Die menschliche Kulturgeschichte ist voll von unvergesslichen Liebespaaren. Seit der Antike begeistern Apuleius‘ Amor und Psycho die Phantasie von Generationen. Ihnen gleich kommen allenfalls die altehrwürdig-tragischen Briten Romeo und Julia, die effektiv und umschmachtet ihren herzzerreißenden Tod sterben. In jüngerer Vergangenheit wiederum verfiel ein hochgewachsener Niederländer namens Arjen Lucassen einem analogen Moog-Synthesizer. Wo die Liebe hinfällt. Seitdem gibt sich das Paar freudig und fruchtbar der Zeugung hin und gebiert beinahe im Jahrestakt eine mittlerweile stattliche Anzahl an musikalischen Kindern unter verschiedenen Namen und von Mutter Natur mit verschiedenen Konstitutionen ausgestattet. Da gibt es feiste Wonneproppen, die von allem nicht genug bekommen können (Ayreon), aber auch schlanke Weltraumkrieger, die den Wunsch des Paares nach Dynamik ausdrücken (Space One). Dazwischen gibt es immer mal wieder Ausreißer und Einzelkinder, je nachdem, wie Arjen und Ms. Moog gerade lustig sind. Das überschauen mittlerweile nur noch Experten, doch Fakt ist, dass bisher noch jedes Kind des Paares irgendwas liebreizendes an sich hatte.
„Nun Herr Doktor: Was ist es denn diesmal geworden?“ „Ich weiß es nicht, Schwester, aber es trägt ein Hawaiihemd und irgendwie riecht es hier nach Alkohol!“ Arjen Lucassen’s SUPERSONIC REVOLUTION hat keine Storyline, keine 78 Gastsänger und keinen Anspruch auf höhere Originalität: Dieses Baby feiert einfach nur den Rock den 70er. Nicht als Kopie, sondern als modernisierte Reminiszenz in hunderten Zitaten und mit ganz viel Spielfreude. Gut so!
Lucassen wollte einmal wieder einfach eine Band haben und hat sich diesmal auf eine einzige, tragende Stimme verlassen, anstatt mit einer Vielzahl von Gastsängern zu operieren. Jaycee Cujppers erweist sich hier als Glücksfall: Der Mann hat eine facettenreiche, kraftvolle und charismatische Röhre, die nicht langweilig wird (seine Interpretation des Ayreon-Klassikers „Dawn Of A Million Souls“ auf der fulminanten Live-DVD „Ayreon Universe“ ist Empfehlung genug). Dazu geht Herr Lucassen selbst an den Bass und überlässt die geliebten Tasteninstrumente seinem langjährigen Keyboarder Joost van den Broek. Liebe heißt auch Vertrauen. Musikalisch wird der Hörer allerdings auf die falsche Fährte gelockt: Obwohl der Opener die große „Glam Attack“ angekündigt wird, sind die Referenzpunkte doch viel früher anzusetzen. Lucassens Haupteinflüsse Emerson, Lake and Palmer, das ELO, und vor allem ganz viel Deep Purple und Rainbow. Man kommt nicht umhin, sich bei „The Rise of The Starman“ vorzustellen, wie dieses wohl mit Dio geklungen hätte. Und Deep Purple wird in „Burn It down“ ziemlich explizit gehuldigt, indem die berühmte Story von „Smoke On The Water“ einfach aus der gegenteiligen Perspektive erzählt wird. Der Rest ist heiteres Zitate-Raten, umringt von massivem Hammondorgel-Einsatz.
Um damit kommen wir zum Grund, warum dieses Neugeborene nicht im ganz großen Sandkasten bei seinen Brüdern spielen darf sondern irgendwann mal zum Jugendpsychiater in die Burn-Out-Sprechstunde gehen wird: Denn so wie musikhistorisch völlig korrekt der Rock der 70er und 80er sich irgendwann in völlig ausladenden Mega-Stadienkonzepten und stundenlangen Improvisationen verlor, so scheitern auch SUPERSONIC REVOLUTION an der kindlichen Freude am Dauer-Hammond-Geklimper, am Mangel an Fokus auf den Song und schlicht am Fehlen der einen oder anderen Übermelodie, die die Fäuste zur Decke zwingt („Golden Age Of Music“, der Titeltrack, steht da ziemlich allein). Irgendwann wird es einfach anstrengend und zu wenig bleibt im Kopf zurück, nachdem der augenzwinkernde Rausschmeißer „Came To Mock, Stayed To Rock“ noch einmal alle pubertären Rock-Träume aufgezählt hat. Das mag bei einem anspruchsvollen Prog-Album mit vierhundertsiebzig Unterabteilungen in Ordnung sein, ein Album, auf dessen Cover langhaarige Männer in bunten Hemden über Wolken fliegen, hätte sich selbst etwas lockerer machen können. Die angefügten Coverversionen großer Klassiker wie „Children Of The Revolution“ (T-Rex. War je ein Bandname mehr Metal?) oder „Fantasy“ (Earth, Wind and Fire) machen vor, wie es geht.
Dass seit den 70ern aber bereits wieder 50 Jahre vergangen sind, hört man den Riffs und den Drums an. So hat damals niemand gerifft und getrommelt; die musikalische Evolution lässt sich nicht verbergen und soll es auch nicht. Zumal die moderne Produktion gerade an den Drums eindeutig ist und alles unzweifelhaft nach dem klassischen Lucassen-Sound klingt. Man muss sich nur alte Aufnahmen beispielsweise von Creams „White Room“ anhören, um zu merken, wie weit entfernt der Sound eines Ginger Baker von dem heute gewohnten ist. So bleibt Lucassens neuestes Baby unterm Strich eine moderne, sehr liebevolle Reminiszenz an die „gute, alte Zeit“, die aber leider nicht ganz so sehr im Ohr kleben bleibt, als dass sie die nächsten 50 Jahre einfach so überdauert. Spaß macht es trotzdem und die Eltern sind wohlauf. Hach, die Liebe!
Wertung: 7 / 10