Review Spock´s Beard – Feel Euphoria

Line-Up-Wechsel sind im Musikbusiness ja nun wirklich nichts Außergewöhnliches. Marillion hatten 1983 drei verschiedene Drummer, bei Death drehte sich das Besetzungskarusell praktisch nach jedem Album und jeder Tour, und bei Stratovarius spielt mittlerweile keines der Gründungsmitglieder mehr. Im Falle von Spock’s Beard jedoch, den beliebten Prog-Spaßvögeln von der amerikanischen Westküste, schied erst 2002, zehn Jahre nach der Gründung, ein Musiker aus, und zwar ausgerechnet Alleskönner Neal Morse, der von Gott himself abbeordert wurde, seine Zeit mit etwas anderem zu verbringen als mit Musik (und der zur Zeit an einem Soloalbum arbeitet…).

Der absolute Super-GAU für alle Fans und natürlich auch die verbliebenen vier Musiker, der die berechtige Frage, ob und, wenn ja, wie es nun mit Spock’s Beard weitergehen sollte, aufwarf. Schließlich würde Neal nicht nur als hochbegabter Multinstrumentalist (neben Gesang noch Gitarre und Keyboards) fehlen, sondern vor allem als der kreative Kopf der Band, der in der Vergangenheit für einen Großteil der Arrangements und Lyrics verantwortlich zeichnete. Ein Ersatz für ihn als Sänger war in Drummer und Backgroundsänger Nick D´Virgilio, der auch gleichzeitig die Akustikklampfe in die Hand nahm, schnell gefunden, während Organist Ryo Okumoto zusätzlich zu Hammondorgel und Mellotron auch Neals Synthesizer übernahm. Die kreative Lücke, die Neal hinterlassen hatte, würde allerdings weniger leicht auszufüllen sein, so dass auf dem siebten Studioalbum „Feel Euphoria“ jedes Bandmitglied, selbst Bassist Dave Meros, seinen Beitrag zum Songwriting leistet.

Man kann den Ausstieg Neals allerdings auch als Gelegenheit für die übrigen Bandmitglieder, endlich mal ihre eigenen musikalischen Ideen einzubringen, sehen. So kommt es dann auch, dass die aktuellen Kompositionen weniger Retro Prog-Charakter aufweisen, weniger von Acts wie den Beatles und Yes beeinflusst sind, sondern sich stilistisch vor allem bei den ernsteren Prog Rock-Größen wie Genesis und Pink Floyd bedienen und ganz nebenbei noch im Eiltempo durch alle erdenklichen Spielarten der Rockmusik rasen, während kleinere Einflüsse wie z.B. Jazz immer noch vertreten sind. Zusätzlich wagt man einen zaghaften Vorstoß in musikalisches Neuland; Stagnation und Berechenbarkeit waren schließlich noch nie Begriffe, die auf Spock’s Beard zutrafen.
Nicht nur musikalisch, sondern auch atmosphärisch wird auf „Feel Euphoria“ dem Stillstand der Kampf angesagt: waren die Bärte sonst immer für wahnwitzige Wunderepen und augenzwinkernde Songs voll von überdrehtem Gefrickel und schwebenden Chören bekannt, so herrschen auf dem neuen Longplayer durchgehend etwas gesetztere, ernstere, entgegen des Albumtitels weniger euphorische, sondern teilweise fast schon melancholische Töne, oft in Balladenform, vor. Das für Spock’s Beard so typische California Sunshine-Grinsen weicht also gewissermaßen einem milden, gütigen Lächeln.

Allen eventuellen Befürchtungen zum Trotz macht Nick seinen Job als Leadsänger sehr gut und kommt sogar seiner Prämisse, wie ein „echter Rocksänger“ zu klingen, nach, überzeugt aber auch in den Balladen voll und ganz; zumindest in diesem wichtigen Punkt ist schonmal kein Abfall in der Qualität auszumachen. Sowohl für seine Akustikklampfe als auch Alan Morses elektrische bleibt nun mehr Raum übrig, da die Songs nicht mehr so stark von bombastischen Effekten und breiten Keyboards belagert sind, also etwas erdiger klingen (der Vorwurf, „Feel Euphoria“ sei weniger ein Prog- als ein geradliniges Rock-Album, prallt allerdings wiederum an den teilweise irren Instrumentalpassagen und den krassen Stilwechseln mitten im Song ab). Auch Basser Dave Meros erinnert nicht mehr so stark an das große Vorbild Chris Squire (Yes), den größten Wandel machte allerdings Ryo Okumoto durch, der nicht länger nur auf der guten alten Hammondorgel herumklimpert, sondern vor allem seinen Hang zu spacigen Synthies (teilweise aus dem Electronica-Bereich) frönt, ab und an aber auch für dramatische Streicher-Untermalung sorgt.

Bereits der Opener „Onomatopoeia“ (Lautmalerei) demonstriert eine Seite der neuen Spock’s Beard auf´s Eindrucksvollste: bis auf ein kleines akustisches Zwischenspiel ist er über die komplette Distanz straight rockig und mit einer doppelten Portion Groove versehen, dazu ein kurzes, aber perfekt passendes Gitarrensolo obendrauf. Nicht weltbewegend, aber nett und vor allem innovativ.
Der Siebeneinhalbminüter „The Bottom Line“ wiederum entwickelt sich nach einem Beginn irgendwo zwischen Prog und Garagenrock zu einer akustisch gehaltenen, sentimentalen Beziehungsballade. In der zweiten Hälfte sattelt man dann auf stimmungsvolle Synthies und Gesang um, immer wieder unterbrochen von kurzen Frickel-Einsprengseln, so dass sich der Song unerwarteterweise als ein absoluter Prog-Hammer und einer der stärksten Songs des Longplayers entpuppt.
Das eigentlich von Ryo Okumoto für sein Soloprojekt komponierte Titelstück dauert ebenfalls runde sieben Minuten und stellt ein wirklich gewagtes musikalisches Experiment dar: anstatt auf einer Gitarren- oder Keyboardmelodie zu basieren, ist der Song um Drumloops und Sequencer herum aufgebaut! Die ruhigen, jazzig-minimalistischen Strophen sind nur spärlich mit Gitarren- und Keyboard-Einlagen aufgepeppt und klingen nicht besonders schwungvoll, erst später kommt mit stark verzerrten Gitarren und überdrehtem Gesang etwas Bewegung in die Sache, während man auf einen Gipfel der Dissonanz von King Crimson-Format zusteuert. Leider ist der ruhige Teil deutlich zu lang geraten, so dass ich „Feel Euphoria“ als einen nur teilweise geglückten Versuch bezeichnen möchte.

Auch das kurze „Shining Star“ vermag mich nicht vorbehaltlos zu begeistern: diese poppige, fast schnulzige Liebesballade auf der Feder Nick D´Virgilios ist zwar melodisch, toll gesungen und einfach nett (könnte durchaus auf dem nächsten Kuschelrock-Sampler stehen…), aber ziemlich harmlos und, was schlimmer ist, lässt den unnachahmlichen Charme der von Neal Morse komponierten Pop-Songs (wie etwa „All on a Sunday“) vermissen.
„East of Eden, West of Memphis“, ein weiterer Song mit leichter Überlänge, begeistert wiederum sofort mit einer Mischung aus gefühlvollem Rock und bluesigem Highway-Flair, während nach gut drei Minuten ein lupenreines Fusion-Instrumentalinferno auf den Hörer einprasselt. Zum Ende hin gibt es mit einer kleinen Studiotechnik-Spielerei noch einen Tribut an „Revolver“, das experimentellste Album der Beatles. Toller Song.
Mit „Ghosts of Autumn“ zeigt dann Dave Meros, dass er nicht nur ein Weltklasse-Bassist, sondern auch ein durchaus beschlagener Songwriter ist, indem er sich hier eine unheimlich emotionale und dramatische Ballade aus dem Ärmel schüttelt, die von Klavier und subtilen Synthies getragen und von einem ganz klassischen Gitarrensolo veredelt wird. Definitiv eines der Highlights des Albums!

Nach diesem Sextett eher kurzer Songs ist es nun Zeit für den ersten (und einzigen) echten Longtrack der Platte, den sechsteiligen Zwanzigminüter „A Guy named Sid“, einem Mini-Epos über das wechselhafte Leben eines Jungen. Das Intro ist sehr abwechslungsreich und wartet nach Synthie-lastigem Beginn mit Trip Hop/Dub-artigem Bass, groovigen Rockriffs und hohem Chor-Gehauche auf. Im zweiten Teil, „Same Old Story“, besingt Nick metallisch-schmetternd die Jugend des Sid, während die instrumentale Hintermannschaft passend dazu herrlich extrovertierten 80er-Rock mit einer wunderbar röhrenden Hammond-Orgel auftischt. Klasse!
Im weiteren Verlauf des Song pendeln Spock’s Beard dann immer wieder zwischen rockigen und relaxten Tönen, teilweise sogar Bar Jazz, hin und her; besonders auffälig sind Nicks an Gospel (!!!) erinnernde Vocallines im dritten Teil („You don´t know“) und Alans im Laufe des Songs immer moderner wirkende Gitarrenarbeit (im letzten Teil wird´s sogar grungig-alternativ!), absolut perfekt für eine vertonte Lebensgeschichte! Nicht fehlen darf natürlich der mehrstimmige Satzgesang, einer der Beard-Trademarks schlechthin. Alles in allem ein genialer Longtrack, sowohl im Hinblick auf die Musik wie auch das Storytelling, der das Gesamtwerk „Feel Euphoria“ noch einmal deutlich aufwertet.
Doch leider ist hier noch nicht Schluss… der fröhliche Bombast-Schunkler „Carry on“, der mit einer Reihe an klassischen Instrumenten (u.a. den altbekannten Hörnern) und Chorgesang aufwartet, ist wie zuvor „Shining Star“ zwar ganz nett, nur leider etwas unspektakulär geraten. Überflüssig zu erwähnen, dass er nach dem sehr starken Longtrack kaum noch Beachtung findet.

Auch die beiden Bonustracks sind nicht unbedingt das Gelbe vom Ei. Das kurze Akustikstück „Moth of many Flames“, das wie unbearbeitet und frisch aus dem Studio klingt, ist noch ganz witzig, „From the Messenger“ allerdings ist ein Schlag ins Gesicht! Spock’s Beard goes Tangerine Dream oder wat?! Im Klartext: auf den geneigten Hörer warten hier geschlagene sieben Minuten puren Ambient-Gesäusels, während derer ich bis zum bitteren Ende auf den Klang eines organischen Instruments wartete… Im Grunde nicht mal so schlecht, aber auf einem Progressive “Rock”-Album völlig fehl am Platze.

Fazit: Die populärsten Prog-Rocker der USA tun gut daran, ihre Prioritäten auf ihrem ersten Album nach Neals Ausstieg anders zu verteilen. Spock’s Beard backen kleinere Brötchen als zuvor, und dieser Ansatz funktioniert vollkommen, denn wie „The Bottom Line“ oder „East of Eden, West of Memphis“ beweisen, fühlen sie sich besonders in leicht überlangen Werken der Oberklasse wie zuhause. Insofern stört mich auch der hohe Anteil an balladesken Tönen kaum, denn alle drei Balladen sind sehr geschmackvoll gemacht und unterscheiden sich deutlich voneinander. Lediglich die kurzen Stücke sind für meine Begriffe nicht ganz so gut gelungen, da diese in der Vergangenheit der Band stets von Neals „gewissem Etwas“ lebten, welches hier leider noch nicht zutage tritt.
Nichtsdestotrotz ist „Feel Euphoria“ ein tolles Album geworden, das man jedem Fan anspruchsvoller Rockmusik vorbehaltlos ans Herz legen kann. Jedoch ist meine Reaktion genau wie die Stimmung des Albums weniger euphorisch als „nur“ gut gelaunt.

Wertung: 8 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert