Fünf Jahre nach Veröffentlichung seines zweiten Albums „Liquid Anatomy“ legt das bayrische Quintett ALKALOID nun „Numen“ nach, ein mehr als einstündiges Paradebeispiel für die komplexesten Auswüchse der Metalwelt. Die Prog-Death-Supergroup, die 2013 von Schlagzeuger Grossmann und Sänger/ Gitarrist Maier gegründet wurde, vereint aktuelle und ehemalige Mitglieder von Genre-Sperrspitzen wie Obscura, Necrophagist, Blotted Science oder Spawn Possession.
Ergibt die Zusammenkunft dieser Personalien automatisch einen Album-des-Jahres-Anwärter im Bereich des Prog-Death-Metal? Eine ungeahnt schwierige Vorhersage, wenn man noch den überladenen, schwer zu greifenden Vorgänger „Liquid Anatomy“ im Ohr hat.
ALKALOID leiten den Opener „Qliphosis“ mit einer groovigen Bassspur ein, über das sich das noch zarte Gitarren-Geklimper von Maier und Münzer legt und Drummer Grossmann schon mit bestimmenden Hi-Hat-Schlägen vorgibt, dass es musikalisch gleich richtig zur Sache gehen wird. Nicht mal eine Minute später treibt die Doublebass den Song bereits ordentlich an, der mit einem für Prog-Death vergleichsweise unvertrackten, beinah schon eingängigen Riffs direkt punkten kann.
Selbst das knackige Blastbeat-Gewitter in „The Cambrian Explosion“ oder die Mid-Tempo-Nummer „Clusterfuck“, die mit einem unverschämt melodischen Mitsing-Refrain verzaubert, ändern nichts am ersten Eindruck, dass ALKALOID auf ihrem dritten Album endlich ihren Weg gefunden haben. Ihr komplexes Songwriting hört sich natürlich noch immer nach komplexen Songwriting an, allerdings nun mit Struktur, Geradlinigkeit und, wer hätte es ALKALOID zugetraut, viel Melodik in den einzelnen Motiven und im Gesang.
Mit „Fungi From Yuggoth“ schließen die Bayern nicht nur die erste Hälfe ihres Albums, sondern unterstreichen einmal mehr, dass das Abgedrehteste an „Numen“ überraschenderweise nicht die Musik ist (Hinweis: es schreibt ein Prog-Death-Fan für Prog-Death-Fans, bezeichnest du dich selbst nicht als solches, ist „Numen“ vermutlich eine knallharte Herausforderung), sondern die darauf besungene Geschichte.
Songwriter Maier versucht auf „Numen“ , das Universum aus einer Art Metaperspektive eines imaginären Gottes zu betrachten, als Beobachter und Gestalter von allem, was geschieht. Mit einer ausgeprägten Vorliebe für Naturwissenschaften ist das Inhaltliche der Platte beinah schon herausfordernder als die Musik, aber eben nur fast.
Obwohl sich ALKALOID auf dem Titeltrack zum Ende hin etwas verlieren und „Recursion“ aufgrund seiner irritierenden Verspieltheit lieber auf „Liquid Anatomy“ hätte landen sollen, ist auf der zweiten Hälfte nur bedingt ein Leistungsverlust feststellbar. Stattdessen nimmt das Quintett das Gas vom Pedal und gibt seinen Songs mehr Raum für länger ausgespielte Motive. Im direkten Vergleich zu den ersten Tracks der Platte ist dieses stimmungsändernde Element keine Verschlechterung, sondern nur der Teil einer Geschichte, die ruhiger erzählt wird. Passenderweise beginnt auch der letzte Track „Alpha Aur“, mit knapp 14 Minuten Spielzeit der längste Song des Albums, mit einem zurückhaltenden Duett von Gitarre und Gesang und wird im weiteren Verlauf von schleppenden Riffs und Mid-Tempo-Passagen getragen.
Nach 70 Minuten detailreichen, aber nicht die Sinne überflutenden Prog-Death-Metal lassen ALKALOID ihre Hörer so zurück, wie es die Hörer selbst nicht erahnt haben, nämlich verdutzt. Wer sich von „Numen“ ein zweites „Liquid Anatomy“ erhoffte, wird ebenso enttäuscht werden wie Genre-Puristen, die zu viel Geradlinigkeit im Prog-Death als nicht herausfordernd genug bezeichnen.
Mit ihrem dritten Album haben sich die Herren nicht neu erfunden, sondern haben ihr Spiel von überflüssigen instrumentalen Machtdemonstrationen bereinigt, wodurch Songs mit Struktur und Eingängigkeit, mit einem erinnerungswürdigen Charakter entstanden sind. „Numen“ ist einnehmend und erbaulich, anspruchsvoll und dennoch angenehm komfortabel. Und dadurch tatsächlich ein Album-des-Jahres-Anwärter im Bereich des Prog-Death-Metal.
Wertung: 9 / 10