Schaut man in die Metal Archive, um sich einen Überblick über die Anzahl estnischer Bands verschaffen zu wollen, gelangt man zu zwei Erkenntnissen: In Estland wird zum Einen überwiegend Black und Death Metal gespielt, zum Anderen ist die überwältigende Mehrheit an Bands in der Hauptstadt Tallinn angesiedelt. Das trifft auch auf BEYOND THE STRUCTURE zu, die sich allerdings als einzig gelistete Technical-Death-Metal-Band als Exot in der estnischen Metal-Landschaft bezeichnen lassen dürfen. Nachdem das Quartett mit „Nauseating Truth“ vor mehr als acht Jahren debütierte, legen die Estländer mit „Scrutiny“ nun ihr zweites Album vor.
BEYOND THE STRUCTURE wurde 2012 von Gitarrist Artjom Balakshin als ein Quartett bestehend aus ihm, einem Bassisten, Schlagzeuger und Sänger gegründet. Nach einigen lokalen Auftritten veröffentlichte die Band bereits ein Jahr später eine Vier-Track-Demo und absolvierte mehrere Touren in Finnland und Estland. 2014 begannen BEYOND THE STRUCTURE mit der Arbeit an ihrem Debütalbum, welches noch im gleichen Jahr auf den Markt kam. Das allgemeine Feedback zu „Nauseating Truth“ war positiv und ermöglichte es der Band, in ganz Europa zu touren. Im Gegensatz zu der Demo und ihrem Debüt wurde das Songwriting für die 2018 veröffentlichte Vier-Track-EP „Machine Of Progress“ zwischen Gründungsvater Balakshin und dem neu rekrutierten Gitarristen Bartlomiej Kurek aufgeteilt, der einen technischeren und progressiveren Ansatz in den Sound der Band einbrachte.
Ein Jahr später folgte ein umfassender Besetzungswechsel, bei dem der ursprüngliche Bassist durch Yaroslav Luzin und der Schlagzeuger durch Simo Atso ersetzt wurden. Außerdem verließ der zweite Gitarrist Kurek die Band aus persönlichen Gründen. Diese neue Besetzung begann mit den Vorbereitungen für den Nachfolger von „Nauseating Truth“, während der Aufnahmesitzungen wurde allerdings der angestammte Sänger aufgrund musikalischer und persönlicher Differenzen durch Edgar Balabanov ersetzt. Somit ist Gitarrist Balakshin das letzte Überbleibsel aus den Anfangstagen von BEYOND THE STRUCTURE, dürfte über diesen Umstand aber kaum betrübt sein, immerhin darf seine Band das junge Schlagzeugtalent Atso, übrigens der Sohn vom ehemaligen Metsatöll-Drummer Mark Atso, sein Eigen nennen.
„Scrutiny“ hat aufgrund des Besetzungswechsels keinen hörbaren Schaden davon getragen, im Gegenteil, der technische Ansatz von „Machine Of Progress“ und „Nauseating Truth“ wurde weiter kultiviert. Besonders die Versatzstücke, die einzelnen Motive, werden bei BEYOND THE STRUCTURE stark in Szene gesetzt: Den Opener „Endless Cycles“ dominiert ein schmissiger Lick, aus dessen Abwandlungen ein Großteil des Songs besteht. Die sich überlagernden Soli im Mittelteil von „Portal To Eternity“ sind ebenso stark wie das an das Mittelteil anschließende, ruhige Intermezzo von Schlagzeug und groovender Basslinie. Die klare Orientierung am Spiel von Gitarrist Balakshin, sprich die Unterordnung der anderen Instrumente, wird zwar öfter durchbrochen, beispielsweise im letzten Drittel von „Profanation Of The Non-Existent“, in dem sich Drummer Atso und Bassist Luzin gemeinsam in Rage spielen dürfen, diese Momente kommen auf Albumlänge allerdings etwas zu kurz. Das ist insofern schade, als Schlagzeuger Atso im vertrackten Endstück von „Numerous Existences“ zeigt, wie galant und unterhaltsam er sich durch die einzelnen Motive sprichwörtlich durchschlagen kann.
BEYOND THE STRUCTURE schwächeln leider dann, wenn sie einen Song rifforientiert aufbauen. „Progressors“ ist technisch natürlich einwandfrei, möchte sich aber nicht so richtig in die Gehörgänge einnisten, einfach weil das wiederkehrende Riff belanglos ist. „Worms Of Consumption“ tappt in die gleiche Fall, wird allerdings durch ein starkes Soli von Balakshin aufgewertet. Von den genannten Songs grenzt sich der Schlusstrack „Mass Psychosis“ dank eines beinah epochalen Outros deutlich ab. So atmosphärisch wie in der letzten Minute dieses Songs klingen BEYOND THE STRUCTURE nur an einer weiteren Stelle auf „Scrutiny“, nämlich im Opener „Endless Cycles“. Diese Motivwiederholung und Rahmenbildung zwischen Anfang und Ende ist ein guter Kniff, der eine gewisse Ordnung in ein sonst abstraktes Werk hineinbringt.
Die Kontinent-übergreifende Produktion (aufgenommen in Estland, gemixt in Russland und gemastert in Amerika) verleiht dem zweiten Werk der Esten einen professionellen, trotz der unterschiedlichen Studios homogenen Sound. „Scrutiny“ macht sicherlich besonders den Tech-Death-Fans Spaß, die den klinisch akkuraten Klang von Obscura nicht als Voraussetzung für eine gute Platte definieren und Abstand von der unmenschlichen Schnelligkeit von Archspire nehmen wollen. BEYOND THE STRUCTURE, den Namen sollte man sich als Szenefan merken!
Wertung: 7.5 / 10