Festivalbericht: Festival-Mediaval XV – Tag 2

06.09.2024 - 08.09.2024 Selb, Goldberg

Der zweite Tag startet wie gewohnt mit dem AWARD ROCK – und doch anders. Im Gegensatz zu den letzten Jahren beginnt der Band-Contest 2024 nicht am Vormittag, sondern 45 Minuten nach Einlass um 12.45 Uhr mit TOTENKOPF STRUMPFSOCKIG. Erfreulicherweise wirkt sich der spätere Beginn positiv auf die Anzahl der Menschen vor der Theaterbühne aus, so dass gefühlt alle Bands später mit positiven Eindrücken nach Hause fahren. Mit TOTENKOPF STRUMPFSOCKIG spielen als erstes auch direkt die Gewinner in einem Contest, der dieses Jahr wieder mehr seinen Anspruch erfüllt, unbekannteren Kapellen eine erste größere Bühne zu bieten. Die strumpfsockigen Totenköpfe sorgen besonders durch Sängerin „Die Todesfee“ mit ihrer glockenklaren Stimme und einem auch optisch stimmigen Gesamtkonzept für Aufsehen. Genau wie IN ORA MUNDI besingen sich die späteren Gewinner in einem Song selbst, ein witziger Zufall.

Einzig LAUTENMANN können das Niveau nicht halten, da die Augsburger in ihrer halbstündigen Spielzeit viel zu viel unterbringen wollen. So soll das Publikum – von der Lautenfrau angetrieben – immer wieder „Lautenmann“ skandieren, doch für derlei Sprechchöre reicht die hektische Performance mit allerlei Verspielern am Ende nicht. Während IN ORA MUNDI insgesamt soliden Folk-Rock kredenzen, erobern TOTENKOPF STRUMPFSOCKIG besonders mit ihrer Extravaganz die Herzen der meisten Contest-Besucher. Ein männlicher Gegenpart zu „Die Todesfee“ könnte der nächste Schritt für die Newcomer sein, um sich noch breiter aufzustellen.

Foto @ Oliver Richter

Mit Harfenistin Maria Nikola holen sich BERNSTEIN & EBENHOLZ für ihren Gig in diesem Jahr zusätzliche Unterstützung. Die Contest-Gewinner 2023 präsentieren sich auf der deutlich größeren Schlossbühne als talentiertes und wahnsinnig gut eingespieltes Duo, denen die Harfe als Ergänzung sehr gut zu Gesicht steht. Am Ende löste das Gespann sein Versprechen aus dem Vorjahr ein und besingt mit „In der Taverne steht ein Zwerg“ eben jenen goldenen Gnom, den es jedes Jahr als Preis für die beiden Contest-Gewinner gibt.

Foto @ Oliver Richter

Lockere Baratmosphäre, Irish-Folk und Piraten-Shanties zeichnen DARTH POLLY aus. Mit guter Laune gewinnt man Publikum, und so haben sich zu den tanzbaren Melodien trotz gleißender Sonne viele Zuhörende und Mittanzende vor der Bühne zusammengefunden. Spätestens zu „Dirty Old Town“ wird schließlich gemeinsam gewippt und geschunkelt. Die angekündigte Überraschung der Special-Show entpuppt sich als besonders groß und bärtig: Arzi alias Buttercock Crumblesac am Bass und Ulf alias Admiral Swollenface an der Gitarre von den später noch auftretenden THE BLACKBEERS unterstützen die Band als Gastmusiker. Zu „All For Me Grog“ und anderen rotzigen Shanties sind die Piraten eine willkommene Ergänzung. Immer wieder kommen und gehen sie auf die Bühne, mal einzeln, mal zu zweit, und sorgen so auch für viel Abwechslung im Sound der Band, von lässig-reduziert bis rockig-wild. Besonders überraschend kommt auch das Cover von „On The Devil’s Back“ von Katzenjammer daher, das die meisten Zuhörer wahrscheinlich zum ersten Mal hören.

Foto @ Oliver Richter

Nicht wenige werden beim Namen PYROLYSIS zuerst an ihren Ofen und erst dann an Musik gedacht haben. Die Holländer haben energiegeladenen, akustischen Folk dabei, bei dem neben den keltischen Elementen auch einige Punk-, Gypsy und auch Metal-Einflüsse zum Tragen kommen. Das Ergebnis ist tanzbar, modern und frisch für die Ohren, da PYROLYSIS hierzulande kaum bis nie zu sehen sind, obwohl die Band seit über zehn Jahren besteht. In dieser Zeit hat sich der Stil der Band sukzessive entwickelt, wenngleich einige Bandmitglieder auf der Bühne ihre Wurzeln in den härteren Klängen nicht ganz leugnen können. Zum Reinhören empfehlen sich eben jene Vorzeigenummern wie „Never Fade“, die als Musikvideos bei YouTube zu finden sind. Für die nötige Dynamik ist ebenfalls gesorgt: So darf auch der Perkussionist ans Mikro und manche Klänge sollen als spontane Einladung zum klassischen Tanz verstanden werden.

Harte Metal-Klänge sind selten bei dieser Ausgabe des FESTIVAL-MEDIAVAL, und so haben MINOTAURUS mit ihrer 30-Jahre-Jubiläumsshow ein spannendes Alleinstehungsmerkmal. Die roughen Klänge ziehen eine locker stehende Menschenmenge vor die Bühne, die jedoch eher zuhört statt enthusiastisch mitzufeiern – was sicher einerseits an den dieses Jahr weniger vorhandenen Metal-Fans liegen dürfte, andererseits aber auch an der soliden, aber nie herausstechenden Qualität der Kompositionen und musikalischen Finesse. Hier kann auch ein Aufheizer mit Stiermaske nicht so viel bewirken. Dennoch ist das Set abwechslungsreich, und Fans der Band bekommen bei diesem besonderen Jubiläumskonzert sowohl einige Klassiker serviert als auch bisher noch nie live gespielte Songs des neuen Albums „Memories In The Haze“, welches alsbald erscheinen soll.

Foto @ konzertreport.de

Über mangelndes Engagement können sich HARPO SPEAKS!! nicht beklagen. Die Band rund um Tausendsassa TOMMY KRAPPWEIS, dessen Name auf dem FESTIVAL-MEDIAVAL kaum noch wegzudenken ist, spielt ein launiges Konzert im kleinen Hafenviertel und lädt mit diversen Coversongs zum Mitsingen und -tanzen ein. Getreu dem Motto „Never change a running system“ sind vor allem Lieder zu hören, die Tommy bereits als Solo-Act oder in Jam-Sessions in den Jahren davor in Selb vorgetragen hat. Die mit viel Fingerspitzengefühl ausgewählte Setlist umfasst viele Klassiker wie „Another Brick in the Wall“ von Pink Floyd oder „Rock Island Line“ von Lonnie Donegan, aber auch abgewandelte Versionen wie beispielsweise eine bairische Edition von „Ghost Rider In The Sky“ oder ein rockiges „Summer Wine“. Tommy spricht bescheiden von den vielen talentierten Musikern auf dem Gelände und seinem eigenen nun einsetzenden Imposter-Syndrom – doch die fröhliche Stimmung und die ungeteilte, begeisterte Aufmerksamkeit des Publikums können ihn hoffentlich eines Besseren belehren. Spätestens mit „Bernd das Brot“-Mütze auf dem Kopf und den zu „Tanzt das Brot“ ulkig tanzenden Zuhörenden ist klar, dass ein gutes Konzert eben auch bedeutet, dass man gemeinsam eine richtig gute Zeit hat – völlig unabhängig davon, ob man nun die anspruchsvollsten Eigenkompositionen im Repertoire hat oder das ausgefeilteste Solo. Die in der HARPO SPEAKS!!-Konstellation gegebene Ergänzung Tommys um weitere talentierte Mitmusiker, auch wenn Bassist Flo leider fehlte, qualifiziert die Kombo fraglos auch für die größeren Bühnen des Festivals.

Foto @ konzertreport.de

Hinter SCHANDMAUL liegen turbulente Zeiten: Bereits vor der Krebserkankung von Sänger Thomas hatte die Band mit abgesagten Tourneen und vielem mehr zu kämpfen. Inzwischen ist Thomas, der sich offenkundig immer noch von seiner Behandlung erholt, vom Mikro an das Keyboard und die Gitarre gewechselt. Mit Ex-Russkaja-Sänger Georgij haben die Mäuler am Goldberg eine völlig andere Stimme an vorderster Front. Außerdem muss auch die hochschwangere Geigerin Saskia passen. Für sie springt erneut Shir-Ran ein, die im erweiterten Folk-Umfeld keine Unbekannte ist und u.a. bereits mit ASP oder Krayenzeit auf der Bühne gestanden ist. Die Vorzeichen könnten insgesamt also wieder einmal besser sein, zumal auch der Sound zu wünschen übrig lässt, speziell in den folkigen Parts. Georgij erledigt seinen Job als Frontmann mit viel Leidenschaft, doch bereits zu Beginn bei „Krieger“, „Hexenmalseins“ oder auch dem märchenhaften „Froschkönig“ mag seine Stimme nicht so richtig zu den jeweiligen Stücken passen. Einige Besucher wirken dennoch mehr als glücklich, diese Lieder überhaupt wieder live zu hören. So lebt der Auftritt von SCHANDMAUL auch ein bisschen vom Nostalgiefaktor und davon, dass „Kein Weg zu weit“ beinahe zum Mantra der Combo geworden ist. Bei der Songauswahl orientieren sich die Süddeutschen eher an den letzten Veröffentlichungen, mit gelegentlichen Reisen in die Vergangenheit wie bei „Die goldene Kette“, welche allerdings von Anfang an unter keinem guten Stern steht: Die Abstimmung zwischen Georgij und dem Rest der Band misslingt und insgesamt geht gerade bei diesem Lied viel des bekannten Flairs verloren. Je feiertauglicher und vielleicht auch weniger assoziiert die Stücke live mit der Stimme von Thomas sind, desto besser wirken sie, wie zum Beispiel „Tatzelwurm“ und „Der Pfeifer“. Der beste Brückenschlag zwischen Russkaja und SCHANDMAUL gelingt beim zwischenzeitlichen Abschied mit dem Cover von Aviciis „Wake Me Up“, welches in „Der Teufel…“ mündet, an dem Georgij bereits in der Urversion mitgewirkt hat. Im Zugabenblock folgt schließlich einer der emotionalsten Momente des gesamten Mediaval-Wochenendes, als Thomas für „Dein Anblick“ tatsächlich ans Mikro tritt. Einen würdigeren Abschluss hätte es für diesen Auftritt nicht geben können. Insgesamt stehen SCHANDMAUL vermutlich allerdings am Scheideweg und damit gleichzeitig am schwierigsten Punkt ihrer Bandgeschichte.

Foto @ Oliver Richter

Durchaus auch skeptisch waren die Stimmen, als LORD OF THE LOST mit einem Exclusive-Acoustic-Set als Headliner für den Samstag angekündigt wurden. Zwar schlagen die Männer aus St. Pauli auch ruhigere Töne an, doch so richtig zünden wollte die Idee bei der Mehrheit im Vorfeld kaum. Das ändert sich im Nu, als die Musiker bestens gelaunt die Bühne betreten und mit „Loreley“ ihr Set beginnen. Kurz darauf erklärt Sänger Chris Harms, dass Bassist Klaas leider kurzfristig krankheitsbedingt passen muss, so dass auch die Bouzuki als Instrument fehlt. Das bleibt der einzige Wermutstropfen in einer fulminanten, kurzweiligen Show der Extraklasse, die es so am Goldberg noch nicht zu sehen gab. Das gesamte Set mit insgesamt 19 Songs wirkt liebevoll zusammengestellt, arrangiert und präsentiert – und das, obwohl LORD OF THE LOST wenige Tage später mit ihrem Metal-Programm auf US-Tour gehen. Zwischen den Stücken hält Chris als charmantes Sprachrohr den Draht zum Publikum aufrecht. Als seine Mutter während der Show bei ihm anklingelt, improvisiert er kurzerhand und ruft sie nach lauten Sprechchören direkt auf der Buhne und begleitet von lautem Jubel zurück. Mit seiner markanten Goth-Voice trägt und prägt Harms wiederum die Songs, ohne dabei selbst zu viel Raum einzunehmen und oftmals auch im Zusammenspiel mit Gerrit am Piano.

Foto @ Oliver Richter

Neben vielen Klassikern aus dem LOTL-Fundus beweisen die ehemaligen ESC-Vertreter auch ein hervorragendes Gespür für das Festival: Mit Cover-Versionen von Subway to Sallys „Eisblumen“ und „Satans Fall“ von Saltatio Mortis treffen LORD OF THE LOST voll ins Schwarze. Von den bandeigenen „Swan Songs“ zählt „Annabel Lee“ zu den denkwürdigsten Momenten. Während der Show kommt auch die Unterhaltung nicht zu kurz, so dass sich die Menge an einer Slow-Motion-Version des Circle Pits und der „Wall Of Love“ als Alternative zur „Wall Of Death“ ausprobieren darf. Nach einer wunderschönen Akustik-Adaption von „Blood And Glitter“ leiten LORD OF THE LOST mit dem intensiven „One Last Song“ tatsächlich zum Schlussakkord über. Völlig überraschend gibt es dann mit „Schrei nach Liebe“ von Die Ärzte noch ein fulminantes, politisches Ausrufezeichen, bei dem aus der „Kuschelrock LP“ einfach die „Taylor-Swift-EP“ wird. Damit krönen die Nordlichter eine der besten Headliner-Shows, die das Festival-Mediaval jemals geboten hat. Für Chris Harms und seine Männer könnte dieser Auftritt eine Steilvorlage sein, um mehr aus der Idee zu machen, die überragenden Reaktionen am Goldberg und online sprechen für sich.

Pünktlich zur Geisterstunde bietet das Festival schließlich dreierlei Optionen: Bei der Lesung von LUCY VAN ORG und anderen Autoren wird es erotisch, aber nie billig oder schmuddelig. Die LAGERFEUER-SESSION lädt wiederum mit ihrem gemütlichen Ambiente zum Verweilen ein und wer immer noch nicht genug von TOMMY KRAPPWEIS und HARPO SPEAKS!! bekommen hat, der kann die Band im Aktionszelt nochmals live erleben.

Allein für LORD OF THE LOST lohnt sich der Besuch an diesem Tag. Ausgerechnet den Hamburgern gelingt es bei ihrem ersten Gastspiel am Goldberg, dem ursprünglichen Geist des Mediavals bestmöglich zu entsprechen und eine wirklich besondere Performance zu bieten, bei der es vieles zu entdecken gibt und die so auf anderen Festivals keinen Platz findet. Mit Multitalent TOMMY KRAPPWEIS, dem Newcomer-Contest und PYROLYSIS im Nachmittagsprogramm umfasst der zweite Festival-Tag weitere überzeugende Auftritte, die zusammen mit vielen bekannten Gesichtern, Kleinkunst, Handwerk und Artistik locker den gesamten Samstag füllen. An SCHANDMAUL werden sich die Geister indes scheiden.

Foto @ Oliver Richter

 

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