Als Neal Morse 2002 bei SPOCK’S BEARD ausstieg, ließ sich das wunderbar mit der Bandgeschichte von Genesis vergleichen: Der damalige Schlagzeuger wurde neuer Frontmann und Sänger, nur hieß er nicht Phil Collins, sondern Nick d’Virgilio. Anno 2011 wiederholen sich die Ereignisse: Nick d’Virgilio verließ SPOCK’S BEARD wie Phil Collins Genesis Mitte der Neunziger, es mussten also ein neuer Schlagzeuger und Sänger her. Jetzt, zwei Jahre später, sind die Amerikaner wieder komplett und mit einem neuen Album am Start: An der Schießbude sitzt der langjährige Tourdrummer Jimmy Keegan und hinter dem Mikro steht Ted Leonard (Enchant, Affector). Die alles entscheidende Frage: Ist „Brief Nocturnes And Dreamless Sleep“ wie Genesis‘ „Calling All Stations“ die Todesspritze für die Band oder doch ein gelungener Neustart?
Der Opener „Hiding Out“ beginnt verheißungsvoll mit perlendem Pianospiel, ehe ein grooviges, modern produziertes Riff einsetzt, zu dem sich erst Hammond- und dann Mellotronklänge gesellen. Der Einstieg könnte nicht besser sein. Mit dem Beginn der Strophe wird es ruhiger und getragener. Der erste Gesangsauftritt von Ted Leonard überzeugt auf ganzer Linie: Selbstbewusst trägt er eine sehr schöne Melodie vor, die sofort im Ohr hängen bleibt – ganz so, als wäre er schon jahrelang dabei. Seine Stimme passt überraschenderweise hervorragend zur Musik, auch wenn sein leicht rauhes Timbre und sein klitzekleiner AOR-Einschlag sicherlich nicht jedermanns Sache sein dürften. Der Refrain des Tracks ist zweigeteilt: Zunächst druckvoll und rockig, dann von einer Akustikgitarre begleitet. Anschließend erwartet uns ein rasanter, äußerst geschmackvoll komponierter Instrumentalpart, der in keinster Weise eingeklebt wirkt. Insgesamt ein hervorragender Opener, dessen sieben Minuten wie im Fluge vergehen und der Lust auf mehr macht. Geschrieben wurde er von Ted Leonard.
„Hiding Out“ ist eine gute Blaupause für das ganze Album: Denn anstatt wie noch auf dem Vorgänger „X“ mehrere Einzelsongs zu langen, aber etwas zusammenhanglosen Suiten zu verbinden, bewegen sich die neuen Tracks fast ausschließlich zwischen fünf bis neun Minuten. Die Folge sind angenehm schlüssige und kompakte Songs, die aber trotzdem virtuos, progressiv und episch sind. Die Band bleibt auf „Brief Nocturnes And Dreamless Sleep“ trotz der Besetzungswechsel ihrer Linie treu und spielt immer noch packenden symphonischen Progrock, der zwar nicht innovativ, aber total unterhaltsam ist. Der größte Unterschied zu den Vorgängerwerken ist sicherlich, dass mit Nick d’Virgilio auch der Deep-Purple-Hardrock aus dem Material verschwunden ist. Ansonsten deckt man das gewohnte Spektrum ab: „I Know Your Secret“ ist ein treibender, eher straighter Song mit Ohrwurm-Refrain, „A Treasure Abandoned“ die etwas zu süßlich geratene Halbballade. „Submerged“ ist der zweite Beitrag von Ted Leonard. Ein Song, der ursprünglich von seinem Soloalbum „Way Home“ stammt und für SPOCK’S BEARD leicht umarrangiert wurde. Definitiv die straighteste Nummer der Platte. „Something Very Strange“ überrascht mit Vocodereffekten im Intro – so etwas hat man von der Band bisher noch nicht gehört.
„Afterthoughts“ und „Waiting For Me“ sind unter Mitwirkung von Ex-Spock’s-Beard-Chef Neal Morse entstanden, der die Songs gemeinsam mit seinem Bruder, Gitarrist Alan, geschrieben hat. Diese Tatsache wird auf dem Promozettel als kleine Sensation gefeiert – dabei wurde aber vergessen, dass Neal auch schon bei einem Track auf dem Vorgängeralbum mitgeschrieben hat. Dieses Mal dürfte sein Einfluss allerdings größer gewesen sein: „Afterthoughts“ führt die „Thoughts“-Reihe weiter, die vor mehr als 15 Jahren von Spock’s Beard und Neal begonnen wurde. Gentle-Giant-Satzgesang trifft hier auf verquere Gitarrenriffs. Das Ergebnis reicht aber qualitativ nicht ganz an die beiden bisher erschienen Thoughts-Songs heran. Der Anschlusstrack der CD, „Waiting For Me“, ist mit fast 13 Minuten der einzige wahre Longtrack des Albums und als solcher auch sehr gelungen – insbesondere der ruhige Mittelteil dürfte für die eine oder andere Gänsehaut sorgen. Die Mitwirkung von Neal Morse ist hier allerdings nicht zu überhören, der Song könnte zu 2/3 auch von einem seiner letzten Solowerke stammen.
Rein quantitativ war die Beteiligung von Neal am Songwriting scheinbar aber gar nicht nötig, denn in der Limited Edition bietet „Brief Nocturnes And Dreamless Sleep“ noch eine Bonus-Disc mit drei zusätzlichen Songs und einem alternativen Mix von „Something Very Strange“. An dieser Stelle ein kleiner Hinweis für alle, die mit dem Kauf der Limited Edition liebäugeln: Bestellt ihr das Album direkt bei der Band, ist zusätzlich noch das Instrumentalstück „Postcards From Perdition“ enthalten, das es nicht auf der Ausgabe der Plattenfirma gibt.
Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: „Brief Nocturnes And Dreamless Sleep“ ist sicher keine Todesspritze für die Band. Es ist rundum gelungen und unterhaltsam. Die Platte fällt vor allem durch die schön kompakten und sorgfältig komponierten Songs auf, die erstaunlich wenig Stückwerk enthalten; aber auch der angenehm warme und volle Sound weiß zu gefallen. Die stilistischen Änderungen sind erstaunlich klein, sodass alle, die SPOCK’S BEARD bisher mochten, bedenkenlos zugreifen können. Das ist aber auch der größte Kritikpunkt: Ein bisschen mehr frischer Wind, ein bisschen mehr Experimentierfreude hätten es ruhig sein dürfen.
Wertung: 8 / 10