Gefühlt gibt es über kaum eine Subkultur so viele Bildbände wie über Punk. Das wäre auch wenig verwunderlich, schließlich machen Punks optisch einfach mehr her als Popper, Schlagerfans oder auch Metalheads. Punks sind Paradiesvögel, optisch wie mental: Kein Outfit ist zu schräg, und peinlich ist hier sowieso niemandem irgendwas. Zumindest nicht vor Freunden. Als solcher begleitete der Kunst- und Fotografiestudent Steve Braun knapp fünf Jahre lang die Nürnberger Punks. Nicht immer nüchtern, aber stets „im Dienst“: Die Kamera immer griffbereit, hatte er seinen Spitznamen „V-Mann“ schnell weg – dafür aber bald ein stattliches Bildarchiv beisammen.
Entsprechend umfangreich (600 Seiten oder beachtliche fünf Zentimeter dick) ist sein „V-Mann“ betitelter Bildband ausgefallen – und entsprechend intim ist die Atmosphäre seiner Bilder. Sofern man bei einem Leben, das sich zu einem nicht unwesentlichen Teil an öffentlichen Plätzen abspielt, grundsätzlich von „intim“ sprechen kann. Zu sehen gibt es überdrehte und zerstörte Typen, schrill ge- oder schamlos entkleidet, Plakatwände, Klos und Undefinierbares. Menschen im Delirium, auf dem besten Wege dorthin oder auf dem harten Weg von dort zurück. Menschen im Pogo, Menschen beim Sex, und immer wieder: Menschen mit Bier. In der Hand, im Haar, im Körper.
Die Analog-Aufnahmen wirken wie zufällig, mal unscharf, mal angeschnitten, mal völlig willkürlich – doch gerade darin liegt ihre Spannung: Hier wird nicht (oder nur selten) porträtiert, hier wird spürbar miterlebt. Egal, was passiert, der „V-Mann“ hält drauf. Das macht nicht jedes Bild automatisch zum Meisterwerk – vermittelt in der Gesamtschau aber ein bemerkenswert starkes Gefühl von „mittendrin statt nur dabei“. Was „V-Mann“ fehlt, ist eigentlich nur noch der Geruch nach altem Schweiß, kaltem Rauch und warmem Bier. Aber eigentlich hat man genau diese Gerüche beim Durchblättern von „V-Mann“ auch so schon in der Nase. Danke dafür, Geruchsgedächtnis!
Begleitet werden seine Bilder von blogpostartigen Beiträgen über Punk im Allgemeinen und in Nürnberg im Speziellen – verfasst vom „asozialen Landesvater Bayerns“, Nille Hangoverson, und weiteren Vertretern aus der Szene wie auch „der Politik“, genauer: der Anarchistischen Pogopartei Deutschlands (APPD). Die sind mal witzig, mal dröge, irgendwie aber auch irrelevant. Arbeit ist bekanntermaßen Scheiße, und wenn Lesen keine Arbeit ist … was dann?
Offen bleibt die Frage nach der Relevanz: Während etwa Tim Hackemack mit seinem Buch „Yesterdays Kids“ (2016 ebenfalls im Hirnkost Verlag erschienen) Alt-Punker aus ihrem Leben erzählen lässt, haben sich die in „V-Mann“ dokumentierten Räusche und Kater, Aktionen und Faulenzereien erst in den letzten Jahren zugetragen. Damit fehlt dem Werk in gewisser Weise der zeitliche Abstand, der aus Banalem Historie macht: Was Steve Braun, Jahrgang 1989, hier dokumentiert, sind nicht die Anfänge des Punk in England, ist nicht die legendäre Punk-Szene der DDR. Sondern es sind eben „nur“ die Punks unserer Zeit in Nürnberg.
Vielleicht hätte Braun mit der Veröffentlichung dieser Aufnahmen besser noch 30 Jahre gewartet – als Bildarchiv über eine frühere, abgeschlossene popkulturelle Epoche hätten sie fraglos an dokumentatorischem Wert gewonnen. Altern können sie aber natürlich auch im Schrank der „V-Mann“-Käufer. Wer Punk und Fotokunst feiert, sollte also vielleicht doch schon jetzt einen Blick in „V-Mann“ werfen. Wer weiß schon, was in 30 Jahren ist …
Keine Wertung