Konzertbericht: Anti-Flag w/ Red City Radio, Hostage Calm

22.04.2012 München, 59:1

Wenn es im US-Punk-Bereich noch eine Band gibt, die sich sicher sein kann, auf Tour alle Hallen auszuverkaufen, sind das wohl die Genre-Veteranen ANTI-FLAG aus Pittsburgh, Pennsylvania. Dass sich das Quartett dennoch dazu entschlossen hat, mit ihrem neuen Album „The General Strike“ im Gepäck nur wirklich familiäre Venues zu bespielen, ist da eine durchaus mutige Entscheidung – muss man dabei doch neben finanziellen Abstrichen auch einkalkulieren, dass diverse Fans zu Hause bleiben müssen.

Seit 1988 aktiv, kann der Band ihr Legendenstatus kaum abgesprochen werden – umso faszinierender ist die Zusammensetzung des Publikums, das sich an diesem Sonntag Abend vor dem Club zusammengefunden hat: Statt alter Hasen, die sich, begleitet von ANTI-FLAG aus dem Walkmen, auf dem Skateboard ihre ersten Prellungen in der Halfpipe geholt, oder, wenn weniger sport-affin, zumindest zu „Die For Your Government“ Tony Hawks im gleichnamigen PC-Spiel durch virtuelle Skateparks gejagt haben, liegt der Altersdurchschnitt hier so eklatant unter 18, dass die Ausweiskontrolle mitunter wohl dafür da ist, zu eruieren, ob alle wartenden Fans überhaupt ohne Begleitung ihrer Eltern in die Halle dürfen.

Ist diese Hürde gemeistert, geht es auch schon recht bald mit HOSTAGE CALM aus Connecticut los. Wirklich innovativ ist das, was die Ami-Punker präsentieren, natürlich nicht und wer bei „Punk“ an bunte Haare oder dergleichen denkt, ist hier selbstverständlich an der völlig falschen Hausnummer. Doch ähnlich den Headlinern des heutigen Abends machen auch HOSTAGE CALM aus ihrer linken Einstellung trotzdem keinen Hehl und machen sich in Ansagen und Songtexten für Menschenrechte, Gleichberechtigung, gleichgeschlechtliche Partnerschaften und gegen Rassismus stark. Schön daran ist, dass all das bei der Band nicht so aufgesetzt wirkt, wie es bei Weltverbesserer-Bands nur all zu oft der Fall ist, sondern die Message hier direkt von Herzen zu kommen scheint.
Doch auch musikalisch sind HOSTAGE CALM nicht zu verachten – bringen sie mit ihrem Punk-Rock doch mächtig Energie auf und vor die Bühne: Die ersten Circle-Pits des Abends werden gestartet, und als die Band nach einer guten halben Stunde die Bühne verlässt, sind nicht nur die Musiker schweißgebadet.
[Moritz Grütz]

Nach diesem stimmigen Einstieg ist es nach einer kurzen Umbaupause von nur knapp 15 Minuten an RED CITY RADIO, das Publikum anzuheizen. Im Gegensatz zu den vorangehenden Hostage Calm, welche mit ihrem eingängigen Hardcore-Skate-Punk zwar mitreißenden konnten, insgesamt aber doch ein wenig beliebig klangen, ist die Band aus Oklahoma stärker von abwechslungsreicheren Bands wie Hot Water Music geprägt und weiß neben ihrem unwiderstehlichen Gespühr für Melodieführungen auch mit dem Wechselspiel ihrer beiden Sänger zu begeistern: Diese klingen mit ihren sehr rauen Organen angepisst und hoffnungsvoll zugleich und untermalen die Songs so perfekt. Dass die Adern auf der Stirn und am Hals bei ihrem leidenschaftlichen Gebrüll nahezu bedrohlich anschwellen und die Bandmitglieder bereits nach den ersten Songs klatschnass sind, spricht für ihren Enthusiasmus. Musikalisch wird hier zwar nichts Neues geboten, die Art und Weise, wie RED CITY RADIO ihren Stil umsetzen, ist allerdings schwer beeindruckend – ob allerdings die ganzen Woohoos und Yeaheahs wirklich nötig wären, oder ob die Band nicht zu wenig auf die Kraft ihrer Musik vertraut, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ansonsten gibt es hier aber kaum etwas zu meckern – einzig die etwas peinlichen und prolligen Ansagen hätte sich die Band sparen können… da wussten die politischen Aussagen von Hostage Clam doch wesentlich besser zu gefallen. Seltsamerweise lässt sich das Publikum nicht wirklich von den hymnenhaften Songs mitreißen und bleibt weitestgehend bewegungslos stehen – dass eine Mitsing-Einlage hervorragend klappt und auch der Jubel zwischen den Songs beeindruckend laut ausfällt, beweist allerdings: RED CITY RADIO haben sich heute trotzdem in die Köpfe und Herzen des Publikums spielen können.

Auch wenn die beiden Support-Bands durchaus Eindruck schinden konnten, stellt sich doch zu keinem Moment die Frage, für welche Band das Münchner Publikum heute abend das Haus verlassen hat – nicht umsonst ist das Konzert bereits seit Dezember letzten Jahres restlos ausverkauft. Während der Umbaupausem welche dieses Mal etwas länger währt, füllt sich das 59:1 immer mehr – beachtlich, war der Laden doch bereits bei Red City Radio proppenvoll – , so dass auch der Bereich neben der Bühne noch vor Konzertbeginn gesteckt voll ist.
Schließlich ist es soweit, und ANTI-FLAG betreten unter lautem Jubelgeschrei die Bühne. Viel Zeit zum Einstimmen lassen die Amis dem Publikum dabei nicht – mit „The Project For A New American Century“, direkt gefolgt von den beiden Brechern „Broken Bones“ und „Fuck Police Brutality“ hauen sie dem Publikum gleich mächtig was um die Ohren. Die Anwesenden erweisen sich dabei bereits jetzt als erstaunlich textsicher und zeigen nun auch körperlich wesentlich mehr Einsatzbereitschaft als bei den beiden vorausgegangenen Bands: Von der ersten Minute an tummelt sich ein stattlicher Mosh-Pit vor der Bühne und die ersten Stage-Diver wagen den Sprung ins Meer aus emporgestreckten Händen. Doch auch die Bandmitglieder haben sichtlich Spaß an der sich darbietenden Clubatmosphäre: Trotz der kleinen Bühne hält es Chris #2 kaum an seinem Platz, so dass er immer wieder den Kontakt mit den Fans sucht, sich auf die Bassdrum stellt, oder mit Chris Head an der zweiten Gitarre schäkert. Drummer Pat Thetic hat ein angestrengtes Dauergrinsen aufgelegt und ist bei den aggressiven Songs voll in seinem Element, Chris Head selbst bleibt, in die Musik vertieft, schweigsam und Justin Sane gibt den sympathischen Großkotz am Gesang. Dass einige der jüngsten weiblichen Fans regelmäßig versuchen, die Bandmitglieder anzufassen und dies bei jedem erfolgreichen Versuch mit panischem Kreischen quittieren, wird von der Band geflissentlich übergangen.


Egal, in welche Schublade die Band bei der Songauswahl auch greift: Sowohl die alten Hits als auch die Songs vom neuen Album „The General Strike“ werden vom Münchner Publikum begeistert abgefeiert, bis sich schließlich Crowd-Surfer auf den Köpfen des Publikums stapeln und der Schweiß förmlich von der Decke tropft. Nach dem – man möchte beinahe sagen: natürlich – enthusiastisch aufgenommenen „This Is The End“ verzichtet die Band sympathischer Weise auf den zur Farce verkommenen Zugaben-Zirkus und kündigt an, direkt drei weitere Songs zu spielen. Dem Publikum ist das nur Recht, scheint dieses doch trotz der kaum vorhandenen Verschnaufpausen nicht genug bekommen zu können. Dass das vorletzte Stück des Sets, der Band-Hit „Die For Your Government“, nahezu frenetisch abgefeiert wird, überrascht zu diesem Zeitpunkt tatsächlich niemanden mehr. Justin Sane nutzt die Gunst der Stunde schließlich, um sich beim Publikum und den Support-Bands zu bedanken – allerdings auch, um unter zustimmendem Beifall noch einmal explizit auf die beiden Polit-Stände in der Halle (AntiFa und Peta) hinzuweisen. Nach dem eigentlich abschließenden „Death Of A Nation“ lassen ANTI-FLAG sich dann doch noch vom Publikum zu einer Zugabe hinreißen – kommen den fordernden Rufen allerdings auf sehr eigene Art und Weise nach: Kurzerhand baut Pat Thetic nämlich sein Schlagzeug ab und mitten im Publikum wieder auf, Chris #2 folgt schließlich mit Bass und Mikrophonständer. So viel Fannähe, so viel Schweiß und so viel Begeisterung können schließlich auch darüber hinwegtäuschen, dass im überraschend langen Set der ein oder andere Durchhäger nicht zu leugnen ist. Derlei Kritik hat von den nassgeschwitzten Fans im Münchner 59:1 nach dieser Live-Darbietung aber wohl niemand im Kopf.
[Bernhard Landkammer]

Setlist ANTI-FLAG:
01. The Project For A New American Century
02. Broken Bones
03. Fuck Police Brutality
04. A New Kind Of Army
05. If You Wanna Steal
06. The Economy Is Suffering… Let It Die
07. That’s Youth
08. Hymn For The Dead
09. Underground Network
10. The New Sound
11. One Trillion Dollar$
12. The Neoliberal Anthem
13. Turncoat
14. Drink Drank Punk
15. Fuck The Flag
16. The Press Corpse
17. This Is The End (For You My Friend)

18. The Ghosts Of Alexandria
19. Die For the Government
20. Death Of A Nation

21. Power To The Peaceful

24 Jahre sind für eine Band per se schon eine beachtliche Zeit – wenn die Band es dann jedoch auch noch schafft, nicht nur die Fans von damals mitzunehmen, sondern so erfolgreich „jung bleibt“, dass auch mittlerweile eine zweite Generation ihre ersten Konzerterfahrungen in der ersten Reihe eines ANTI-FLAG-Konzertes sammelt, muss man schon dieser Leistung, ungeachtet der musikalischen, Respekt zollen. Dass ANTI-FLAG sich dabei auch noch über all die Jahre hinweg treu geblieben sind und sich nicht dazu hinreißen haben lassen, mit softem US-Punk à la Greenday die Charts zu stürmen, macht das Quartett umso sympathischer – genau wie der Idealismus, mit einem neuem Album im Gepäck lediglich eine familiäre Club-Tour zu spielen.
Wer dabei sein durfte, weiß, was er erlebt hat – alle anderen sollten schauen, dass sie ANTI-FLAG zumindest auf einem ihrer Herbst-Konzerte zu sehen bekommen – es lohnt sich.
[Moritz Grütz]

Publiziert am von und

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert