Ende des Jahres 2002 erschien eine Platte namens „Unfold The Future“, die sich die Flower Kings bzw. ihr Chefdenker Roine Stolt ausgedacht hatten. Erstmals verband man den symphonischen Progrock der Band mit Ausflügen in den Jazz. Die CD schlug in die kleine Progrockgemeinde wie eine Bombe ein, beflügelt von der Tatsache, dass Neal Morse sich gerade von Spock’s Beard getrennt hatte und somit der Weg für die Flower Kings offen stand, das Erbe von Spock’s Beard als „beste Progband der Neuzeit“ zu anzutreten. Auch ich war überaus begeistert von der Platte. Irgendwann aber, konnte ich sie einfach nicht mehr hören, und beschloss, den Weg der Flower Kings zunächst mal nicht mehr zu verfolgen. So kam auch das aktuelle Werk „Adam & Eve“ bisher nicht in meinen Player. Und natürlich ließ ich auch die ganzen Projekte von Roine Stolt außen vor. Mit Ausnahme von Transatlantic natürlich, das durch den großen Einfluss von Neal Morse mir als Spock’s Beard Fan richtig gut gefiel. Problematisch an Roine Stolt ist nämlich, dass der Mann neuerdings, so zumindest mein Eindruck, unter verschiedenen Decknamen so ziemlich immer die gleiche Mucke veröffentlicht. Und die gefällt mir zwar oft ausnahmslos gut, aber leider sind teilweise auch derbe Fehlgriffe auf CD gepresst worden. Den Hype um The Tangents erste Platte „The Music That Died Alone“ habe ich also bewusst komplett verschlafen, so dass diese Platte hier meine erste Begegnung mit der Band und mit Roine Stolt seit 2 Jahren ist.
Und komischerweise reagierte ich nach den ersten Durchläufen der neuen Scheibe sehr positiv. Gleich danach hatte ich Lust darauf bekommen, die alte Meisterplatte der Flower Kings mal wieder in ihrer ganzen Pracht (2:30 Std.) zu genießen, und erkannte sofort wieder wie faszinierend sie doch eigentlich ist. Aber zurück zu The Tangent: Von den Flower Kings sind der oben erwähnte Roine Stolt und die geniale Rhythmustruppe seiner Stammkombo, bestehend aus Jonas Reingold am Bass und Zoltan Csorsz am Schlagwerk, dabei. Initiiert wurde das ganze Projekt von Andy Tillison, einem Mitglied der Progband „Parallel Or 90 Degrees“. Grob gesagt ist der Stil der Platte ähnlich dem auf „Unfold The Future“, was natürlich meine oben geäußerte Hypothese der musikalischen Einförmigkeit indirekt bestätigt. Allerdings setzt man hier im Gegensatz zu den Flower Kings nicht so sehr auf Improvisationen, sondern bindet die Canterbury-/Jazzelemente sinnvoll in den Gesamtkontext ein. Großes Plus gegenüber etlichen Flower Kings Platten der Vergangenheit dürfte sein, dass durch eine Beschränkung auf eine einzige CD (viele Flower Kings Studioalben umfassen zwei Scheibletten) kein Füllmaterial zu hören ist. Für ein Sideproject ist die ganze Sache äußerst schlüssig und albumorientiert aufgebaut, d.h. man konzentriert sich nicht auf einzelne Songs, sondern eher auf eine das gesamte Album umgreifende Atmosphäre. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass The Tangent niemals eine wirliche Rockband sind; hier wird nicht „gerotzt“, hier wird scheinbar locker drauflosgespielt; und es entwickeln sich dadurch faszinierende Klangbilder und Moods. Als zusätzlichen Vorteil sehe ich es an, dass sich die einzelnen Sänger jeweils ein Liedchen herausgesucht haben, was sie mit ihrer Stimme veredeln. Das schafft Abwechslung. Hier gefällt mir besonders Track 2 namens „Skipping The Distance“, der Opener „The Winning Game“ ist meiner Meinung nach mit dem oft sehr typisch gequälten Roine Stolt Gesang nicht sehr glücklich gewählt. Insgesamt sind die Blumenkönige aber wesentlich farbenfroher, abwechslungsreicher und pulsierender als die oft mathematisch auf Perfektsein komponierten Songs von The Tangent. Ich kann allerdings nicht verleugnen, dass es manche Passagen gibt, die total unerwartet rüberkommen und wundervolle romantische Stimmungen rüberbringen, woran Theo Travis sehr viel Anteil hat. Sowas liebe ich! Das schöne Plattencover passt auch wirlich zur Musik. Durch den Einsatz von etlichen alten Keyboardsounds und den Verzicht auf jedwede Art moderner Hilfsmittel (Drumloops, Stimmensamples, Vocoder) wirkt das ganze jedoch schon sehr wie direkt den 70er Jahren entsprungen, man hat es also mit Retro-Prog pur zu tun.
Letztendlich scheint eine Platzierung in den vorderen Plätzen der Prog-Jahrescharts 2004 nahezu unvermeidlich. Es sind haufenweise bekannte und begnadete Musiker dabei, die von der Bekanntheit ihrer Stammbands und der Beliebtheit ihres ersten Albums zehren können. Zudem bietet die Platte genau das, was der geneigte Proghead der sehr klassischen Schule hören möchte: Ausufernde Longtracks, vielfältige Stimmungen, tolle Instrumentalpassagen und schöne Gesangsmelodien, die sich niemals von der Hektik des Alltags verjagen lassen. Nach einem anstrengenden Tag ist „The World That We Drive Through“ also die optimale Art, den Abend bei stilvollem Ambiente ruhig ausklingen zu lassen.
Zurück zu meiner Eingangseinwende: Es gibt ja so viele Roine Stolt Platten, und auch wenn diese untereinander Ähnlichkeiten aufweisen: Auf manche kann man verzichten (z.B. die neuen Kaipa-Platten), andere gehören zur „Pflichtlektüre“ eines jeden ernsten Progrockfans. Und genauso wie „Unfold The Future“, gehört auch „The World That We Drive Through“ dazu den Werken, die man mal gehört haben sollte, ohne allerdings die Qualität der erstgenannten zu erreichen.
PS: Auch hier gibt’s von der Plattenfirma InsideOut übrigens wieder eine Limited Edition mit dem Bonustrack „Exponenzgesetz“ (satte 14 Minuten!).
Wertung: 8.5 / 10