Review Nightwish – Yesterwynde

Es gibt musikalische Momente, hinter die führt kein Weg zurück. Das erste Mal „She Is My Sin“ zu hören zählt dazu – die Live-Version auf der EP „Over The Hills And Far Away“ (Special Edition). Tarjas erster Einsatz, selbstsicher und triumphierend, damit im krassen Gegensatz zur intimen Studioversion: Ein Moment für die Ewigkeit und die Gewissheit, dass hier eine ganz große Band spielt.

NIGHTWISH sind eine große Band. Sie sind so groß, dass ihre Geschichte in Ären gemessen wird. „End Of An Era“ hieß dann folgerichtig das „Abschieds“-Livealbum zum Ende der Tarja-Zeit. Seit mehr als zehn Jahren befinden wir uns also in der „Ära Floor Jansen“. Dazwischen liegt ein Interregnum – das witzigerweise eine der besten Platten der Bandgeschichte hervorgebracht hat. Mit dem neuen Album „Yesterwynde“, dem 10. der Bandgeschichte und nicht übersetzbar, wird zudem eine „Trilogie“ abgeschlossen, die alle Alben mit Floor Jansen umfasst. Da die Band angekündigt hat, das Album nicht zu betouren, stellt es einen willkommenen Anlass dar, den aktuellen Status der Band einmal in aller Ruhe zu betrachten.

Halten wir fest: Das Album besitzt ein Intro. Es stellt sich kurz vor, ist freundlich und schnell wieder vergessen. Weniger schnell vergessen ist der fulminante und zupackende Einstieg „An Ocean Of Strange Islands“. Rasende Drums, bombastisches Orchester, eine gehetzte, doch mitreißende Floor… alles scheint zu stimmen. Bis der Refrain in der Mittelmäßigkeit versinkt. Dieses Fehlen von „großen“ Refrains wird sich – bis auf eine wunderschöne Ausnahme – durch das ganze Album ziehen. Das wäre an sich kein Problem, wenn die kompositorische Klasse auf andere Felder verlegt werden würde. Doch ist mit dem Opener schon vieles angedeutet und gesagt.

Denn die orchestrale Wucht und instrumentelle Brachialität, die das Stück vorgibt, können nicht verbergen, wie simpel die Riffs und die grundlegende Komposition eigentlich sind, bzw. wie oft man sie von NIGHTWISH schon gehört hat. Das wird besonders deutlich, wenn man die (auf Spotify mitveröffentlichte) Orchesterversion des Stückes anhört. Die Pizzicato-Strukturen, die immer wieder auftauchen, prägen Tuomas‘ Stücke seit der Bandgründung („dada daaa, dada daaa, dada daa“ –  exemplarisch auf „Crimson Tide/Deep Blue Sea“ zu hören, auf der Live-DVD „From Wishes To Eternity“). Die Gitarrenriffs sind erstaunlich primitiv und die rhythmischen Einschübe bei den Breakdowns auch schon seit „Wishmaster“ bekannt – nichts neues unter der finnischen Sonne. Nur eben gut und glänzend verpackt.

Was neu ist, ist das, was fehlt: Das Album ist das erste ohne Bassist und Co-Sänger Marco Hietala. An seiner Stelle darf in insgesamt sechs Lieder des Albums Flötenspieler Troy Donockley ans Mikro. Wer sich seit drei Alben fragt, warum eine Symphonic-Metal-Band einen Flötenspieler braucht, stellt eine Frage, die wohl nur das Universum und Tuomas Holopainen beantworten können. Woran es sicherlich nicht liegen kann, sind die Gesangsfähigkeiten des Bläsers. Ein nettes Stimmchen, eine Inszenierung als weiser Großvater, mehr kommt dabei nicht heraus. Donockly fügt den Songs nichts hinzu, was sie bräuchten. Im Gegenteil werden die Songs oft künstlich verlängert, damit er noch einmal einsetzen darf – natürlich erst, nachdem alle anderen Instrumente heruntergefahren wurden, gegen die er sich nicht durchsetzen kann („Perfume Of The Timeless“, der übliche straighte riff- und refrainorientierte Song, der sonst immer als Opener kommt, nur diesmal mit langem Intro und Outro künstlich aufgeblasen. Dennoch ein Ohrwurm).

Selbst Floor Jansen fällt es mitunter schwer, sich gegen die Instrumentalfraktion durchzusetzen. Ergebnis eines unausgeglichenen Mixes, richtig. Aber auch Ergebnis der Unfähigkeit und des Unwillens des Songwriters, seiner Ausnahmesängerin nach elf Jahren ihrer Mitgliedschaft endlich mal einen Song auf den Leib zu schreiben. Stattdessen muss Floor gegen die immer neu anbrausenden Wogen der Musik ankämpfen. Es gibt wenige Momente, in denen sie frei den Liedern einen eigenen Stempel aufdrücken kann (das Ende von „Something Whispered Follow Me“ kommt hier in den Sinn). Ansonsten stellt es das wohl größte Wunder dieses Albums dar, wie unglaublich kalt und gleichgültig ihre Stimme diesmal den Hörer lässt. Erst in der abschließenden – wunderschönen und in der Albumversion weniger überfrachteten Fassung als die Orchestervariante – Ballade „Lanternlight“ kann Jansen endlich den Raum beanspruchen, den Lied und Stimme brauchen – bis, ja bis auch hier wieder der Märchenonkel seinen Auftritt hat und die gesamte Atmosphäre in den „Kleinen Lord“ verwandelt.

Zwischen diesen Liedern passiert vieles, aber vor allem irritierendes. Die Strophen von „The Day of…“ erinnern an „Sleepwalker“: NIGHTWISH auf 80er-Synthi-Pop-Pfaden? Oh ja bitte! Die Hoffnungen auf einen relaxten, tanzbaren und damit irgendwie befreiten Song werden jedoch vom Kinderchor im stampfrhythmischen Refrain sofort im Keim erstickt. „Sway“, großflächig von Troy gesungen, ertrinkt in seiner eigenen Belanglosigkeit. „Something Whispered Follow Me“ liebäugelt wieder mit dem Pop, „Spidersilk“ mit 80er-Gothrock. „Hiraeth“, der einzige Song, der keine Orchesterversion verpasst bekommen hat, kontrastiert Troy mit Floor, Akustik mit Metal-Ende – und scheitert daran.  Was alle diese Kompositionen eint, ist der auffällige Kontrast zwischen bedeutungsschwangerem Anspruch und handwerklicher Wirklichkeit. Oder anders gesagt: Das völlige Fehlen von Leichtigkeit. Eine elegante, in ihrer Schlichtheit überwältigende Komposition wie beispielsweise „Deep Silent Complete“ (der Leser ahnt, welche Version auf welchem Album sich anbietet) ist NIGHTWISH schon seit vielen Jahren nicht mehr gelungen.

NIGHTWISH sind eine große Band, aber doch so klein, dass sie ausschließlich in den Kopf ihres Hauptkomponisten Tuomas Holopainen passt. Und in diesem Kopf ist alles groß und wichtig. Lyrisch werden die Menschheitsthemen angegangen. Alles ist bedeutungsvoll. Zwar gibt es diesmal keinen „Longsong“, aber was soll nach „All The Work Of Nature Which Adorn The World“ vom Vorgänger rein quantitativ noch kommen? Kinderchöre, endlose Outros und Intros, die „tiefgründigen“ Lyrics – im Endeffekt wirkt so ein Großaufgebot an Bedeutung bei gleichzeitigem kompositorischen Selbstzitat vor allem: pubertär. Es lohnt sich, die gesamte Orchester-Variante des Album zu hören – hier wird sehr deutlich, dass Tuomas eben auch nur mit Wasser kocht und kein „klassischer“ Komponist ist, auch wenn er das gerne sein will. Im Endeffekt ist sehr vieles eine, nennen wir es wohlwollend Hommage an den so bekannten wie beliebten Harry-Potter-Sountrack des Altmeisters John Williams. Der allerdings nie auf die Idee gekommen wäre, Gitarrenspuren durch „Rattatatta“-Unfug wie in unseligen Van-Canto-Zeiten zu ersetzen. Dafür opfert Holopainen seine Band: Es ist mittlerweile eigentlich egal, wer mitspielt. Berufsmusiker erfüllen die Wünsche eines Einzelnen.

Warum es sich dennoch lohnt, das Album wenigsten einmal zu hören? Zum Beispiel wegen Kai Hahto. Der Drummer, der sich gerade bei Wintersuns „Time II“ aufs Famoseste austoben konnte, langweilt sich bei seinem Brötchengeber merklich – nur manchmal bricht es aus ihm heraus und man kann förmlich das Grinsen auf seinem Gesicht hören: „Sorry, es kam so über mich“ („The Weave“). Wer hingegen wissen will, was Floor Jansen eigentlich kann, wenn man sie lässt, muss weiterhin Ayreon hören.

Was bleibt also nach Abschluss der „Trilogie“ über NIGHTWISH auszusagen? Auf der Haben-Seite stehen großzügigste musikalische Ressourcen. Wer Jansen, Hahto und Orchester-Arrangeure wie Pip Williams oder den hier zum Einsatz kommenden James Shearman zur Verfügung hat, befindet sich auf einem Status, von dem viele andere Bands nur träumen können. Wer damit aber drei Alben lang geradezu ignorant umgeht, weil der eigene Kopf immer noch am wichtigsten ist, handelt fahrlässig. In den neun Jahren, seitdem „Endless Forms Most Beautiful“ erschienen ist, haben sich NIGHTWISH von einem staunenden Kind, das in den Sternenhimmel blickt, in einen altklugen Teenager verwandelt, der dringend eine Autoritätsperson beispielsweise in Form eines erfahrenen Produzenten bräuchte (danke an den Kollegen vom Metal Hammer für diese naheliegende Lösung des Problems).

Übrigens verzeichnet der „Duden“ beim Eintrag „Ära“, dass der Plural sehr selten sei. Die Geschichte und Entwicklung von NIGHTWISH geben dieser Einschätzung Recht.

 

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Wertung: 3.5 / 10

Redaktion Metal1.info

Publiziert am von

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert