Interview mit Anne K. O'Neill von Serpentent

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Es kommt nicht alle Tage vor, dass man ein derart ambitioniertes und seinen Ansprüchen voll und ganz gerecht werdendes Debütalbum wie „Ancient Tomes, Volume I: Mother Of Light“ zu hören bekommt. Obwohl Solokünstlerin Anne K. O’Neill in ihren philosophisch inspirierten, ausladenden, einfallsreichen und feinfühlig produzierten Stücken hauptsächlich mit den Mitteln des Neofolk arbeitet, ist ihr Projekt SERPENTENT bei weitem zu freigeistig für eine eindeutige Kategorisierung. Wie O’Neill von ihrer Familie musikalisch sozialisiert wurde, weshalb auf dem ersten Album der US-Amerikanerin ukrainischer Chorgesang und deutsche Gedichte zu hören sind und weshalb sie ein ambivalentes Verhältnis zur kontroversiellen Geschichte des Neofolk-Genres hat, erläutert die Alleingängerin ausführlich im folgenden Interview.

 

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Ich finde, man merkt deinen bisherigen Veröffentlichungen an, dass du ein großer Musikfan bist – deine Musik ist sehr stilsicher und du hast auch schon einige Coversongs herausgebracht. Kannst du uns schildern, wie sich deine Liebe zur Musik entwickelt hat?
Das ist ein fantastisches Kompliment, vielen Dank dafür. Mein Interesse an der Musik hat sich ein Leben lang entwickelt, da meine Familie unglaublich musikalisch veranlagt ist. Meine Mutter und mein Vater haben beide eine wunderbare Gesangsstimme, sie haben beide Flöte gespielt, als sie jünger waren, mein Vater war für eine kurze Zeit Schlagzeuger und meine Mutter ist Pianistin. Außerdem gehört es zu meinen ersten Erinnerungen, auf den Füßen meines Vaters zu stehen und dabei zu Bands wie Roxy Music und Rush zu tanzen. Ich habe auch viel Zeit im Haus meiner Großmutter verbracht, die eine fantastische Pianistin und Opernsängerin war. Sie hatte eine Reihe von Schlaginstrumenten, die sie mir gab, und wir haben manchmal zusammen Musik gemacht. Ich fand, dass sie ein wirklich wunderbarer Mensch war, und ich wollte so sein wie sie, wenn ich erwachsen bin. Das sind die wichtigsten Dinge, die mich auf den Weg gebracht haben, auf dem ich jetzt bin. Es gibt eigentlich keinen Moment, an den ich mich erinnern kann, in dem die Musik nicht eine große Rolle in meinem Leben gespielt hat oder spielt.

Du stehst bei Svart Records, einem zu einem großen Teil auf Metal fokussierten Label, unter Vertrag und in deiner Musik kommen mitunter auch kräftige Distortion-Gitarren zum Einsatz. Welchen Bezug hast du persönlich zu Metal?
Ich habe ein paar ältere Brüder, die auch Musikliebhaber sind, und als ich sieben Jahre alt war, kam einer von ihnen eines Tages mit einer Metallica-Kassette – „Ride The Lightning“ – nach Hause, die er in einem Plattenladen in der Nähe seiner Schule gekauft hatte. Ich werde nie vergessen, wie ich dieses Album hörte. Es war das schnellste und intensivste, was ich zu diesem Zeitpunkt je gehört hatte, und ich war süchtig danach. Das soll nicht heißen, dass ich als Kind ausschließlich Metal gehört habe, und das ist auch heute noch nicht der Fall, aber es ist etwas, das mich anspricht, und ein großer Teil meiner Platten und Kassetten sind Metal-Alben. Mit 13 habe ich angefangen, auf Konzerte zu gehen, und seitdem bin ich mehr oder weniger stark in die Metal- und verschiedene andere Underground-Szenen involviert. Infolgedessen war ich als Roadie für verschiedene Metal-Bands auf Tour. Da ich ein visueller Künstler bin, wurde ich auch beauftragt, mehrere Albumcover zu zeichnen und zu malen. Ich habe an einigen Veröffentlichungen mitgewirkt und so gibt es einige Platten, auf denen mein Gesang zu hören ist. Außerdem habe ich derzeit ein Black/Doom-Soloprojekt, an dem ich arbeite. Es war schon lange ein Traum von mir, dies zu tun, aber es hat einfach eine Weile gedauert, bis ich alle Werkzeuge zusammen hatte, die ich dafür brauchte.

Serpentent - Ancient Tomes Volume I Mother Of Light CoverBereits dein Debütalbum „Ancient Tomes, Volume I: Mother Of Light“ klingt bezüglich Performance und Sound bemerkenswert professionell. Bitte schildere uns, wie es sich ergeben hat, dass du selbst kreativ tätig wurdest, und wie du deine Fertigkeiten verfeinert hast.
Was die kreative Tätigkeit angeht, so war das ein ziemlicher Prozess. Ich habe mir im Alter von fünf oder sechs Jahren das Klavierspielen nach dem Gehör beigebracht, mit 17 Jahren die Gitarre und mit 26 Jahren das Schlagzeug. In der sechsten Klasse lernte ich in der Schule im Bandunterricht Flöte spielen und Noten lesen. Ich habe zwei Jahre lang im Schulchor gesungen, aber einige der Stücke, die wir singen mussten, entsprachen nicht gerade meiner Rocker-Sensibilität, sodass ich in der achten Klasse aufhörte, an diesem Kurs teilzunehmen. Stattdessen fing ich einfach an, zuhause zu singen, wenn sonst niemand da war. Obwohl ich seit meinem zehnten Lebensjahr immer davon geträumt hatte, in einer Rockband zu spielen, war das Musizieren etwas, das ich im Allgemeinen privat machte. Später, als Erwachsene, ging ich in die Stadtbibliothek von Seattle, nur um auf den Klavieren zu spielen, die man dort stundenweise reservieren konnte. Ich hatte auch eine superbillige Ibanez-E-Gitarre, die ich einem Freund für 50 Dollar abgekauft hatte und die ich in meinem Schlafzimmer spielte. Während dieser Zeit schrieb ich ständig Songs, war aber zugegebenermaßen zu schüchtern, um sie mit der Welt zu teilen. Im Jahr 2012 wurde ich in meine erste Band, Hexane, eingeladen, nachdem ein paar Freunde mich eines Abends beim Karaoke singen gehört hatten. Das ist für viele Menschen, die gerne singen, kein ungewöhnliches Szenario: Ich habe ein paar Lieder gesungen, und meine Freunde sagten: „Oh wow! Wir hatten keine Ahnung, dass du so singen kannst!“. Und das war der Anfang meines Einstiegs in die Musikwelt. Nachdem sich die Gruppe, der ich beitrat, schließlich auflöste, machte ich eine ziemlich harte Zeit durch. Ich hatte einen Fahrradunfall, der mich fast umgebracht hätte, zwei Menschen, die ich sehr liebte, starben, und ich musste ein Ventil für all die Gefühle finden, die mit Verlust und Trauer einhergehen. Das führte auch dazu, dass ich mich in viele philosophische Bücher vertiefte, die ich lese, wenn ich das Bedürfnis habe, mir einen Reim auf die Welt zu machen. Wie nicht anders zu erwarten, hat die Nahtoderfahrung dazu beigetragen, dass ich meine Prioritäten neu überdacht habe. Ich stamme nicht aus einer wohlhabenden Familie und in meinen 20ern war ich finanziell mittellos, sodass meine Möglichkeiten begrenzt waren. Ich fing an, so viel wie möglich zu arbeiten, manchmal 60-Stunden-Wochen, während ich in drei verschiedenen Jobs arbeitete, damit ich anfangen konnte, mir anständiges Equipment zu kaufen. Sobald ich die Dinge, die ich brauchte, erworben hatte, fing ich an, mehr Songs zu schreiben, von denen viele aufgrund dessen, was ich erlebte und las, philosophischer Natur waren, und ich habe seitdem nicht mehr aufgehört. Es war eine allmähliche Entwicklung, auf die ich angesichts all der Hindernisse, die ich überwinden konnte, stolz bin. Ich bin immer davon begeistert, Klänge zu erforschen und zu sehen, was ich als Nächstes erfinden kann, und das ist es, was mich heute hierher bringt.

Was war für dich die größte Schwierigkeit bei der Entstehung des Albums?
Wie bei der Karaoke-Geschichte handelt es sich auch hier nicht um eine außergewöhnliche Anekdote. Die Pandemie erwies sich als großes Hindernis für die meisten Dinge, so auch für den gesamten Prozess der Verwirklichung von „Mother Of Light“. Die Aufnahmen begannen im September 2019, kurz bevor ich von Seattle nach Oakland, CA, zog. Der Plan war, dass ich im März 2020 nach Seattle zurückkommen würde, um die Aufnahmen zu beenden. Aber wir alle wissen, was im März 2020 passiert ist, und es gab natürlich eine Menge Rückschläge von da an. Als die Aufnahmen beendet waren, alles abgemischt und gemastert war und die Platte gepresst wurde, waren zwei weitere Jahre vergangen und ich war schon wieder nach Seattle gezogen. Aber hey, man sagt ja, dass die guten Dinge zu denen kommen, die warten, und ich könnte wirklich nicht zufriedener damit sein, wie diese Platte herausgekommen ist.

Auf deinem ersten Album spielst du in erster Linie Neofolk. Was hat dich gerade zu dieser Musikrichtung hingezogen?
Für mich ist mein größter Einfluss aus der Neofolk-Welt Current 93. Mein Sound und meine Herangehensweise unterscheiden sich zwar stark von David Tibets, aber ich mag das getragene, poetische Gefühl seiner Arbeit sehr, und das ist es, was mich zu diesem Genre hingezogen hat. Ich bin auch ein Fan von Industrial-Musik, daher haben mich die Verbindungen zu und Einflüsse aus diesem Bereich auch sehr angesprochen. Was den Stil selbst angeht, so gibt es immer Raum für Erweiterungen. Man kann einen Song mit drei oder vier Akkorden spielen, aber es gibt Raum, um viele Schichten hinzuzufügen, wenn man will. Songs, die ohne Begleitung auskommen, sich aber gut für eine Begleitung eignen… Das reizt mich als Singer/Songwriterin sehr, zumal ich gerne die Möglichkeit habe, solo oder mit einer kompletten Band zu spielen. Letztendlich wollte ich also melancholische Lieder über die menschliche Natur und Verlust schreiben, mit einer starken Betonung auf der Liebe. Dennoch möchte ich betonen, dass ich SERPENTENT nicht als „Neofolk“-Projekt betrachte. Wenn ich mich für ein Genre entscheiden müsste – und ich möchte mich nicht in eine Schublade stecken lassen – dann macht es für mich am meisten Sinn, es „Dark Folk“ zu nennen, weil ich seit Jahrzehnten mit Metal, Punk, Industrial, Rock und Goth Rock zu tun habe, und all das wirkt sich direkt auf den Ton und die Themen der Folkmusik aus, die ich schreibe.

Serpentent FotoNeofolk ist ein überaus kontroverses Genre – viele der stilprägenden Bands haben mit rechtsextremer Symbolik provoziert und Kritik daran mit fadenscheinigen Erklärungen abgetan. Wie stehst du zu den fragwürdigen Aspekten des Genres?
In Anbetracht des sensiblen Charakters dieses Themas halte ich es für wichtig, zunächst zu betonen, dass ich weder rechtsextrem bin, noch Faschismus gutheiße. Ich denke, dass es sich um ein komplexes Thema handelt, sodass der Versuch, eine Meinung in einem kurzen Interview zusammenzufassen, einschüchternd ist, da ich das Gefühl habe, dass dieses Thema eine ganze Dissertation rechtfertigt. Mit all dem im Hinterkopf denke ich ausgehend von meinen Beobachtungen, dass ein Teil der rechtsextremen Symbolik ursprünglich aus dem Punk-Ansatz aus dem Jahr 1977 hervorgegangen zu sein scheint. Es war die nächste „extreme“ und anstößige Sache, die man tun konnte, um die Leute aufzurütteln. Im Internet lassen sich leicht Fotos von Siouxsie Sioux und Sid Vicious finden, die Hakenkreuze auf ihrer Kleidung tragen, und soweit ich weiß, wurden die Banshees und die Sex Pistols nicht gecancelt. Ich will das nicht entschuldigen, aber ich denke, es ist eine Erklärung. Viele der Leute, die aus der Punkszene der späten 70er Jahre hervorgingen und von denen einige auch Teil der frühen Neofolk-Szene waren, waren im Grunde genommen die ersten „Edgelords“, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Und ich habe noch nie einen Edgelord kennengelernt, der sich nicht noch mehr in die Nesseln gesetzt hat, wenn man nicht mit ihm übereinstimmte oder ihn herausforderte, also vermute ich, dass das ein Teil des Problems ist. Allerdings kann ich nicht sagen, dass es so einfach ist, und ich habe keinen Zweifel, dass einige dieser Neofolk-Typen tatsächlich Faschisten sind. Derweil scheinen einige von ihnen einfach Spaß daran zu haben, mit Kontroversen und Zweideutigkeiten zu kokettieren. In diesem Zusammenhang finde ich es höchst pubertär und manipulativ, wenn man absichtlich versucht, einen Nerv zu treffen, um eine Reaktion zu erhalten, und dann in die Defensive geht, wenn man die erwartete Reaktion erhält. Wie den meisten von uns bewusst zu sein scheint, steht nirgendwo im Bereich der Meinungsfreiheit, dass man alles akzeptieren muss, was gesagt oder künstlerisch geschaffen wird. Zumindest GG Allin, The Mentors und ähnliche Bands haben diese Realität verstanden. Sie erregten die Gemüter und freuten sich darüber, verachtet zu werden. Nicht, dass ich ein Fan von ihnen wäre, aber zumindest waren sie sich dessen bewusst, wussten, dass es Konsequenzen haben würde, und es war ihnen einfach egal. Außerdem haben andere Leute offen über ihre schmutzige Vergangenheit gesprochen und ihre früheren Überzeugungen widerrufen, während andere behaupten können, sie hätten nie etwas mit Faschismus oder der extremen Rechten zu tun gehabt. Extreme Musik zieht „extreme“ Menschen an. Manchmal ist das eine tolle Sache, manchmal ist es höchst problematisch. Und je länger ich dabei bin, desto mehr kann es mich nicht mehr schockieren, wenn ich auf solche Leute treffe, die problematisch sind. Ich bin nicht glücklich darüber, es ist absolut enttäuschend, aber ich habe festgestellt, dass es unvermeidlich ist. Bei jedem Musikgenre, jeder Kunstform gibt es immer eine gemischte Gruppe. Es lässt sich nicht bestreiten, dass es auf der Welt ein paar Harvey Weinsteins, Bill Cosbys, Vargs, Chris Browns, Scott Kellys gibt… Picasso war ein Womanizer, der sich afrikanische Kunst angeeignet hat, Dali war angeblich ein Sympathisant der Faschisten, Guaguin war ein Vergewaltiger, Eric Clapton ist ein Rassist, zahllose Rockstars aus den 70er Jahren schliefen mit minderjährigen Mädchen, und die Liste ließe sich viel zu lange fortsetzen. Ich will damit sagen, dass Korruption, Bigotterie, Rassismus und Frauenfeindlichkeit allgegenwärtig sind, und alles, was wir tun können, ist zu versuchen, sie zu sortieren und die „Guten“ sozusagen zu finden.

Inwiefern hat sich die Stilrichtung aus deiner Sicht seit ihren dubiosen Anfängen entwickelt?
Ich denke, der Stil hat sich musikalisch in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt. Es scheint eine Handvoll Projekte zu geben, die mehr Pop-, Post-Punk- und/oder Alternative-Elemente einbeziehen. Es gibt aber auch einige Projekte, die eher dem Folk zuzurechnen sind, die aber immer noch irgendwie in diese Kategorie fallen. Was die Thematik angeht, so gibt es immer mehr Leute, die einige Elemente des Neofolk erforschen und dabei bewusst nicht faschistisch/rechtslastig sind. Ich denke, dass Folklore, Heidentum, Okkultismus und verschiedene andere Themen, die auf tragische Weise von ein paar schwarzen Schafen vereinnahmt wurden, erforscht werden können und sollten, ohne dass dies als etwas politisch Ruchloses angesehen wird. Im Spätkapitalismus wird die Welt immer homogener und ich glaube, viele Menschen hungern nach Kultur, nach den Ritualen, die üblich waren, bevor Christen/Missionare/Kolonisatoren die Menschen zwangen, sie nicht mehr zu praktizieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Trennung von unserer Vergangenheit, von unseren Vorfahren, voneinander und von der Erde zusammenfällt, und ich bin froh, dass es Menschen gibt, die sich auf diesem Gebiet bewegen wollen und dabei begreifen, dass es der Kolonialismus ist, der uns alle an diesen Ort der Distanziertheit gebracht hat. Ich glaube, dass wir eine Einheit finden können, wenn wir das, was verloren gegangen ist, zurückgewinnen.

Deine Songs sind an den Gepflogenheiten des Genres gemessen außergewöhnlich lang. Was hat dich dazu inspiriert, ausladendere Lieder zu schreiben?
Ich liebe klassische Musik, Prog und Krautrock. Weniger vorhersehbare Strukturen, ungerade Taktarten, Variationen von Themen, usw… All das hat mich von dem Moment an, als ich diese Genres hörte, magisch angezogen. Yes war eine der ersten Bands (von vielen, die noch folgen sollten), die mich dazu brachte, Songs zu schreiben, die die Musiksätze klassischer Stücke nachahmen. Aber wenn ich einen Song schreiben will, denke ich nicht unbedingt: „Ich will heute einen elf Minuten langen Song schreiben“. Ich lasse es organisch passieren und wenn es dann passiert, genieße ich den Prozess sehr.

Wie stehst du dazu, wenn man deine Musik mit jener anderer Kunstschaffender vergleicht – fasst du solche Assoziationen als Kompliment auf oder siehst du dadurch die Einzigartigkeit deines Ausdrucks verkannt?
Ich betrachte die meisten Vergleiche als Kompliment, weil ich denke, dass ein Vergleich im Allgemeinen die zugänglichste Art und Weise ist, mit der die Leute zum Ausdruck bringen, dass sie deine Arbeit schätzen. Es sei denn, jemand benutzt den Vergleich als Beleidigung (lacht), was zum Glück noch nicht vorgekommen ist. Abgesehen davon bin ich normalerweise nicht stolz auf Assoziationen, weil ich nicht danach strebe, wie eine bestimmte Sache oder Person zu klingen. Allerdings habe ich eine Rezension gelesen, in der das Klavier in „Mother Of Light“ mit etwas verglichen wurde, das Popol Vuh geschrieben hätte, und das hat mich begeistert, weil ich diese Band verehre. Mir ist aufgefallen, dass die Leute in einigen Rezensionen die subtileren psychedelischen und meditativen Elemente einiger dieser Songs nicht zu bemerken oder zu schätzen scheinen, sodass ich ein Gefühl der Befriedigung verspüre, wenn jemand meine obskuren Einflüsse aufgreift. Es gibt auch ein paar Vergleiche, die ich nicht sonderlich mag, und zwar aus keinem anderen Grund als dem, dass ich die Ähnlichkeiten nicht sehe und sie an dem vorbeigehen, was ich zu tun versuche. Dennoch verstehe ich, dass die Leute einfach nur Parallelen ziehen wollen und sagen, dass ich etwas mache, das sie an etwas erinnert, das sie mögen, was ich wirklich zu schätzen weiß.

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Der Titel „Ancient Tomes, Volume I: Mother Of Light“ legt nahe, dass es sich um ein Konzeptalbum handelt. Die Texte scheinen jedoch vielseitig deutbar zu sein. Kannst du ein wenig darauf eingehen, worum es darin geht?
Die Texte sind absichtlich offen für viele Interpretationen. Wenn ich Songs schreibe, sehe ich sie in der Regel als eine Möglichkeit, Szenarien, Realitäten und/oder Emotionen zu erforschen, die alle Menschen erleben. Obwohl ich natürlich ein Teil dieser Gleichung bin, weil ich lebe und dieselbe Bandbreite an Emotionen erlebe wie alle anderen auch, neige ich dazu, philosophischer zu sein und die Dinge weniger auf mich als vielmehr auf „uns“, also die Menschheit im Allgemeinen, zu beziehen. Die Texte fügen sich in eine Novelle ein, die ich für die gesamte Serie/Trilogie schreibe. Sowohl die Texte als auch die Themen der einzelnen Lieder beziehen sich auf die Erzählung, in der es um den Tod des Todes geht. Jeder „Band“ steht für eine Phase innerhalb dieses Zyklus von Ursache und Wirkung.

Kannst du bereits etwas über die zu erwartende Fortsetzung verraten? Wird es vielleicht sogar mehrere geben?
Die „Mutter des Lichts“ als Wesenheit ist der Tod, und ich bezeichne den Tod als „Mutter des Lichts“, weil ich verschiedene philosophische Paradoxien und kognitive Dissonanzen untersuche. Diese erste Episode, oder dieser erste Band, handelt vom Sterben des Todes. Das zweite Album heißt „Loam“ und handelt davon, wie es nach dem Tod weitergeht. Der letzte Band, „Ophidia“, wird den Abschluss der Geschichte bilden. Die Absicht hinter der Trilogie ist es, die menschliche Natur, Technologie und die langfristigen Auswirkungen der globalen Kolonisierung auf den Planeten sowie den menschlichen Geist und die Psyche zu untersuchen. Die Ideen sind weitgehend von Albert Camus, Georges Bataille, Carl Jung und Jiddu Krishnamurti inspiriert. Es gibt noch mehr, was ich gerne sagen würde, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich viel mehr verraten kann, ohne zu spoilern, also hoffe ich, dass diese Antwort für den Moment ausreicht.

„Ой, ти місяцю“ sticht im Album mit seinem slawischen Frauenchorgesang sehr deutlich hervor. Was hat es mit diesem doch recht sonderbaren A-cappella-Stück auf sich?
„Mother Of Light“ ist insofern komplex, als es stark mit Bedeutung und Absicht aufgeladen ist. Wie ich bereits erwähnt habe, lasse ich meine eigenen Erfahrungen einfließen, und so finden sich in der Platte einige Anspielungen auf meine beiden Großmütter. Beide haben mich mein ganzes Leben lang stark beeinflusst, und beide sind nicht mehr da, also wollte ich ihnen auf meine Weise Tribut zollen. Die Mutter meines Vaters stammte aus der Ukraine, und ihre Geschichte hat eine große Rolle dabei gespielt, wie ich mich in der Welt bewege. Als ich ein kleines Mädchen war, erfuhr ich, dass sie erst 17 Jahre alt war, als die Nazis in Kiew einmarschierten und ihre Familie dabei getötet wurde. Es gelang ihr, zu fliehen, und sie wurde Krankenschwester bei den Alliierten. Einige Jahre später lernte sie meinen Großvater kennen, der in der US-Armee in Deutschland diente. Also dachte ich, ich könnte etwas finden, um sie und diesen Teil meiner Person zu ehren, von dem ich leider so wenig weiß. Ich denke oft darüber nach, wie der Krieg Familien auseinanderreißen kann und wie viele von uns überhaupt nichts über mögliche entfernte Verwandte oder die Orte, zu denen wir eine Verbindung haben, wissen. Auf jeden Fall ist das Stück nur als eine Art Zwischenspiel gedacht. Es ist in der Mitte des Albums zu hören, ist vergleichsweise kurz, aber auch der Klang des Stücks ist ein Synonym für etwas „Altes“, wie der Titel der Trilogie besagt. Ich fand die Aufnahme im Internet und nahm Kontakt zu dem Mann auf, der sie aufgenommen hatte. Ich fand heraus, dass er ältere Menschen in Dörfern in der ganzen Ukraine beim Singen alter ukrainischer Volkslieder aufgenommen hatte, weil er dazu beitragen wollte, sie zu erhalten, da das Interesse an solchen Dingen in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Da ich mich mit dem Tod von Dingen aus der vormodernen Welt auseinandersetze, erschien mir das Lied umso passender, um es aufzunehmen.

Serpentent FotoDabei handelt es sich jedoch nicht um den einzigen fremdsprachigen Track der Platte. In „Sonette an Orpheus: IV“ hört man zu Beginn ein Sample in deutscher Sprache und du selbst singst in weiterer Folge auf Deutsch. Welche Überlegung steckt dahinter?
Das Sample am Anfang ist meines Wissens nach die einzige bekannte Aufnahme von Rainer Maria Rilke, in der er sein Gedicht „Der Panther“ rezitiert. Das darauffolgende Lied ist das vierte Sonett aus seinem Buch „Sonette an Orpheus“. Ich habe diese Gedichte verwendet, weil ich Rilke bewundere, sowohl als Mensch als auch als Schriftsteller. Außerdem habe ich eines Tages die „Sonette an Orpheus“ laut gelesen, um das Lesen/Sprechen der deutschen Sprache zu üben, und irgendetwas an diesem vierten Gedicht hat mich beeindruckt, ohne dass ich genau wusste, was ich las, da ich noch nicht fließend spreche. Als ich die Übersetzung las, beschloss ich, dass ich das Gedicht als Text für ein Lied verwenden wollte. Die Gedichte selbst spiegeln viel von dem inneren Aufruhr in den Gedanken des Todes wider, während sie im Sterben liegt und über die Vergangenheit nachdenkt, aber auch über ihren Versuch, das Geschehene zu akzeptieren. Ich wollte auch etwas auf Deutsch finden, als Anspielung auf meine andere Großmutter, deren Vater aus Deutschland stammte. Sie sprach sehr gut Deutsch, und ich bin damit aufgewachsen und habe es oft gehört. Ich kannte also schon immer ein paar Brocken, aber ich habe die Sprache in den letzten Jahren nach und nach gelernt, weil ich eine begeisterte Sprachenliebhaberin bin und hoffe, eines Tages polyglott zu sein.

Das Album klingt über weite Strecken sehr bedrückend, aber man hört auch immer wieder Hoffnungsschimmer heraus. Insbesondere der Abschlusstrack „Rise & Fall“ erscheint durchaus ermutigend. War es dir beim Songwriting ein Anliegen, im Zuge des Albums verschiedene Gefühlslagen abzudecken?
Die Absicht war, dass das Album eine gewisse Dynamik aufweist. Das Thema ist nicht besonders optimistisch, aber ich glaube fest daran, dass man ein gewisses Gleichgewicht schaffen sollte. Ich denke, um Dualitäten und Paradoxien zu erforschen, muss man von allem ein bisschen haben. Außerdem habe ich in der Schule bei der Lektüre von Shakespeare gelernt, dass selbst Shakespeare in seine Tragödien ein paar Witze eingebaut hat. Natürlich mache ich auf dem Album keine Witze, aber ich versuche darauf zu achten, wie wichtig es ist, die mögliche Monotonie zu durchbrechen, wenn ich schwere Konzepte und Ideen vermittle. Außerdem bin ich ein Fan von Vorausdeutungen, und so gibt es im letzten Stück eine Andeutung davon. Obwohl die Hoffnung, die man dort entdeckt, sich vielleicht nicht so zeigt, wie man es vielleicht erwartet.

Was hast du als Nächstes mit SERPENTENT vor?
Ich habe den größten Teil des zweiten Albums geschrieben. Ich arbeite allerdings noch an ein paar Anpassungen, da sich meine Vision ein wenig verändert hat. Aber irgendwann im nächsten Frühjahr hoffe ich, es aufnehmen zu können. Außerdem wurde ich für das nächste Jahr zu einem Künstleraufenthalt in Berlin zugelassen, worauf ich mich sehr freue, da ich dort an den Artworks und der Videografie für das Album arbeiten werde. Es stehen auch ein paar Konzerte an, aber einige sind noch nicht angekündigt, so dass ich sie noch nicht verraten kann. Ich kann aber sagen, dass ich mich sehr darauf freue, am 26. Oktober mit Kælan Mikla und Kanga in der Clockout Lounge in Seattle zu spielen.

Zum Abschluss noch ein kurzes Brainstorming. An was denkst du als erstes bei den folgenden Schlagworten?
Prophecy Productions: Bethlehem
Mainstream: Generisch
Cover-Versionen: Ich bin generell ein Fan. Ich schätze es, denen zu huldigen, die uns inspirieren.
Künstlerische Identität: Kann authentisch erreicht werden, wenn man sich selbst treu bleibt.
Romantik: Eine entscheidende Bewegung im Fahrwasser der industriellen Revolution.
Leiden und Kunst: Sie müssen nicht miteinander verbunden sein, das eine ist nicht notwendig für das andere, aber Kunst ist sicherlich kathartisch im Angesicht von Widrigkeiten.

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Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

2 Kommentare zu “Serpentent

  1. Vielen Dank für das tolle Interview!
    Das Album habe ich schon vor einiger Zeit entdeckt und es ist einfach wunderbar.
    Auch die Aussagen von Anne K. O’Neill bzgl. Neofolk sind sehr klar und nachvollziehbar im Vergleich zu vielen Bands dieses Genres.
    Außerdem mal sehr erfrischend, eine Künstlerin zu haben, die nicht nur über ihr Album spricht sondern auch ansonsten eine Menge interessantes zu erzählen hat.
    Freue mich schon jetzt auf Ihr neues Album.

    1. Hi!
      Freut mich sehr, dass das Interview interessant zu lesen ist. Das sehe ich ganz genauso, auch die Aussage zur Antwort bzgl Neofolk kann ich genauso unterschreiben. Es ist immer schön, wenn man Künstler*innen anmerkt, dass man ihnen die richtigen Fragen gestellt hat und sich daraus ein interessantes Gespräch ergibt. Ich bin ebenfalls sehr gespannt darauf, was man von Serpentent noch zu hören bekommen wird. :)

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