Interview mit Morg von Nebelkrähe

Black Metal mit Atmosphäre, Authentizität und Mut zum Wagnis? Das alles bieten NEBELKRÄHE aus München seit 15 Jahren. Da passt es, dass die Band gerade ihr Debüt „entfremdet“ von 2009 neu aufgenommen hat. Was „entfremdet“ als Album so besonders macht, warum Pessimismus dieser Tage nicht unangebracht ist und warum schönes Ambiente nicht immer von Vorteil ist – das lest ihr hier.

Für den unkundigen Querleser zum Einstieg: NEBELKRÄHE gibt es seit 2007 — wer wart ihr damals und wer seid ihr heute?
Gegründet wurde die Band als ganz klassische Black-Metal-Band … das merkt man ja schon am Namen. Das erste Album war dementsprechend auch stark von den Granden dieses Genres geprägt. Allerdings hat sich recht schnell herauskristallisiert, dass wir musikalisch mehr wollen, als uns nur in die Riege derer einzureihen, die Black Metal in seiner reinsten Form zelebrieren und — ketzerisch gesagt — reproduzieren. Spätestens unser zweites Album war darum ziemlich experimentell, bei unserem dritten Album „ephemer“ hat sich das dann auf einem, wie ich glaube, sehr gesunden Level zwischen Eigenständigkeit und Eingängigkeit eingependelt.

Ihr kommt aus dem melodischen/melancholischen Black Metal. Wie lief damals eure musikalische „Identitätsfindung“ ab?
Als wir die Band gegründet haben, steckten wir alle in der großen Entdecker-Phase und haben uns gerade erst in die ganzen Klassiker-Alben „eingearbeitet“. Insofern ging es bei uns, ganz typisch, mit Cover-Songs los, von Gorgoroth über Naglfar bis Dissection. Dass das dann auch die ersten eigenen Songs geprägt hat, versteht sich von selbst.

Recording-Lineup von „entfremdet (2024)“: Latrodectus, Morg, umbrA

Euer Debüt „entfremdet“ von 2009 soll unter ziemlich widrigen Umständen entstanden sein — Zeitdruck, Grippe und Geschrei auf der Arbeit. Welche sind retrospektiv deine schönsten, vielleicht auch schlimmsten Erinnerungen an die Geburt eures Erstlingswerkes vor 15 Jahren?
Tatsächlich haben wir damals zum Beispiel alle Saiteninstrumente an einem langen Wochenende eingespielt, fiese Erkältung inklusive. Das ungeheizte Jagdschlösschen als „Recording-Studio“ war in der Theorie und vom Ambiente her eine gute Idee — schlussendlich aber natürlich völlig unprofessionell. Und ja, den Gesang hat umbrA tatsächlich nachts im Labor eingeschrien. Aus heutiger Sicht ist das natürlich alles bizarr — da es unsere erste Recording-Erfahrung war, haben wir das damals aber gar nicht so wahrgenommen. Dafür war der ganze Album-Enstehungsprozess einfach viel zu aufregend!

Vier Jahre später, 2013, folgte mit „Lebensweisen“ euer zweites Album und erst zehn Jahre später erschien „ephemer“. Wie kam es, dass zwischen „Lebensweisen“ und „ephemer“ ein ganzes Jahrzehnt an Zeit verging?
Nachdem schon „Lebensweisen“ aufgrund unglücklicher Umstände viel später veröffentlicht werden konnte als geplant, hatten wir sogar schon neue Songs geschrieben, als das Album 2013 erschien. Aber dann ist einfach alles schiefgegangen, was schieflaufen konnte — wir hatten persönliche Probleme in der Band, alle waren in neuen Lebensabschnitten angekommen — es haben nicht mehr alle in der gleichen Stadt gelebt und auch sonst hatten alle einfach weniger Zeit. Wir mussten mehrfach neue Proberäume suchen, später neue Mitmusiker. Als wir alles wieder einigermaßen sortiert hatten, stand Corona vor der Tür und hat nochmal alles über den Haufen geworfen.

Albumcover „Ephemer“, 2023

Wie läuft eigentlich das Songwriting bei „Nebelkrähe“ ab und inwieweit habt ihr euch über die Jahre weiterentwickelt?
Wir waren seit jeher eine klassische „Heimarbeit“-Band. Irgend jemand hatte eine Idee, die er an seinem Instrument und in entsprechender Software ausgearbeitet hat. Dann gehen Versionen herum, bis der Song zu 90 % steht — der Rest war dann Feinschliff im Proberaum. Daran hat sich auch nie etwas geändert. Tatsächlich könnte ich es mir für unsere Musik auch nicht anders vorstellen: Ich kann keinen Bläsersatz im Proberaum erjammen, und auch bei komplexeren Arrangements mit mehr Stimmen als Musikern wird es ja schon schwierig.

Warum habt ihr euch entschieden, statt an einem neuen Album zu arbeiten, lieber euer Debüt neu aufzunehmen?
Ein neues Album war tatsächlich keine Option — der Kreativprozess zu „ephemer“ hat mich ausgelaugt, in der ganzen Zeit ist über die acht Albumsongs hinaus nicht ein neues Riff entstanden. Gleichzeitig war mir klar, dass es nicht wieder zehn Jahre dauern darf, bis wir etwas Neues herausbringen, damit „ephemer“ nicht bloß ein Strohfeuer bleibt. Und dann war da eben noch der lange gehegte Traum, dem Material von „entfremdet“ doch noch mal Genüge zu tun. Schlussendlich habe ich dann recht spontan und aus dem Bauch heraus entschieden, dem dritten Album dieses Remake folgen zu lassen — zumal sich der Zeitpunkt mit dem 15. Release-Jubiläum ja angeboten hat.

Albumcover „entfremdet“ 2024

Wie seid ihr dann, mit 14 Jahren der Reife auf dem Rücken die Wiederbelebung von „entfremdet“ angegangen? Da muss es viel zu bedenken geben…
Witzigerweise nicht. „ephemer“ war über die Jahre zu einem solchen Gedanken-Koloss herangewachsen, dass ich nicht einen Takt ändern konnte, ohne stundenlang darüber zu brüten und anschließend schlecht zu schlafen. Dieses Album hatte ich wirklich bis auf den letzten Ton „perfektioniert“ — mitunter auf Kosten meiner „mental health“. Den Remake konnte ich viel entspannter angehen. Die Songs waren ja schon da, ich war mit dem Konzept des Home-Recordings mittlerweile vertraut und ich wusste, dass die neue Version dank der involvierten Personen in jedem Fall besser würde als das Original: Die Zusammenarbeit mit Chris Brandes (Schlagzeug-Aufnahmen) und V. Santura (Mix & Master) hatte sich bei „ephemer“ als für uns perfekte Lösung erwiesen, und auch sonst war vieles bereits geklärt — wir mussten kein Label suchen und selbst für „Randbereiche“ wie Musikvideos hatten wir schon die richtigen Leute an der Hand. Insofern war das ganze Setting viel entspannter.

Konkret habe ich mit den Bassspuren begonnen, da war einfach noch am meisten Luft nach oben. Dann haben wir — mehr oder weniger „on the fly“ im Studio — die Drumtracks optimiert. Die Gitarrenspuren habe ich diesmal alle gedoppelt, und bei ein paar Parts habe ich kleinere Veränderungen vorgenommen — und das teilweise sogar noch spontan im Studio. Das wäre bei „ephemer“ undenkbar gewesen. Vornehmlich waren das aber Kürzungen oder Ausbesserungen, weil im besseren Sound dann eben doch die eine oder andere tonale Unsauberkeit hörbar wurde. Die Grundgerüste der Songs, die Abfolge der Parts oder auch die Reihenfolge der Songs sind aber unverändert geblieben.

Inwieweit haben eure „Neuzugänge“ Nys (Bass, 2022) und Miserere (Gitarre, 2019) Einfluss auf „entfremdet (2024)“ genommen?
Tatsächlich gar nicht. Als wir über dieses Projekt gesprochen haben, wurde schnell klar, dass das eine Herzensangelegenheit derjenigen ist, die damals schon mitgewirkt hatten. Den später hinzugekommenen fehlt einfach der Bezug zu den Songs, da wir in der aktuellen Besetzung ja bislang auch nur drei davon live gespielt haben. Insofern hat es sich einfach richtig angefühlt, dieses Album zu dritt umzusetzen — zumal es für mich dadurch noch persönlicher wurde, da ich alle Saiteninstrumente inklusive dem Bass eingespielt habe und auch bei allen anderen Etappen quasi als Produzent fungiert habe.

Ich empfinde es so, dass der Sound auf „entfremdet (2024)“ rauer ist als noch auf „ephemer“. Zumeist kommen Remakes von Bands ja in einem extrem modernen Sound zurück auf die musikalische Landkarte. Euer Remake klingt trotz seiner Politur sehr ehrlich und man spürt, aus welcher jungen Zeit es kommt. War dieser Sound forciert oder entstand er im Verlauf?
„Forciert“ klingt so nach „erzwungen“ — es war aber vielmehr eine ganz logische, natürliche Sache. Es ging uns ja nie darum, „entfremdet“ modern klingen zu lassen. Die Idee war, das Album so klingen zu lassen, wie es eigentlich gemeint war. „ephemer“ ist stilistisch im großen Ganzen viel ruhiger, aber auch vielschichtiger — darum haben wir für dieses Album auf einen eher weichen, warmen Sound Wert gelegt, der die Details hervorhebt. „entfremdet“ hingegen ist über weite Strecken ein ziemlich garstiger Geselle. Das hat auch V. Santura mit seinem einmaligen Gespür für Songs und Atmosphäre direkt so empfunden — und so war schon sein erster Soundvorschlag ein Volltreffer: ein aggressiver und rauer, dabei aber eben weder „pseudo-retro-trver“ noch moderner Sound. Genau so hatte ich die Songs 15 Jahre lang im Kopf.

Albumcover „entfremdet“ 2009

Ihr habt auf dem Remake „entfremdet (2024)“ mit der Sängerin Isi Retzow zusammengearbeitet. Wie kam es zu dieser Kooperation?
Wir hatten auf „ephemer“ einige tolle Gastbeiträge renommierter Musiker wie sG, Schwadorf oder Noise, die das Album sehr bereichert haben. Darum hatte ich auch für „entfremdet (2024)“ in diese Richtung überlegt, die Idee dann aber aus dem bereits angeschnittenen Grund heraus verworfen: Dieses Album ist ein sehr intimes Projekt der drei Musiker von damals, das wir mehr als alle anderen Releases „für uns“ gemacht haben. Musiker sagen das oft, dass sie ihre Musik nur für sich selbst machen und die Reaktionen keine Rolle spielen — aber in der Regel ist das natürlich Quatsch. Jeder Mensch will Anerkennung für seine Arbeit bekommen. Bei diesem Album war die Situation aber tatsächlich eine andere, denn als Beweis für unser Können hatten wir ja erst „ephemer“ vorgelegt — und auch „entfremdet“ hat seinerzeit im Rahmen des Möglichen seine Anerkennung bekommen. Wir wollten also niemandem etwas beweisen, sondern uns nochmal auf unsere Wurzeln besinnen. Ein Gast — egal wie gut — wäre da einfach deplatziert gewesen. Isi hingegen ist eine langjährige, sehr enge Freundin der Band. Insofern hat es sich absolut stimmig angefühlt, sie zu involvieren. Und genauso locker lief es dann auch in der Umsetzung — kein komplexes Anbahnen und Abklären eines Gastbeitrags, sondern einfach ein entspannter Nachmittag im Home-Studio, an dem wir mit viel Spaß bei der Arbeit ihre Spuren entwickelt und aufgenommen haben.

Cover zur Single „Als meine Augen ich aufschlug…“, 2024

„entfremdet“ ist, sowohl in der Neuauflage als auch im Original, in bestem Sinne genrekonform. Auf „Lebensweisen“ hingegen findet sich eine Art Reggae-Arrangement („Mut & Demut“), während man auf „ephemer“ sogar ein Akkordeon zu hören bekommt. Damit agiert ihr an einigen Stellen erfrischend nonkonform. Wie wichtig sind euch Konventionen innerhalb eures Genres?
Konvention muss in diesem Kontext etwas näher definiert werden: Es gibt ja durchaus Konventionen, die Sinn ergeben — weil sich etwa herausgestellt hat, dass gewisse Kompositions-Muster Sinn ergeben, und schlussendlich sind ja auch Tonarten nur „Konventionen“. Im absoluten Gegensatz dazu stehen Konventionen im Sinne von „Traditionen“ — darin sehe ich absolute Kreativitäts-Blocker. Warum sollte ich eine Idee nicht umsetzen, nur weil sie „unkonventionell“ ist? Gerade das zeichnet eine gute Idee doch aus — dass sie etwas Neues anstößt. Generell sehe ich wenig Sinn darin, möglichst genau zu reproduzieren, was schon jemand anderes gemacht hat: Diese ganzen Retro-Hypes, ob nun im Black Metal oder Rock oder sonst wo, finde ich darum ziemlich überflüssig.

Auch eure Texte behandeln erfreulicherweise nicht die üblichen Black-Metal-Themen. Ihr befasst euch mit dem Leben selbst. So zumindest mein Eindruck. Seit „ephemer“ behandelt ihr auch die Schrecken des Krieges. Was inspiriert euch beim Schreiben von Texten und wer bringt sie ein?
Die Texte — die allesamt von unserem ehemaligen Bassisten Kar und mir stammen — sind tatsächlich „aus dem Leben“ gegriffen. Insbesondere auf „entfremdet“ spielte damals natürlich die Sinnsuche, Teenage Angst und auch der Wille, sich von der „Gesellschaft“ abzugrenzen rein — zum Glück ist uns aber gelungen, diese Themen relativ klischeefrei umzusetzen, sodass ich auch heute noch voll hinter diesen Texten stehen kann. Krieg im eigentlichen Sinne war bei uns nie Thema — der einzige Song, der in diese Richtung geht, war der „Nielandsmann“ vom letzten Album. Aber auch der hat den Krieg nur als Aufhänger … eigentlich geht es dabei um die Absurdität des „Heimat-Begriffs“ und Grenzen ganz allgemein.

Gibt es Genres, mit denen ihr zukünftig gerne mal experimentieren würdet?
Nein — zumindest nicht mit Ansage. Es ist ja nicht so, dass ich eine Liste habe, auf der ich Genres abhake, die ich gerne mal in einem Song verwursten würde. So funktioniert „Songwriting“ auf YouTube-Channels, aber zum Glück nicht bei uns. Wenn sich bei uns ein „fremdes“ Genre einschleicht, dann entweder ganz unbewusst, oder aber weil der Song genau das an dieser Stelle braucht. Aber nie aus Selbstzweck, nur um das mal gemacht zu haben.

Dein jüngeres Ich nimmt 2007/2008 die Gitarre in die Hand und beginnt erste Arrangements für „entfremdet“ zu komponieren. Dein heutiges Ich darf ihm einen Rat für die Zukunft/das Album mitgeben. Welcher wäre das?
Keep it simple. Viele der Songs haben damals — zumindest in der Umsetzung, die uns damals möglich war — darunter gelitten, dass wir die Sache etwas überambitioniert angegangen sind. Das gilt im Übrigen noch viel mehr für unsere zweite Platte, auf der es uns gar nicht verkopft genug sein konnte. Derweil ist gerade bei der Musik manchmal weniger mehr. Satyricon haben das mit ihren auf das nötigste Reduzierten Alben „Now, Diabolical“ oder auch „Age Of Nero“ perfekt unter Beweis gestellt — und wir haben uns diese Lebensweisheit für „ephemer“ ebenso wie für das Remake von „entfremdet“ zu Herzen genommen: Es muss nicht in jeden freien Takt ein Fill getrommelt werden, es ist nicht automatisch gut, wenn man Harmonien vertrackt auf verschiedene Gitarren verteilt oder in ein Riff noch einen Akkordwechsel mehr einbaut als eigentlich nötig. Vieles hört man am Ende sowieso nicht, oder nur insofern, als das Ergebnis weniger präzise klingt und weniger groovt.

Aufnahmen zum Debüt „entfremdet“ (2009): Morg & umbrA

Zum Abschluss noch das obligatorische Brainstorming:
Black Metal damals (1980-2000): 20 Jahre ist eine große Zeitspanne. Da ist alles dabei von „gelangweilte Rich-Kids“ über „alles ist eskaliert“ bis hin zu „jetzt lasst uns mal ernsthaft Musik machen“. Persönlich kann ich dem ganzen Kult und Gründungsmythos nicht viel abgewinnen.
Die Welt in zehn Jahren: Bevor ich so weit in die Zukunft schaue, würde ich jetzt lieber erst einmal die Daumen drücken, dass die Welt in einem Jahr noch da ist. Wer weiß, was ein möglicher Präsident Trump, Putin auf den Schultern der Nordkoreaner, Netanjahu im Nahen Osten und der vermutlich ungebremste Klimawandel so mit der Menschheit vor haben.
Wunsch-Feature für NEBELKRÄHE in der Zukunft: Mit einem Feature ist es wie mit einem genrefremden Einfluss — der Song muss danach verlangen. Und wenn er das tut, ergibt sich auch von selbst, wer der oder die richtige dafür ist. Ein Feature, nur um mal ein Feature mit Person X oder Y gemacht zu haben, ergibt keinen Sinn.
Maggus Söder: wäre in einer normalen Welt der unsympathischste Politiker des Landes. Dass er das bei weitem nicht ist, sagt vieles über den Zustand unserer Demokratie aus.
Black Metal heute (ab 2000): Vornehmlich dann spannend, wenn dem Genre keine Bedeutung beigemessen wird. Bands, die nicht mit allem, was sie tun, dazuzugehören versuchen, sind mir die liebsten — musikalisch wie auch von der Attitüde her. Bei allen Bands, die das Black-Metal-Label wie ein Abzeichen vor sich hertragen — mit Ausnahme der alt-ehrwürdigen Heroen des Genres —, bin ich mittlerweile eher skeptisch. Im besten Fall ist es nur langweilig, im schlimmsten Fall obendrein noch politisch bedenklich.

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Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
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