auf jedem Album eine Art Neuerfindung fordern. Nicht zuletzt gibt es in der bandeigenen Diskografie ein paar Alben wie „Stardust We Are“ oder „Retropolis“, zu denen es aufzuschließen gilt.
Das Stichwort „Retropolis“ passt hier sehr gut: Dieses Album wurde seinerzeit mit dem kurzen Instrumental „Rhythm Of Life“ eingeleitet, dass hier eine Art Wiedergeburt erfährt. Mit Hilfe eines Tischtennisballs hatte man versucht, den Herzschlag bzw. „Lebensrhythmus“ nachzubilden. „Check In“ führt uns recht spacig und mit allerlei Sprachsamples, die die Form eines Countdowns haben, zu einer neuen Version jenes „Rhythm Of Life“. Nachdem der Ball schließlich erneut zur Ruhe gekommen ist, leiten sanfte Pianoakkorde über in „Monsters & Men“, die erste Longtrack-Großtat auf „Paradox Hotel“. Satte 21 Minuten gibt’s hier wieder Prog der Superklasse auf die Ohren: Verspielt, experimentell, aber auch wunderschön schwebend, melodisch und mit ergreifenden Melodien. Eine sehr gelungene Nummer, die mir keinen Deut zu lang vorkommt und auch nicht konstruiert wirkt. Das Ende ist ganz großes Bombast-Kino. Weitere sehr schöne Nummern auf der ersten Seite sind das groovige „Hit Me With A Hit“, „Lucy Had A Dream“, das besonders durch den schönen Refrain besticht und insbesondere das überragende „Selfconsuming Fire“. Letzteres ist eine sehr atmosphärische Akustikgitarren-Ballade, die später auch ein tolles E-Gitarren-Solo präsentiert und durch Stolts intensiven Gesang mitreißt. „Pioneers Of Aviation“ ist ein fast achtminütiges, anfänglich ruhiges, dann aber sehr ausladendes Instrumental mit einem schönen Thema. In „Bavarian Skies“ besingt Stolt sieben Minuten lang das Ende des Nationalsozialismus und des Hitlerregims, dazu nutzt man auch allerlei Original-Tondokumente, um die ruhige, innige Stimmung des Tracks zu untermalen. Mit „End On A High Note“ endet die erste CD getragen, episch und symphonisch-breit, wie man es von den Blumenkönigen meistens gewohnt ist.
Zwischenbilanz nach etwas mehr als 70 Minuten: Die erste CD weiß im Grunde durchweg zu gefallen, bietet mit den genannten Tracks viele Highlights, die sich auch hinter so manchen Songs der Band-Vergangenheit nicht verstecken müssen. Das Songmaterial wirkt insgesamt etwas zu ausladend und langatmig, stilistisch bewegt man sich tatsächlich zurück zu alten „Retropolis“-Zeiten, von daher ist das Intro auch sehr gut gewählt. Hardrock und Jazz, zwei der neueren Standbeine der Band, vermisst man hier. Ob das nun Freud oder Leid bedeutet, muss der Hörer entscheiden.
Seite Zwei wird vom Zwölfminüter „Minor Giant Steps“ eingeleitet, der genau wie eigentlich das gesamte Album einen überdeutlichen Yes-Anstrich trägt. Hasse Fröbergs Gesang ist einfach ein totaler Jon Anderson Klon und passt zumindest nach meinem Empfinden hervorragend in Retroprog-Sound der Band, auch wenn er an so mancher Stelle ziemlich „geschwollen“ und pathosbeladen ist. Roine Stolts rauer, oftmals monotoner und wenig mitreißender Gesangsstil gefällt ja bekanntlich auch nicht jedem, daran wird sich auch hier auf dem neuen Album nichts ändern. Zumindest gitarrentechnisch ist Roine aber wieder über jeden Zweifel erhaben. Ansonsten fällt auf CD2 vorallem der Titeltrack auf: Eine fetzige, moderne, bisweilen funkig rockende Nummer, die dem Album bisher absolut gefehlt hat und eine richtige Hammernummer ist! Ebenso überzeugen können die Balladen „The Way The Waters Are Moving“ und „What If God Is Alone“, sowie der Abschlusstrack „Blue Planet“, der auch ein paar Motive und Themen der vergangenen zwei Stunden wieder aufnimmt. Auf „The Unorthodox Dancinglession“ übertreibt man es dahingegen mit der Improvisation meiner Ansicht nach wieder mal ein bisschen.
Betrachtet man nun diese nahezu unfassbare musikalische Traumreise, so fallen insbesondere zwei Dinge auf: Erstens ist „Paradox Hotel“ trotz seiner Länge ein Sicherheits-Album. Soll heißen, hier sollte keinem Fan der ersten Stunden / Alben vor den Kopf gestoßen werden. Der Sound ist retro und zwar experimentierfreudig und abwechslungsreich, aber eben nicht so explosiv jazzig und wild wie auf „Unfold The Future“. Die Zeiten, zu denen man sich speziell dem Hardrock zugewendet hat („Space Revolver“, „Rainmaker“), sowie mit simpleren Strukturen auf Fansuche war („Adam & Eve“) sind scheinbar vorbei – eine gute Nachricht für alle absoluten Retroprog-Fans also. Zweitens ist „Paradox Hotel“ für einen Doppeldecker aus dem Hause der Blumenkönige gut gelungen. Es gibt viel hörenswertes Material und im Gegensatz zu den in etwa gleichlangen Brüdern der Diskografie äußerst wenig Füllmaterial. Natürlich lassen sich auch kleine Kritikpunkte finden: So sind mir die Tracks oftmals zu lang und zu lahm, man braucht teilweise schon eine Menge Geduld, um den sechs Herren folgen zu können. Der richtige Wachruttler kommt mit dem „Paradox Hotel“ zwar durchaus auf dem Album vor, ist jedoch der einzige seiner Art und der vorletzte Track des Albums, bis zu dem man es erst mal schaffen muss. Auch „Paradox Hotel“ sollte man demzufolge eher in einzelnen Dosen genießen und sich Stück für Stück erarbeiten. Dass das Album einen Hörer 136 Minuten gefasst unterm Kopfhörer hält, wage ich zu bezweifeln.
Wertung: 7.5 / 10