Manchmal ist weniger mehr. Mit diesem Gedanken hatte ich meine Rezension zum THE TANGENT Vorgängeralbum „The World That We Drive Through“ begonnen, um nachher doch festzustellen, dass jenes Album gelungen ist. Der Gedanke stand im Zusammenhang damit, dass Roine Stolt seinerzeit in allerlei Projekte verwickelt war. Nicht nur seine Band Flower Kings, sondern eben auch THE TANGENT, Kaipa, Karmakanic und Transatlantic. Grundproblem dabei: Musik mit und von Roine Stolt klingt immer recht gleich.
Irgendwann in der Zwischenzeit muss Roine Stolt auch erkannt haben, dass er in zu vielen Töpfen rührt, denn nun hat er sowohl Kaipa, als eben auch THE TANGENT verlassen. Seitdem hat er sein Soloalbum „Wallstreet Voodoo“ produziert, welches auch schon veröffentlicht wurde. Nachfolger von ihm auf „A Place In The Queue“ ist Krister Jonsson, der aber entfernt auch was mit der Flower Kings-Familie zu tun hat: Er war Gitarrist beim Karmakanic-Projekt von Bassist Jonas Reingold. Sie stecken also doch alle unter einer Haube. Und weil das so ist, hat natürlich auch Zoltan Csorsz, ehemals Flower Kings-Drummer, bei THE TANGENT das Handtuch geschmissen. Und jetzt ratet mal, wer der neue Schlagzeuger ist! Richtig, der Vorgänger von Csorsz bei den Flower Kings, Jaime Salazar. Er hatte die Band damals verlassen, weil er angeblich andere Musik als Progrock machen wollte – das hab ich zumindest mal irgendwo gelesen. Und nun ist er also bei THE TANGENT. Wie das Leben halt so spielt. Da braucht nicht weiter erwähnt zu werden, dass Jonas Reingold Gott sei Dank noch dabei ist.
Kommen wir nach diesem Personalkarussell aber nun endlich mal zur neuen Platte. Sie ist lang. Und sie ist gut. So kann man es wohl zusammenfassen. Die Musik ist in etwa so komplex, wie das oben erläuterte Besetzungschaos – soll heißen: Das neue Werk verlangt dem Hörer einiges ab, offenbart nach einer gewissen Eingewöhnungsphase aber große Songwriting-Kunst. Der Hörer muss das scheinbare Chaos von etlichen Themen, Improvisationen, Instrumenten und Rhythmen erst mal erfassen und verarbeiten. Ähnlich, wie man Flower Kings-Kenner seien muss, um die ersten zwei Absätze der Rezi zu verstehen.
Werden wir etwas konkreter: Der Silberling ist mit 79 Minuten Spielzeit mal wieder mehr als ausreichend gefüllt. Das es die Platte dabei auf nur sieben Tracks schafft, deutet schon mal die oben erwähnte Komplexität an. Mit dem Opener „In Earnest“ und dem Abschlusssong und Titeltrack „A Place In The Queue“ liefern uns die sieben Jungs zwei Longtracks, die jeweils die 20 Minuten-Marke überschreiten. Mit „Lost In London“, „GPS Culture“ und „Follow Your Leaders“ gibt es zudem gleich drei Stücke, die teilweise gefährlich nahe an der Zehn-Minuten-Grenze sind. Gut, dass wir mit „DIY Surgery“ und „The Sun In My Eyes“ noch zwei in etwa dreiminütige „Zwischenspiele“ erleben.
Kennern und Fans von THE TANGENT sei gleich vorweg gesagt, dass Roine Stolt hier zu keiner Sekunde fehlt. Krister Jonsson hält sich teilweise zwar stark im Hintergrund, brilliert dann aber wieder mit wunderschönen Soli oder beherzt-punktuiert eingesetzten Riffs. Der Canterbury- und Jazzeinfluss der letzten Platten hat auf „A Place In The Queue“ noch größeren Raum eingenommen als zuvor, womit sich die Band zunehmend mehr vom klassischen, vorhersehbaren Progsound der Seventies wegentwickelt. Als Folge davon muss der Hörer mit teils minutenlangen und recht ungestümen Instrumentalpassagen klarkommen. Besonders gefährlich kann hier Theo Travis werden, der mit seinem Saxophon teils derbe reinhaut – wer eine leichte Allergie dagegen hat, sollte sich die Platte vielleicht in einzelnen Dosen geben. Der Weggang von Roine Stolt hat außerdem zur Folge, dass Andy Tillison noch mehr Raum für seine unterschiedlichsten Keyboards, Synthesizer und Orgeln hat. Keyboardfans kommen hier definitiv auf ihre Kosten.
Die immer wieder auftauchenden traumhaft schönen, natürlich fließenden Passagen geben dem Hörer Halt, um sich auf die nächsten Jazz-Improvisationen oder Instrumental-Workouts vorzubereiten. Der Sound der Platte lässt durchaus auch Raum für sehr klassisch anmutende Töne. Bodenständig rocken können THE TANGENT dagegen nicht wirklich. Aufgrund der teilweise kühlen Produktion und den größtenteils nicht allzu leicht aufzunehmenden Gesangsmelodien, wirkt die Musik der Band tatsächlich etwas mathematisch und sehr durchdacht. Ein absoluter Kontrapunkt zu dieser Tendenz ist jedoch das großartige „The Sun In My Eyes“, dass in gut dreieinhalb Minuten derbst Laune macht. Hier kommt California-Sunshine-Funk-Feeling auf, das uns entfernt an die 80er-Jahre und Bands wie Chicago erinnernt. Sehr schön und auch nötig vor dem letzten Longtrack, wobei mich manch Die-Hard-Proggies für diese Aussage wohl steinigen würden. Ebenso sehr schön ist „GPS Culture“, das zu Beginn stark an Yes und Spock’s Beard erinnert und im Mittelteil gekonnt ein nicht allzu altes King Crimson-Riff zitiert.
Die teils seltsamen Songtitel ergeben einen Sinn, wenn man bedenkt, was Andy Tillison zum Konzept des Albums sagt: „Wir folgen der Person vor uns, wir folgen Trends und Religionen, wir handeln nach der Werbung, die wir sehen“. In diesem Zusammenhang klingt auch der Titel des Albums logisch. Unser Platz in der Gesellschaft könnte dem in einer Warteschlange gleichen.
Das hübsche Cover der Platte unterstützt diese Interpretation noch und reiht sich in die Reihe der stilvollen Artworks der THE TANGENT Diskografie problemlos ein. Eine qualitative Einordnung des neuen Stoffes in diese will ich hier aber nicht vornehmen. Kauft euch lieber die Platte, wenn ihr euch von komplexer, anfänglich konstruiert und leblos wirkender Musik nicht abschrecken lasst und urteilt selbst, in wieweit sie für euch lebendig wird. Gelungen ist „A Place In The Queue“ auf jeden Fall. Auch ohne Roine Stolt.
PS: Natürlich erscheint auch dieses Album als Special Edition. Da es hier sage und schreibe sechs Bonustitel, u.a. mit solch fantastischen Namen wie „Kartoffelsalat im Unterseeboot“ gibt, solltet ihr zugreifen.
Wertung: 8 / 10